Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

Samstag, 10. August 2019 SCHWEIZ 11


Social Media macht kleine Destinationen weltbekannt –


der Hype hat jedoch auch seine Schattenseiten SEITE 12


Der Schweizer Wald kann einen enormen Beitrag


für den Klimaschutz leisten SEITE 13


Béglé reist mit Diplomatenpass –

so wie Dutzende weitere Politiker

Parlamentarier nu tzen den Ausweis auch privat – nicht alle ha lten sich an die Regeln


ANTONIO FUMAGALLI, LAUSANNE


Einen ruhigen Sommer hat National-
ratClaude Béglé (cvp.) nicht verbracht



  • er muss sich dies allerdings selbst zu-
    schreiben. DieTweets, die er imJuli
    während seiner zehntägigen Privatreise
    nach Nordkorea absetzte, sorgten weit-
    herum für Unverständnis und brachten
    ihm denVorwurf ein, in die Propaganda-
    falle deskommunistischenRegimes ge-
    tappt zu sein.Was bisanhin unbeachtet
    blieb: Béglé besitzt einen Diplomaten-
    pass undreiste damit in Nordkorea ein –
    so, wie er es auch sonst auf seinen über-
    aus zahlreichenReisen tut. EineAus-
    nahme ist der 69-jährigeWaadtländer
    damit aber bei weitem nicht.Rund 70
    SchweizerParlamentarier verfügen über
    einen Diplomatenpass,wobei ihn rund
    60 auch nutzen, teilt dasAussendepar-
    tement (EDA) mit.


Parlamentsauftrag oder nicht?


Rechtliche Grundlage sind die Bestim-
mungenzur Ausweisverordnung.Darin
steht, dass – neben Magistratspersonen
des Bundes und gewissen Mitarbeitern
des EDA sowie anderen Departemen-
ten – auch die Mitglieder der eidgenös-
sischenRäte in internationalenKommis-
sionenAnrecht auf einen Diplomaten-
pass haben.Damit sind die Delegationen
gemeint, welche die Bundesversamm-
lung in einer internationalenparlamen-
tarischenVersammlung vertreten – etwa
beim Europarat, dem EU-Parlament
oder denParlamenten der Nachbar-
länder. DieVerordnung besagt zudem,
dass auch «Mitgliedern der eidgenössi-
schenRäte, die im parlamentarischen
Auftrag insAuslandreisen», ein Diplo-
matenpass überlassen werden kann.
DiesenPassus interpretiert das EDA
offenbar grosszügig. Denn auch die 38
Mitglieder derAussenpolitischenKom-
missionen (APK) des National- und
Ständerats verfügen über einen Diplo-
matenpass – unabhängig davon, ob sie in
offizieller Mission unterwegs sind oder
nicht. «Es liegt in der Natur der Sache,
dass Mitglieder derAussenpolitischen
Kommissionenregelmässig insAusland
reisen. Ob dieParlamentarier effek-
tiv insAuslandreisen oder nicht, ob-
liegt nicht derKontrolle desPassbüros»,
schreibt das EDA.Dazu ist anzumer-
ken, dass die Bundesversammlung ge-
mässParlamentsgesetz «die internatio-
nal e Entwicklung verfolgt und bei der
Willensbildung über wichtige aussen-
politische Grundsatzfragen und Ent-
scheide mitwirkt».
Aber was bringt denn der Besitz
eines Diplomatenpasses?Fragt man die
Parlamentarier selbst, sagen sie prak-


