Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

Samstag, 10. August 2019 INTERNATIONAL 3


Salvini will Regierungschef werden

Das Ende de r po pulistischen Koalit ion kommt zu einem für Italien denkbar ungünstigen Moment


ANDREA SPALINGER,ROM


Wochenlang war in Italien über das
Ende derKoalition zwischen den Cinque
Stelle und der Lega spekuliert worden.
Schliesslich kam dieses am Donnerstag-
abend für die meisten Beobachter dann
aber doch ziemlich überraschend. Am
Tag zuvor hatten sich Abgeordnete und
Senatoren in dieFerien verabschiedet,
und obwohlRegierungskrisen in Italien
keine Seltenheit sind, hat es eine sol-
che imAugust, wenn dasLand stillsteht,
noch nie gegeben.


Einunausweichliches Ende


Deshalb war man davon ausgegangen,
dass diePopulisten trotz allen Differen-
zen zumindest bis im Herbst an ihrer
Zweckehe festhalten würden. Doch
dann forderte Matteo Salvini aneiner
Sommerveranstaltung vor Anhängern
in Pescara an derAdria Ministerpräsi-
dent Giuseppe Conte zumRücktritt auf
und verlangte sofortige Neuwahlen.Das
Vertrauensverhältnis sei zerstört, und
die Bedingungen seien nicht mehr ge-
geben, um gemeinsam weiterzumachen.
«DiesesLand brauchtRegeln, Ordnung
und Disziplin. Es hatkeinen Sinn, mit
ständigen Machtkämpfen, Blockaden
und Kompromissen weiterzumachen»,
sagte der Lega-Chef. «JederTag, der ver-
geht, ist ein verlorenerTag. Überlassen
wir dasWort lieber den Italienern.»
Sal vini wirft den Cinque Stelle und
deren Chef, Luigi Di Maio, seit längerem
vor, Nein-Sager zu sein und dieRegie-
rung zu blockieren. Man fragt sich nur,
wieso er mit dem Bruch so lange abge-
wartet hat. SeineRechtspopulisten und
die Protestpartei von Di Maio hatten
von Anfang an wenig Gemeinsamkei-
ten und stritten über fast alle politischen
und wirtschaftlichenFragen. Das Ende
dieser Zweckehe schien deshalb seit lan-
gem unausweichlich.
Staatspräsident Sergio Mattarella
hatte denKoalitionspartnern hinter den
Kulissen in den letzten Monaten ins Ge-
wissen geredet und sie daran erinnert,
dass sie bis imJuli entscheiden müssten,
ob sie gemeinsam weitermachen wollten.
Im Herbstkönne sich Italienkeine Regie-
rungskrise leisten,mahnte der besonnene


ehemaligeVerfassungsrichter, weil man
der EU bisEnde Oktober den neuen
Haushaltsentwurf präsentieren müsse.

Sorgenums Budget


DieRegierungskrise kommt nun in
der Tat in einem denkbar ungünstigen
Moment.VerliertContedieVertrauens-
abs timmung nächste oder übernächste
Woche, wird Mattarella kurz sondieren,
ob es andere Mehrheiten imParlament
gibt.Ist dies nicht derFall,wird er gegen
EndeAugust die Kammern auflösen.
Neuwahlen würden dann gegen Ende
Oktober stattfinden, und eskönnte bis
im Dezember dauern, bis einehand-
lungsfähigeRegierung steht. Dierecht-
zeitige Verabschiedung des Budgets
würde damit schwierig. Ist jedoch bis

EndeJahr kein neuer Haushalt verab-
schiedet, greifen gemäss Gesetz ausser-
ordentliche Massnahmen, die Italien
wirtschaftlich schwer zusetzen würden.
Auf die Mailänder Börse hatten die
politischen Entwicklungen deshalb
auch schon negativeAuswirkungen.
Die Aktienkurse brachen amFreitag
ein, und der Risikozuschlag auf italieni-
schen Staatspapieren stieg deutlich an.
OffiziellerAuslöser derRegierungs-
krise war eine Abstimmung über die
Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen
Turin undLyon (TAV)amMittwoch im
Senat. Die Cinque Stelle hatten gegen
das Bahnprojekt gestimmt, das von der
Lega befürwortet wird und mit den
Stimmen andererParteien durchsPar-
lament gebracht wurde. Salvini behaup-
tet, das Nein desPartners zurTAV habe

das Fass zum Überlaufen gebracht. Kurz
vor der Sommerpause hatten sich die
Cinque Stelle bereits gegen die von der
Lega geforderteAutonomie für einige
nördlicheRegionen und gegen weitere
Steuersenkungen gestemmt.

