Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

12 SCHWEIZ Samstag, 10. August 2019


Am BlauseeinKandergrundwaren die Einheimischen früher oft mutterseelenallein, wie der Gemeindeschreibersagt –nun sind sie umgeben vonTouristen. P. SCHNEIDER / KEYSTONE

Bergorte werden


zu Hotspots


auf Instagram


Dank Social Media werden selbst


kleine Schwei zer Tourismus-Destinationen


schnell weltbekannt – doch der Hype hat


auch Schattenseiten.Von Lari ssa Rhyn


Frühmorgens gehören die Strassen in
Lauterbrunnen den Einheimischen. Sie
kaufen Schinken in der Metzgerei, hal-
ten vor demVolg ein Schwätzchen, gies-
sen die Blumen auf demFenstersims.
Doch mit dem ersten Car, der sich brum-
mend durch den Dorfkern schiebt, fin-
det die dörfliche Idylle ein jähes Ende.
Erste «Aaahs» und «Ooohs» sind zu
hören.AsiatischeReisegruppen, (selbst-
erklärte) Influencerund Wanderer mit
Smartphone im Gepäck schwärmen aus.
Und dokumentieren jeden ihrer Schritte
auf Social Media.
Früher warLauterbrunnen in ers-
ter Linie als Mekka fürBasejumper be-
kannt.Touristen nutzten das Dorf als
Ausgangspunkt fürAusflüge aufs Schilt-
horn oder dieJungfrau – nachLauter-
brunnen kam man nur selten wegen
Lauterbrunnen. Mittlerweile hat sich die
Lage geändert. «Social Media hat da-
bei sichereine entscheidendeRolle ge-
spielt», sagt ThomasDurrer. Der Leiter
von LauterbrunnenTourismus steht in
der Nähe einer breiten Holzbank,die ge-
rade von einer Gruppe asiatischerTou-
rist en in Beschlag genommen wird.Dur-
rer hat mitverfolgt, wie sich das Publi-
kum in den letztenJahren verändert hat:
«Klarkommen noch immer vieleReise-
gruppen aus China oderKorea hierher,
doch die Zahl der Individualreisenden
hat stark zugenommen.» Instagram lo-
cke auch vermehrt junge Schweizer oder
Europäerins Berner Oberland, die ihre
eigenen Bilder schiessen wollten.


«Veryinstagrammable»


Social Media ist aus dem SchweizerTou-
rismus kaum mehr wegzudenken. 20 17
wurden6437 111 Bilder undVideos mit
einem Hashtag gepostet, das sichauf die
Schweiz bezog. Dafür gab es über 613
Millionen Likes, wie eine Analyse von
Präsenz Schweiz zeigt. Eine wuchtige
Werbemaschine, die Tag und Nacht vor
sich hinrattert. Und dazu beiträgt, dass
sich Orte wieLauterbrunnen innert
wenigerJahre zu erklärtenTraumdesti-
nationen mausern.Das Dorf bietet mit
seinen blumengeschmückten Häusern,
den idyllischenWeiden rundherum und
dem Blick auf denTrümmelbachfall, der
hiervon einer schroffenFelswand hin-
unterstürzt, diverse Motive, die «very
instagrammable» sind.Das hatFolgen,
und längst nicht alle sind positiv.
Am Flussufer bleiben immer häufiger
Abfälle liegen. Es herrschtregelmässig
ein Verkehrschaos. Touristen trampeln
den Bauern dieWiesen platt,missachten
fürs perfekteFoto die Privatsphäre der
Anwohner. Gemeindepräsident Mar-
tin Stäger schüttelt leicht denKopf, als
er sagt: «Manche glauben offenbar, sie
seien hier imFreiluftmuseum. Das geht
so weit, dass sie plötzlich imWohnzim-
mer stehen und sagen, sie hätten nur mal
schauen wollen, wie wir hier so lebten.»
Stäger sitzt in seinem schlichten Büro im
Gemeindehaus, an derWand hängt ein
Bild des schneebedeckten Silberhorns.
Wenn er die blickdichtenVorhänge zur
Seite zieht, sieht er die Schlange von
Autos undReisecars, die sich in der
Hauptsaison täglich einenWeg durchs
Dorf bahnt.Er sagt:«DieSchmerzgrenze
ist für viele Anwohner erreicht.»
SocialMedia verändert denTouris-
mus.Plötzlichkönnen Dörfer, Berg-
bahnen oderRestaurants innert kür-
zester Zeit enorme Beliebtheit erlan-
gen – ohne dass einTourismusverband
dafür viel Geld ausgibt. Doch das geht
mitunter so schnell, dass es in der ana-
logenWelt zu Überforderung führt.Das
bekannteste Beispielist dasRestau-
rant Aescher: DiversePosts in sozialen
Netzwerken sowie ein Bild auf derTitel-
seite von «National Geographic» führ-
ten dazu, dass das abgelegeneRestau-
rant plötzlich zum Selfie-Hotspot wurde.
Die Betreiber gaben kurz darauf ent-
nervtauf – mit der Begründung, die
Infrastrukturkönne dem Ansturm nicht
standhalten.
So schlimm ist es inLauterbrun-
nen noch nicht, meint Gemeindepräsi-
dent Stäger, der nicht nur die negativen
Sei ten des Booms betonen will. Social
Media habe schlicht dazu geführt, dass
«die Leute noch schneller sehen, wie
schön wir es hier haben». So haben die
Logiernächte in den letztenJahren ste-
tig zugenommen. LetztesJahr waren es
rund 236000 Übernachtungen, das sind
20 000 mehrals noch vor fünfJahren.
Noch stärker dürfte die Zahl derTages-
touristen zugenommen haben, wovon


die Bergbahnen undRestaurants pro-
fitieren. Das alles schafft zusätzliche
Arbeitsplätze in derRegion.
«Wir haben uns jahrelang bemüht,
mehrTouristen anzulocken, jetztkom-
men sie plötzlich in Scharen,obwohl
wir selbst nicht mehrWerbung machen
als früher.» Doch die «Gratiswerbung»
auf Social Media lässt sich kaum beein-
flussen.Früher hätte man Inserate oder
Plakatwerbung zurückfahren können,
wenn plötzlich so viele Leutegekom-
men wären. Der Online-Hype lässt sich
nicht per Knopfdruck abstellen.