tisch unisono: «Nicht viel.» In derTat
gehen damitkeinediplomatischen oder
konsularischenVorrechte wie etwa die
Immunität vor Strafverfolgung ein-
her. Ganz unbedeutend ist der spezielle
Pass, von dem schweizweit insgesamt
rund 5000 im Umlauf sind, allerdings
doch nicht. ZweiVorteile stechen her-
vor: Der Grenzübertritt gestaltet sich
in allerRegel ohne Hürden, manchmal
gibt es an den Flughäfen eigene Diplo-
mateneingänge. Und dieVisa können
über das EDA-Passbüro eingeholt wer-
den und sind deshalb gemäss den inter-
nationalen Gepflogenheitenkostenlos.
In zahlreichenLändernreicht es gar,
direkt beim Grenzübertritt den Diplo-
matenpass vorzuweisen, um einreisen zu
können, ohne bezahlen zu müssen.
Hinzukommt die psychologische
Komponente, dass sich manche Inhaber
eines Diplomatenpasses imFalle einer
heiklen Situation – auch ohne diploma-
tischeVorrechte – eher in Sicherheit
fühlen als mit einem normalenPass. Ob
berechtigt oder nicht, hängt wohl auch
vomAufenthaltsland ab. Dass es sich
mancheStaatenzweimal überlegen, be-
vor sie einenDiplomatenpassbesitzer in
Schwierigkeiten bringen, scheint aber
nicht abwegig.

«Staaten wissenBescheid»


Wer einen Diplomatenpass bezieht,
muss seinen ordentlichen Schweizer
Pass lautVerordnung im EDA-Passbüro
hinterlegen.DieNZZ hat jedochKennt-
nis davon, dass dies nicht alle National-
und Ständeräte beherzigen.Das EDA
sagt dazu, dass dies nur «einigeParla-
mentarier» betreffe, die überdiesregel-
mäs sig gebeten würden, ihrePässe ge-
mäss den gesetzlichen Grundlagen zu
hinterlegen. Bei Angestellten der Bun-
desverwaltung, die jeweils für eine be-
stimmte Mission einen Diplomatenpass
erhalten, ist das EDA weniger kulant,
wie mehrere Mitarbeiter bestätigen.
Kaum ist die Arbeit imAusland beendet
und der heimische Boden wieder betre-
ten, müssen sie ihren Diplomatenpass
umgehend zurückgeben.

Es gibtParlamentarier, die sich selbst
dieRegel auferlegen: PrivateReisen
mit dem normalenPass undReisen,
die mit demParlamentsmandat inVer-
bindung stehen, mit dem Diplomaten-
pass. Das ist jedoch dieAusnahme, be-
dingt dies je nachReisetätigkeit ja, dass
manregelmässig denPass in Bern aus-
tauschen geht oder ihn einschickt. Die
meistenAussenpolitiker sind also unab-
hängig vom Zweck ihrerReise stets mit
ihrem Diplomatenpass unterwegs (oder
im Schengen-Raum mit der Identitäts-
karte), wie das EDA bestätigt: «In der
Regel reisenParlamentarier auch privat
mit den Diplomatenpässen.»
Damit stellt sich erneut dieFrage,
die in Zusammenhang mit der Causa
Béglé fürWirbelsorgte:Wie privatkön-
nen Privatreisen vonParlamentariern
überhaupt sein? Unbestritten ist, dass

die Empfangsländerregistrieren, wer
mit einem Diplomatenpass einreist und
wer nicht.Auch wenn imPass die par-
lamentarischeFunktionangegeben ist,
müsse dies allerdings nichts bedeuten,
sagen verschiedene APK-Mitglieder.
«Wir werden deswegen nicht als offi-
zielleVertreter der Schweiz angesehen»,
sagt Kommissionspräsidentin Elisa-
beth Schneider-Schneiter.Zudem dürfe
man sich nichts vormachen. Staaten mit
einem gut ausgebauten Nachrichten-
dienst wüssten ohnehin über das parla-
mentarische Mandat der Einreisenden
Bescheid, so die CVP-Nationalrätin.
Béglé bemüht sich gemäss eigenen
Angaben auf seinenReisen stets, neben

den Gesprächen mit der Lokalbevölke-
rung auchPolitiker undWirtschaftsver-
treter zu treffen, um sich «ein möglichst
umfassendes Bild über dieVerhältnisse
vor Ort zu machen», wie er auf Anfrage
sagt.Dass er dabei mit einem Diploma-
tenpass einreise, öffne ihm – im Gegen-
satz zu seinerFunktion als Nationalrat –
keine Türen. Bei derReise nach Nord-
korea habe er über eine offizielle Ein-
ladungder dortigenRegierungverfügt,
so derWaadtländer. Zudem verstehe
es sich von selbst, dass er selber für die
Kosten seiner persönlichenReisen auf-
komme.

