Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

Samstag, 10. August 2019 ∙Nr. 183∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 5.20 ∙€5.


US-Demokraten: Die Partei ist nicht mehr dieselbe wie einst – mit Folgen für die Weltpoli tik Seite 10


Die Vernunft ist auf dem Rückzug


Der internationale Austausch vonWaren und Menschen lief lange wie gedopt: immer schneller, immer mehr.


Das hat die Wähler ermüdet. Nun wehrensie sich. Hat die Globalisierung ihren Zenit überschritten?Von Eric Gujer


Wer nachBelegen dafür sucht, dass Deutschland
verunsichert und dünnhäutig ist, wird in diesen
Tagen schnell fündig. Die tödliche Attacke auf ein
achtjähriges Kind am HauptbahnhofFrankfurt
und die archaische Hetzjagd mit einem Schwert in
Stuttgart gehören ebenso dazu wie der Hass in den
sozialen Netzwerken oder die verdrucksteWeise, in
der die öffentlichrechtlichen Sender über die aus-
ländische Herkunft der beiden Täter berichteten.
Das Land wirkt erschöpft, als sehne es sich nach
ruhigeren Zeiten,in denen die Migration beschwie-
gen wurde und die Öffentlichkeit noch nicht jede
Debatte sogleich in ein Schlachtfeld voller Hyste-
rie und Übertreibungen verwandelte.
Dieser Befund gilt nicht nur für Deutschland.
Wenn es einen Gradmesser für die gesamteuropäi-
sche Befindlichkeit gibt,sind es dieWahlen für das
EU-Parlament. Betrachtet man die sechs Grün-
dungsmitglieder der Union,stell t man Bemerkens-
wertes fest.Nirgends erhieltenRechtspopulisten so
viel Zuspruch wie in Deutschland,Frankreich,Ita-
lien und den Benelux-Ländern.Selbst in Osteuropa,
dem angeblichen Hort desAutoritarismus, stimm-
ten prozentual wenigerWähler fürParteien, die
sich in denRechtsaussen-Fraktionen Identität und
Demokratie (ID) sowie EuropäischeKonservative
und Reformer (EKR) zusammentun.
Ausgerechnet das karolingischeKerneuropa,
das sich gerne alsVorbild für denKontinent sieht,
ist aus demTritt geraten.Für Deutschland heisst
dies, dass die neue Gereiztheit vermutlich auch
ohne die Flüchtlingswelle 2015 eingetreten wäre.
Diese war bloss der Katalysator, der eine latente
Stimmung virulent werden liess. Das heisst aber
au ch, dass die Bundesrepublik ihren Seelenfrie-
den nicht wiederfindet, wenn dieAufrechten und
Anständigen die AfD nur hart genug bekämpfen.
Die Partei profitiert von der Nervosität, aber sie ist
nicht deren Ursache.
Die Verunsicherungreicht tiefer und lässt sich
nicht mit derAusgrenzung einzelnerParteien aus
der Welt schaffen. Sie istTeil einer Bewegung, die
alle Industrieländer erfasst hat. Die Hypergloba-
lisierung schwächt sich ab, vielleicht endet sie so-
gar. Der wie mit Steroiden gedopteAustausch
von Waren, Menschen und Ideen hat dieWähler


er schöpft. Nun wehren sie sich. Ein Indiz hierfür
ist nicht nur DonaldTrump, der gute Chancen auf
eine Wiederwahl hat. Errechtfertigt Protektionis-
mus und Nationalismus zwar besonders flamboy-
ant, aber er ist längst nicht der Einzige.
Die Initiative GlobalTrade Alert an der Uni-
versität St. Gallen trägt die handelshemmenden
Massnahmen zusammen, die eifrige Bürokraten
und alerte Lobbyisten aushecken. Seit derFinanz-
krise nimmt der Protektionismus weltweit zu, auch
in denLändern des karolingischenKerneuropa,die
sich sogern als die letztenVerteidiger einer multi-
lateralenWelt gegen denDarth Vader aus dem
Weissen Haus aufspielen.
Es stimmt zwar, dass vorübergehend die meis-
ten der neuenBarrieren und Blockaden auf das
Konto von Amerika und China gingen, doch insge-
samt tragen die übrigen G-20-Länder die Haupt-
verantwortung für diese Entwicklung. So gesehen,
dient die Entrüstung überTrump und denKonflikt
zwischenWashington undPeking auch als Ablen-
kungsmanöver, mit dem die anderenAkteure ihren
eigenenWirtschaftsnationalismus kaschieren.