AngetriebenvonUmfragen


Diemeisten Kommentatoren gehen
allerdings davon aus, dass die guten Um-
frageergebnisse Salvinis Entscheid stär-
ker beeinflusst haben dürften als die
TAV. Der Lega-Chef will seinePopu-
larität wahltaktisch so gut wie möglich
ausschlachten. Bei der Europawahl im
Mai hat seine Lega mit über 34 Pro-
zent einRekord ergebnis erzielt. In Um-
fragenkommt sie mittlerweile gar auf
37 Prozent. Der 46-jährige Mailänder

hat damit sehr gute Chancen, mit der
Unterstützung andererrechterParteien
Regierungschef zu werden.Viele seiner
Parteigenossen habenihndeshalb dazu
gedrängt,derPartnerschaft mit den Cin-
qu e Stelle endlich ein Ende zu setzen.
Die Bilanz der letzten14 Monate
ist relativ bescheiden.Vorallem, wenn
man sie den grossenWahlversprechen
der Populisten gegenüberstellt. Das
hätte für Salvini auf längereFrist zum
Problem werdenkönnen. Umso mehr,
als er vomVolk als der starke Mann der
Regierung wahrgenommen wurde und
damit auch für deren Bilanz verantwort-
lich gemacht worden wäre. Di Maio hat
sic hSalvini bisher in den meisten Streit-
punkten unterworfen, und seine uner-
fahrene Protestpartei wurde von der
Lega völlig an dieWand gespielt.

GegenseitigeVorwürfe


Am Freitag übertrafen sich Lega und
Cinque Stelle denn auch bereits mit
gegenseitigen Schuldzuweisungen. Aus
der Partnerschaft wurde in wenigen
St unde n eine erbitterte Feindschaft.
Exponentender Partei beschimpften
sich gegenseitig als Opportunisten,Lüg-
ner,Versager und Hofnarren.Als stärks-
ter Gegenspieler Salvinis hat sich auf
Seite der Cinque Stelle Giuseppe Conte
etabliert. Er hat den Innenminister in
den letzten Monaten wiederholt daran
erinnert, dass er nicht Ministerpräsi-
dent sei.Das kam bei diesem schlecht
an. Nicht zuletzt auch deshalb dürfte
Salvini demRegierungschef so schnöde
aus derFerne dasVertrauenaufgekün-
digt haben.Auch Conte ist beimVolk je-
doch beliebt, und der 55-jährigeJurist
scheint im letztenJahr selbst Gefallen
an der Macht gefunden zu haben.
Der Lega-Chef ist aber ganz klar im
Vorteil. Er hat mit seinem Schritt alle
überrumpelt und sich bereits in denWahl-
kampf gestürzt. In diesenTagen hat er
eine grosse Sommer-Tour begonnen, bei
der er sich von den Massen an den Strän-
den und auf den Plätzen feiern lassen
will. Vor allem im Süden, der Hochburg
der Cinque Stelle,sind Auftrittegeplant.
Noch weiss niemand, wann gewählt wird,
doch derWahlkampf hat begonnen, und
Salvini startet dabei in derPole-Position.

In Jemens Hafenstadt Aden brechen neue Kämpfe aus


Der Konflikt zwischen Regierungstruppen und Separatisten in Südje men eskaliert – das entzweit auch ihre Schutzherren im Ausland


DANIELSTEINVORTH


Saudiarabien und dieVereinigtenArabi-
schen Emirate sind eigentlich enge Part-
ner im jemenitischen Bürgerkrieg. Sie
gehören beide der Militärkoalition an,
die 2015 gegründet wurde, um die zaidi-
tisch-schiitischen Huthi-Rebellen zu be-
kämpfen. Die Huthikontrollieren noch
immer weiteTeile im Norden desLan-
des. Und sie werden politisch und militä-
risch von Iran unterstützt – dem gemein-
samen Gegner der Saudi und Emirati.


Von Anfang an fragile Allianz


Doch je länger der Krieg andauert,
destodeutlicher zeigen sich die Risse in
der Anti-Huthi-Allianz. So sind in der
HafenstadtAden dieseWoche erneut
Kämpfe ausgebrochen zwischen An-
hängern der prosaudischenRegierung
von Präsident Abedrabbu Mansur Hadi
und den Anhängern der südlichen Be-
wegung (al-Hirak al-Janubi). Seit der
Machtübernahme der Huthi im Norden
wurdeAden zum Sitz der Hadi-Regie-
rung und zur provisorischen Haupt-
stadt. Doch die Separatisten von Hirak,
die inAden denTon angeben, verfolgen
eigene Ziele. Sie wollen einen unabhän-
gigen Südjemen, wie er vor derWie-
dervereinigung1990 existierte, und sie
sahen in der Allianz mit Hadi ohnehin
nur ein Zweckbündnis, um die Huthi aus
dem Süden zu vertreiben.