Wunsch nach klarerRegelung


Das EDA sagt dazu,dasses im Ermes-
sen derParlamentarier liege, welche
Kontakte sie auf privatenReisen knüp-
fen wollten.«Wir kommentieren dies
nicht», heisstes. DieParlamentarier
könnten selbst entscheiden, ob sie das
EDA ins Bild setzen wollten.Eine Pflicht
gebe es nicht. Béglé seinerseits hat dem
Aussendepartement einen Bericht über
seine Nordkorea-Reise zukommen las-
sen –welche Beachtungdieser dort fin-
det, ist freilich eine andereFrage.
Letztlich handle es sich bei der
Verwendung der Diplomatenpässe um
einen Graubereich, beidem manauf den
gesunden Menschenverstand derPar-
lamentarier zählenkönne, sagtFabian
Molina (sp.). Er warnt davor, aufgrund
der Nordkorea-Polemik nun übermässig
zu legiferieren, schliesslich sei die par-
lamentarische Diplomatie wichtig als
Gegengewicht zur offiziellenAussen-
politik des Bundes. Molina, der seinen
diplomatischenPass vor Privatreisen
nach Möglichkeit umtauscht, wünscht
sich allerdings, dass der Umgang mit
den Diplomatenpässen klarer geregelt
wird. Sokönnten die Schwierigkeiten
der Abgrenzung zwischen privaten und
offiziellenReisen eingedämmt werden.
Béglé selbst würde eine solche Präzi-
sierung gar begrüssen, wie er sagt. Um
nicht dauernd diePässe austauschen zu
müssen, würde er dann aber nur noch
mit dem ordentlichenPass reisen.

CVP-Nationalrat ClaudeBéglé stiessmit seiner privatenReise nach Nordkorea auf Unverständnis. PETER KLAUNZER/KEYSTONE

Wer einen
Diplomatenpass
bezieht, muss seinen
ordentlichen Pass
im EDA-Passbüro
hinterlegen.

Béglé bleibt


Spitzenkandidat


fum.·Die Waadtländer CVP hatte ihre
liebe Mühe mit der Nordkorea-Reise
ihres einzigen Nationalrats. Gleich zwei
Mal sah sie sich per Communiqué ge-
nötigt, sich von denTwitter-Nachrich-
ten Claude Béglés zu distanzieren.
Deren Inhalte entsprächen «nicht dem
Bild, das die CVP von der Situation in
Nordkorea hat», hiess es. Nach Béglés
Rückkehr sprach sich zuerst die kanto-
nale und danach die nationalePartei mit
ihm aus. Dabei schaffte es Béglé offen-
bar, das totale Zerwürfnis zu verhindern



  • er bleibt der Spitzenkandidatder CVP
    Waadt für die bevorstehenden National-
    ratswahlen.


Keine Schuld


am Suizid des


Lehrermörders


Klage der Ang ehör igen scheitert


JÖRGKRUMMENACHER

Es war ein Mord, der die Ostschweiz
erschütterte wiekein anderer zuvor:
Am 11.Januar1999 streckte derKoso-
vo-Albaner Ded Gecaj denReallehrer
Paul Spirig mit mehrere n Schüssen nie-
der. DieTat geschah im Besprechungs-
zimmer des Schulhauses Engelwies
in St. Gallen. Spirig hatte dieTochter
Gecajs zuvor vor dem Selbstmord be-
wahrt. Sie war von ihrem gewalttätigen
Vater vergewaltigt worden. Der Lehrer
hinterliessseineFrau mit drei Kindern,
eines zu jenem Zeitpunkt ungeboren.

