Focus - 10.08.2019

(Sean Pound) #1
WISSEN MEDIZIN

Fotos:

Patrick Runte für FOCUS-Gesundheit, Science Photo Library

70 FOCUS 33/2019

I


m Brustkorb herrscht ein Druckge-
fühl, eine unerträgliche Enge. Kal-
ter Schweiß tritt auf die Stirn, und
Schmerz strahlt vom Brustbein in
Arm oder Rücken aus. Das Atmen
fällt schwer, Luftnot, Todesangst.
Als stünde ein Elefant auf der Brust –
so empfinden viele Betroffene einen
Herzinfarkt.
Das Herz hält den Körper am Leben.
Es lässt Blut zirkulieren – und versorgt
sich dabei auch selbst. Seine Kranzgefäße
führen ihm Sauerstoff und Nährstoffe zu.
Ist eines von ihnen verstopft, etwa durch
ein Blutgerinnsel oder Ablagerungen,
wird das Organ nicht mehr versorgt. Der
Lebensmotor stottert oder bleibt stehen. In
Deutschland erleiden mehr als 600 Men-
schen täglich einen Herzinfarkt. Das sind
rund 220 000 Menschen im Jahr. Nahezu
50 000 sterben, womit der Infarkt zu den
häufigsten Todesursachen zählt.
Dass mehr als drei Viertel der Patienten
die Attacke überleben, ist den Fortschrit-
ten der Herzmedizin zu verdanken – etwa
den neuen Chest Pain Units, in denen
Ärzte Patienten schnell helfen, aber auch
neuartigen Therapien. Die Mortalität von
Herzinfarktpatienten unter 65 ist in den
vergangenen Jahrzehnten besonders

stark gesunken, von 40 auf nur mehr vier
Prozent. Vor allem, wenn die Behandlung
zu spät erfolgt, trägt der Patient jedoch oft
bleibende Schäden davon. Herzgewebe,
das zu lange unterversorgt ist, stirbt ab
und verliert für immer seine Funktion.

Von selbst wird das Herz kaum heilen
Fachleute beziffern die Regenerations-
fähigkeit des Organs mit einem halben
Prozent pro Jahr. Das ist bedenklich we-
nig – und der Grund, weshalb ein Infarkt
noch Jahre später lebensbedrohlich ist.
Das vernarbte Gewebe kann Herzrhyth-
musstörungen provozieren und eine chro-
nische Herzschwäche verursachen. Die
Leistungsfähigkeit lässt drastisch nach,
oft müssen Betroffene lebenslang Medi-
kamente einnehmen und sterben doch
an Herzversagen. Manch einen rettet nur
eine Transplantation. Oder vielleicht bald
eine Entwicklung von Forschern des Uni-
versitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
und der Universitätsmedizin Göttingen:
das neue Herzpflaster.
Die Wissenschaftler arbeiten an einer
ungewöhnlichen Therapie. Nicht ganze
Herzen möchten sie übertragen, sondern
nur Flicken aus funktionsfähigen Herz-
muskelzellen. Die Gewebeteile bestehen

aus Stammzellen des Patienten, die im
Labor gewachsen sind, und werden auf
die Infarktnarben aufgenäht. Dort, so die
Idee, wachsen sie fest, lernen, im Takt zu
kontrahieren, und erhalten so die Funk-
tion der Pumpe. „Es ist relativ einfach
möglich, Milliarden menschlicher Herz-
muskelzellen herzustellen und als Pflas-
ter aufzunähen. Die Hoffnung in diese
Methode ist realistisch“, sagt Thomas
Eschenhagen, Direktor des Instituts für
Experimentelle Pharmakologie und Toxi-
kologie am Hamburger Universitätsklini-
kum. An Ratten und Meerschweinchen
haben die Forscher die Flicken bereits er-
folgreich ausprobiert.
Die Nagetiere dienen ihnen so lan-
ge als Ersatz, bis klar ist: Die Methode
funktioniert, ist sicher – und bereit für
einen Einsatz am Menschen. Der Schritt
wäre enorm, so Eschenhagen: „Den durch
einen Infarkt ausgelösten Krankheitspro-
zess zu verlangsamen oder rückgängig zu
machen ist eine der großen ungelösten
Fragen der Kardiologie.“
Zuletzt glaubten Ärzte, kranken Herzen
mit einer einfachen Injektion von Stamm-
zellen aus dem Knochenmark helfen zu
können. Das geschädigte Gewebe, so
hofften sie, werde dadurch irgendwie

Ein Infarkt kann das Herz dramatisch schwächen. Bald soll Ersatzgewebe


aus Stammzellen die Aufgabe geschädigter Muskeln übernehmen


Pflaster fürs Herz


Schwachstelle
Verstopfte Herzkranzge-
fäße führen dazu, dass
Teile des Herzmuskels
absterben (grau gekenn-
zeichnet). Hier soll das
neue Pflaster helfen

Flickwerk
In einer Nährlösung
wachsen Stammzellen zu
Implantaten heran

Omnipotent
Stammzellen, ge-
wonnen aus Blut
oder Knochenmark,
können sich zu ver-
schiedenen Gewebe-
arten entwickeln,
auch zu Muskeln
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