Wie Augenzeugen der Nachrichten-
agenturReuters berichteten, lieferten
sich die beiden Kräfte bereits am Mitt-
woch in der Nähe des Präsidentenpalas-
tes und der jemenitischen Zentralbank
Gefechte.Mindestens sechsPersonen
sollen getötet worden sein.Laut dem
arabischen Fernsehsender al-Jazeera
hallten den ganzen Donnerstag Schüsse
durch die Stadt. Rauch undFeuer seien
rund um denJebel Hadid aufgestiegen,
den Hügel inAden, auf dem sich auch
der Präsidentenpalast befindet.
Dass die Separatisten die Machtfrage
stellen, ist freilichkeine neue Entwick-
lung. Spätestens seit der Entlassung des
früheren Gouverneurs vonAden, eines
Hirak-Anhängers, vor zweiJahren durch
Präsident Hadi und der darauffolgenden
Gründung eines «südlichen Übergangs-
rates» stehen sich die Hadi-Regierung
und Hirak verfeindet gegenüber. Das
wiederum sorgt für erheblichesKonflikt-
potenzial innerhalb der Militärkoalition:
Während für Saudiarabien die Einheit
des Nachbarlandes nicht verhandelbar
ist, können die Emirate mit einem ge-
teiltenJemen gut leben. Die Strategen
des kleinen Golfstaates haben Hirak
als Partner entdeckt, um sich selber in
der Region als Seemacht zu etablieren.
Truppen und Söldner im Dienste Abu
Dhabiskontrollieren seither fast alle
wichtigen Häfen bis auf Hudeida, um
die Seewege durch den Golf vonAden
und dasBab al-Madab zu sichern.

Doch parallel zu den nun wieder
aufgeflammten Kämpfen innerhalb
Adens ist auch der gemeinsame Kampf
geg en die Huthikeineswegs zu Ende.
Das zeigte sich bei einem verheeren-
den Drohnen- undRaketenangriff auf
eine Militärparade inAden in der ver-
gangenen Woche: Mindestens vier-
zig Tote undDutzende vonVerletzten
wurden bei der Attacke, zu der sich
die Huthi bekannten, getötet. Nach
Angaben der Nachrichtenagentur AP
News brüsteten sich dieRebellen da-

mit, Kollaborateure inAden zu haben.
Dutzende vonVerdächtigen aus Nord-
jemen sollen in derFolge von emirati-
schen Söldnern aus der Stadt geschafft
worden sein, heisstes in einem lokalen
Medienbericht.

Drohnenangriffe der Huthi


Zu einem weiteren Anschlag, der am
selbenTag aufeinePolizeiwache in
Aden verübt wurde und bei dem eben-
falls mindestens 30Personen ums Leben

kamen, bekannten sich die Huthi nicht.
Er soll laut Sicherheitskreisen auf das
Konto des IS gehen, was ein zusätzliches
Indizfür die extrem prekäre Sicherheits-
lage in der Hafenstadt ist.Auch der IS,
vor allem aber die Kaida, stelleneinen
Machtfaktor im Süden dar.
Stolzvermeldeteein von den Huthi
kontrollierter Fernsehsender in der
vergangenenWoche überdies, dass die
Miliz ein militärisches Ziel inDam-
mam im Osten Saudiarabiens beschos-
sen habe. Die seit Monaten immer häu-
figeren Drohnen- undRaketenangriffe
der Huthi auf Flughäfen und strategi-
sche Ziele im Nachbarland gehören in-
zwischen ebenso sehr zum Kriegsalltag
wie die saudischenVergeltungsschläge
auf Ziele in Nordjemen, denenregel-
mässig Zivilisten zum Opfer fallen.
Vergessen ist die Aufbruchstim-
mung, die sich im Dezember mit den
Friedensgesprächen im fernen Stock-
holm verband.Zwarkonnte seither eine
Waffenruhe für die wichtige Hafenstadt
Hudeida vereinbart werden, von wo
aus humanitäre Hilfe insLand gelangt.
Weiterhin ringt auch der Uno-Sonder-
beauftragte fürJemen, Martin Grif-
fiths , um eine politische Lösung zwi-
schen den Huthi-Rebellen und ihren
Gegnern. Nicht nur die jüngste Ge-
walteskalation inAden aber zeigt, dass
in einem der undurchsichtigsten Kriege
unserer Zeit wenigRaum für Optimis-
mus bleibt.

DerLega-Chef Matteo Salvini startetaus derPole-Positioninden Wahlkampf. LUCA BRUNO / AP

SanaaSanaa

AdenAden

SAUDIARABIENSAUDIARABIEN
OMANOMAN

JEMEN

JEMEN

ROTES
MEER

GOLF VON ADEN

250 Kilometer

MukallahMukallah

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HISTORISCHE
GRENZE

Saada

Hudeida
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