Gecaj engmaschig betreut


Jetzt könnte das letzte juristische Kapitel
desFalles abgeschlossen sein. Der aus-
serordentlich eingesetzteWinterthurer
StaatsanwaltRolf Jäger hatte den Selbst-
mord Gecajs zu untersuchen, den die-
ser am19.November 2010 im Gefängnis
in St. Gallen begangen hatte. Ded Gecaj
hatte sich in der Nacht mit seinen Klei-
dern erhängt. Noch stand eineKonfron-
tationseinvernahme mit seinerTochter
mittelsVideobefragung bevor.DieToch-
ter lebt seit1999 mit neuer Identität an
unbekanntem Ort und hat sich von ihrer
Familie distanziert.
Gecajs Angehörigereichten Straf-
anzeigegegen diverse Staatsangestellte
wegen fahrlässigerTötung durch Unter-
lassung, Amtsmissbrauch und Unterlas-
sen der Nothilfe ein. Jäger kommt zu dem
Schluss, dass weder Gefängnisperso-
nal noch Amtsärzte, nochJustizbehör-
den ihre Schutzpflichten verletzt hät-
ten. Im aufwendigenVerfahren, das sich
wegen zahlreicher Einvernahmen,Kon-
frontationen, Entsiegelungsverfahren
undFristerstreckungen überJahre hin-
zog, hätten sich «keine Anhaltspunkte
für ein strafrechtlichrelevantesVerhal-
ten» ergeben.Alle Beteiligten hätten sich
intensiv und sorgfältig um den Unter-
suchungshäftling Gecajgekümmert.
«Ich habe noch nie erlebt», präzisiert
Jäger, «dass jemand so engmaschig be-
treut worden ist.» Es habe mehr ärzt-
liche Kontrollen gegeben alsüblich,
auch sei die Suizidgefährdung abgeklärt
worden. Ded Gecaj war lautRolf Jäger
ein schwieriger Häftling,der vor allem
durchForderungen auffiel, aber nicht
dadurch, dass er sich etwas antun wollte.
Am Abend vor dem Suizid habe er sich
unauffällig verhalten.Jäger macht auch
klar, dass dieJustiz des Kantons St. Gal-
len grosses Interesse daran hatte, Gecaj
endlich vor Gericht zu bringen.

Nach Kosovoabgesetzt


Das lag daran, dass es 11Jahre gedauert
hatte,bis der Lehrermörder an St. Gal-
len ausgeliefert wurde und dadurch eine
Verurteilung nach schweizerischem
Recht möglich geworden war. Gecaj
hatte sich nach derTat nachKosovoab-
gesetztund war 2000 in Serbien wegen
Totschlags zu 4 Jahren Haft verur-
teilt worden. Er kam bald wieder frei,
tauchte unter, wurde 2007 erneut ver-
haftet und am 2. September 2010 an die
Schweiz ausgeliefert.Hier drohte ihm
eine Anklage wegen Mordes undVer-
gewaltigung. Nach zweieinhalb Mona-
ten in Untersuchungshaft setzte er sei-
nem Leben ein Ende.
Dass sein Suizid durchRolf Jäger
untersucht wurde–nachdem der Kan-
ton St. Gallen die Eröffnung einesVer-
fahrens abgelehnt hatte –, geht auf ein
Urteil des Bundesgerichts vom 23.April
2014 zurück: Es sei nicht von vorn-
herein auszuschliessen, dass dieVer-
antwortlichen nur ungenügende Mass-
nahmen ergriffen hätten,um einen Sui-
zid zu verhindern, zudem sei auf einen
korrekten Einbezug des Beschwerde-
führers zu achten.
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