PolitikschlägtWirtschaft


Die Hyperglobalisierung hat anscheinend ihren
Zenit überschritten, und vielerorts geht dies Hand
in Hand mit dem Anstieg desPopulismus. Michael
O’Sullivan,Banker undAutor eines lesenswerten
Buches zur Globalisierung («The Levelling»),zitiert
aus Untersuchungen, wonach derWähleranteil der
Populisten in denIndustriestaaten ein Niveau wie
nach1930 angenommen hat. Natürlich steigen da
Schreckensbilder eines Hitler oder Mussolini, von
Hakenkreuzen undRutenbündeln auf. Dennoch:
Alarmismus ist nie ein guterRatgeber. Zugleich
reibt man sich dieAugen, denn die Internationali-
sierung des Handels mehrt nachweislich den welt-
weitenWohlstand.
Die Globalisierung befreite Hunderte von Mil-
lionen Menschen in Asien aus tiefsterArmut.
Konsumenten in den USA, Deutschland oder der
Schweiz freuen sich über die niedrigen Preise der
in China hergestelltenWaren. Die Einwanderung

von Fachkräften dämpft dieAuswirkungen des
demografischenWandels. Viele Wähler gewichten
die negativen Effekte allerdings höher: dieVer-
lagerung von Arbeitsplätzen nach Osteuropa oder
Asien, die Stagnation oder gar die Absenkung der
Realein kommen in der Mittelschicht der Industrie-
staaten oder die Migration aus Südamerika oder
Afrika.
Diese Prioritätensetzung ist angesichts der
Wohlstandseffekte irrational, doch schon einmal
fand eine Hochblüte der Globalisierung aufgrund
politischer Entwicklungen ein abruptes Ende. Der
ÖkonomJohn Maynard Keynes beschrieb, wie 1913
ein wohlhabender Einwohner von London in sei-
nem Bett liegen und perTelefon alleWaren der
Welt ordernkonnte, woraufhin sie bequem an die
Adresse des Bestellers inKensington oder Belgra-
via geliefert wurden.Dann brach der ErsteWelt-
krieg aus, und nichts mehr war wie zuvor.
Obwohl überall derWarnruf hinsichtlich eines
amerikanisch-chinesischen Handelskriegs erklingt,
leben wir nicht in Kriegszeiten. Martialische Meta-
phern, eine permanente Zuspitzung der Sprache
fördern die Analyse nicht. Aber dieVeränderun-
gen sind offensichtlich,ungewiss ist derenAusmass.
Eine politische Grundströmung kann ein Phäno-
men wie die Globalisierung erheblich beeinträchti-
gen – gerade weil es sich nichtnur um Einzelereig-
nisse handelt wie die linksextremen und antikapi-
talistischen Aktionen vor einigenJahren.
Die Globalisierungskritik ist heute diffuser, sie
lässt sich nicht eindeutig verorten, und sie ist des-
halbpolitisch ungleich wirkungsvoller. Die Klage
über eine grenzenlose Migration ist «rechts»; der
Unmut über den riesigen Niedriglohnsektorin
Deutschland ist «links».Viele Wähler sind in Sorge
wegen der Einwanderung und besonders der Kri-
minalität, wie sie sich in der Silvesternacht 20 15
am Kölner Hauptbahnhof manifestierte. Die-
selbenWählerverstehen aberauch nicht, weshalb
in einem soreichenLand wie der Bundesrepublik
viele Menschen so schlechtverdienen.
Man kann daraufreagieren wie manche deut-
sche Sender und die Berichterstattung über die
Taten vonFrankfurt oder Stuttgart mal knapphal-
ten , mal verweigern. So allerdings befördert man

nurVerschwörungstheorien undPolitikverdrossen-
heit und darf sich über die Erfolge derPopulisten
nicht wundern. Diese erzielen ihre guten Ergeb-
nisse auch deshalb, weil sie Nichtwähler für sich ge-
winnen,die zuvordas «System»auf gegeben haben
oder von diesem aufgegeben worden sind.

Alle pflegen ihreTabus


Die politische Mitte kann es sich aufDauer nicht
leisten, grosse Segmente der Gesellschaftrechts
oder links liegenzulassen.Dazu gehört auch, dass
sie sich ernsthaft bemüht, die Probleme zu lösen,
stat t Klientelpolitik zu betreiben und die Bürger
mit Plattitüden wie dem Slogan «Guter Lohn für
gute Arbeit» abzuspeisen. ImFall der Geringver-
diener heisst dies,dass die in Deutschland sehr
hohe Abgabenlast beiregulären Beschäftigungs-
verhältnissen sinken müsste, was die in dieser Hin-
sicht privilegierten Minijobs weniger attraktiv ma-
chen würde. Ferner sollte die faktische Diskrimi-
nierung vonFrauen durch das Steuerrecht (Ehe-
gatten-Splitting) beendetwerden, die diese in den
Niedriglohnsektor drängt.
Eine besonnenePolitik bringt dieWelle der
Globalisierungskritik nicht zumVerebben, aber sie
kann ihr vielleicht dieWucht nehmen. Überfällig
ist ein wenig Ehrlichkeit, dassWarenverkehr und
Migration heutzutage miteinander einhergehen.
Liberale müssen daher derVersuchung wider-
stehen, «gute» gegen «schlechte» Globalisierung
auszuspielen, alsoFreihandel gegen Einwande-
rung. Sozialdemokraten müssen sich fragen, wie
weit sie um des parteitaktischenVorteils willen mit
der Kritik an internationalenVerträgen wie TTIP
und dem EU-Rahmenabkommen den Protektio-
nismus anfachen.
Die Mitte der Gesellschaft sollte diese Punkte
endlich offen und ohneTabusdiskutieren. Die
einen schweigen zu den negativen Folgen der
Migration, die anderen zur wachsenden Ungleich-
heit bei Löhnen undVermögen.Wenn das politi-
sche Zentrum die Debatte und dieThemenTrump
und seinen europäischenPendants überlässt, hat
es verloren.Aus derWelle wird dann ein Tsunami.