KooperationmitInfluencern


Tourismus-Experten versuchen trotz-
dem, dieTrends auf Social Media zu be-
ein flussen. SchweizTourismus arbeitet
weltweit mit ausgewähltenInfluencern
zusammen. Sie werden beauftragt, auch
Bilder von wenig bekannten Schwei-
zer Destinationen zu posten. Oft sind
es Influencer, die eineFanbasis in einer
bestimmten Zielgruppe haben: Biker
oderWanderer beispielsweise. Oder
sie haben vieleFollower in einem be-
stimmtenLand – wie Bollywood-Star
und InfluencerRanveer Singh, mit dem
Schweiz Tourismus seit einigenJahren
zusammenarbeitet.Wie viel sich die
nationaleTourismusorganisation sol-
che Kooperationenkosten lässt, will sie
nicht preisgeben.
Auch Durrer lädt ab und zu Influen-
cer nachLauterbrunnenein. Doch nicht
jetzt ,mitten inderHauptsaison,wennalle
Zimmer belegt sind. Denn wie sehr das
Dorf von solchenKooperationen profi-
tiert, ist schwierig zu messen:Kommt die
kore anischeTouristinnur deswegen nach
Lauterbrunnen, weil sie dasBild einer In-
fluencerin mit denTrümmelbachfällen im
Hintergrund gesehen hat? Und falls ja,
wie vieleTouristen werden so ins Dorf
gelockt? Im Netz schwirren Tausende
Bilder mit #Lauterbrunnen herum. Die
meisten wurden vonTouristen gemacht
und auf privaten Social-Media-Accounts
geteilt. Sie erreichen zwar nicht so viele
Leute wie diePosts bekannter Influen-
cer, doch auch private Fotos, die auf Insta-
gram landen, funktionieren als neue Art
der Mund-zu-Mund- oder eben Screen-
to-Screen-Propaganda.
Zu DurrersJob gehört es auch,Tou-
risten zu erklären, wo die bestenFoto-
Spots liegen. Regelmässig kommen
Leute zu ihm, zeigen ihm einen Insta-
gram-Post und sagen: «Genau hier wol-

len wir auch einFoto machen.» Beson-
ders gefragt ist der schlanke Kirchturm
mit dem spitzen Schindeldach. Momen-
tan wird derTurm aberrenoviert und ist
von einem Gerüst umgeben – für man-
che Instagram-Freaks eine Katastrophe:
«Ich habe schon mehrere Anfragen von
Leuten erhalten, die extra eineReise
nachLauterbrunnen geplant hatten, um
ein Bild mit dem Kirchturm zu bekom-
men.» Sie wollten wissen, wie lange die
Renovation dauert. Um ihreReise um-
buchen zukönnen.
Für manche Social-Media-Fans ist
kaum einAufwand zu gross für das per-
fekteFoto. Dafür touren sie einmal quer
durch die Schweiz, legenTausende Kilo-
meter zurück. In Lauterbrunnen haben
sie Glück. Die nächste Instagram-Sensa-
tion liegt nur rund eineAutostunde ent-
fernt: die Gelmerbahn. Der Hype um
das rote Standseilbähnchen im Berner
Oberland hat im letzten Sommer begon-
nen. Und er hält an.Daszeigt sich auf
der kleinenBahnplattform, wo sich die
Besucher aneinanderdrä ngen.Es ist Mit-
tagszeit, die Sonne brennt vom Himmel,
die Bahn surrt leise vor sich hin.Wer die
Wartenden fragt, wie sie von diesem Ort
erfahren hätten,erhält zwei Arten von
Antworten.Schweizer sagen: «Freunde
haben mir davon erzählt» oder «Ich war
vor Jahren schon einmal hier». Bei inter-
nationalen Besuchern heisst es fast aus-
nahmslos:«Ich habe einVideo auf Insta-
gram gesehen.»
Das Video, von dem sie sprechen,
wurde letztesJahr schon unzählige Male
angesehen, diesen Sommer ging es er-
neut viral. Es zeigtFüsse, die mit atem-
beraubender Geschwindigkeit eine fast
senkrechte Bergwand heruntersausen.
Gefilmt wurde es im Zeitraffer-Modus,
in der vorderstenReihe der Gelmer-
bahn. Es entsteht der Eindruck, man be-
finde sich auf einerAchterbahn in Berg-
kulisse. Das kommt an in der virtuellen
Welt: Seit die Instagram-Seite 9Gag das
Video vor einigenWochen gepostet hat,
erzielte es fast5MillionenViews.

Tickets amVortag ausverkauft


Dieser Online-Hype hat auch offline
Auswirkungen: MehrereTouristen har-
ren an derTalstation aus, in der Hoff-
nung, dass jemand seineReservation
verfallen lässt. DieTickets sind mittler-
weile oft schon amVortag ausverkauft –
etwas, wovonRené Kohler früher nicht
zu t räumen wagte.Kohler arbeitet bei
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