Italiens populistische


Koalition zerbricht


Schon im Herbst dürfte es Neuwahlen geben


spl.Rom· Nach nur14 Monaten ist die
Koalition zwischen Cinque Stelle und
Lega in Italien am Ende. Matteo Salvini
hat Ministerpräsident Giuseppe Conte
zumRücktritt aufgefordert und Neu-
wahlen verlangt. Er werde dabeiselber
alsKandidatfürdasAmtdesRegierungs-
chefs antreten, erklärte der Lega-Chef
am Donnerstagabend. Conte erklärte
darauf, er werde sich einerVertrauens-
abstimmung imParlament stellen, denn
ein so schwerwiegender Entscheid stehe
nicht dem Innenminister zu.AmFreitag
reichte die Lega dann selbst noch einen
Misstrauensantrag im Senat ein, um die
Abstimmung zu beschleunigen.
Die Präsidentin des Senats hat für
Montag einTreffen mit denFraktions-


chefs einber ufen, an dem über denFahr-
plan entschieden wird. Salvini will, dass
nächsteWoche abgestimmt wird. Da
nächsteWoche derFeiertagFerragosto
ist, plädieren aber viele andere für eine
Verschiebung auf übernächsteWoche.
Verliert Conte dieVertrauensabstim-
mun g, muss Präsident Sergio Mattarella
bei denParteien sondieren, ob eine
andere Mehrheit zustande kommen
könnte. Das ist jedoch unwahrschein-
lich. Danach wird dasParlament aufge-
löst,und es muss innerhalb von 45 bis 70
Tagen gewählt werden. Mattarella kann
die Regierung Conte mit derVorberei-
tung derWahlen betrauen odereine
Übergangsregierung dafür einsetzen.
International, Seite 3

Private Reisen


mit Diplomatenpass


Rund 70 Parlamentarier haben Anrecht auf Spezialausweis


fum.·CVP-NationalratClaudeBégléhat
sich aus Anlass einerReise nach Nord-
kore a gehörig in dieNesseln gesetzt.
SeineTwitter-Nachrichten, in denen er
sich wohlwollend über die Entwicklung
des kommunistischesLandes äusserte,
nötigten EndeJuli sogar seine eigene
Partei,sichoffizielldavonzudistanzieren.
Unbeachtet blieb bisher, dass Béglé
mit einem Diplomatenpassreiste. Er
ist damit aberkein Einzelfall: Gemäss
dem Aussendepartement verfügen rund
70 National- und Ständeräte über diesen
Spezialpass. Sie verwenden ihn auch auf
privatenReisen, weil sie ihren ordent-
lichenPass abgeben müssen.Gemäss ge-
setzlicher Grundlage haben die Mitglie-
der der internationalen Delegationen

und derAussenpolitischenKommissio-
nen (APK) Anspruch darauf, wobei für
Letztere die entsprechendeVerord nung
grosszügig interpretiert wird.
Gemäss Ansicht derParlamentarier
haltensich dieVorteile des Diplomaten-
passes in Grenzen, er schützt sie etwa
nichtvorStrafverfolgung.DieEinreisein
Empfangsländer gestaltet sich aber ein-
facher,undVisasi ndmeistkostenlos.Um
Schwierigkeiten bei der gegenseitigen
AbgrenzungprivaterundoffiziellerRei-
seneinzudämmen,wünschtSP-National-
rat und APK-MitgliedFabian Molina,
dass der Umgang mit den Diplomaten-
pässen präzisiert wird–womit sichauch
Vielreiser Béglé anfreundenkönnte.
Schweiz, Seite 11

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CHÂTEAU DE VERSAILLES

Napoleon –
Kriegstreiber oder
Friedensstifter?

Der HistorikerAdam Zamoyski
hinterfragt Klischees. Seite 36–

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19183

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