Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

Samstag, 10. August 2019 FEUILLETON 33


In ihrem letzten Roman hat Brigitte Kronauer


Seite um Seite gegenden Tod angeschrieben SEITE 34


Zu Besuch bei Charles Bonaparte, dem Ururgrossneffen


des ersten französischen Kaisers SEITE 38, 39


Was heisst de nn da aufgeklärt?

Mit dem jungen Voltaire und Diderot gege n den Fundamentalismus der Gegenwart.Von Hans Ulrich Gumbrecht


Kein Tag vergeht mehr ohne öffentliche
Scha rmützelüber die politischeKorrekt-
heit, in denen sich ihre Kritiker und Be-
fürworter beleidigen – und immer weiter
voneinander entfernen. Nach der neuen
Lehre, die längst nicht mehr allein an
den Universitäten herrscht,sondern in-
zwischen selbst inVerwaltung und Privat-
wirtschaftEinzuggehaltenhat,lassensich
ethischeProblemegrundsätzlichinzutref-
fende (oder eben «korrekte») Antwor-
ten und folglich in bindende, mit Zwang
durchzusetzendeHandlungsanweisungen
überführen. Man hat tolerant zu sein und
divers, egalitär und öko-etatistisch.
Zum Konsens-Repertoire der auf
dieser Grundlage vertretenen starken
Werte gehören die Betonung kulturel-
ler wie geschlechtlicher Identitäten und
die Forderung nach ihrer sozialen Aner-
kennung; ein weitreichender, an Idealen
der Gleichheit ausgerichteter Anspruch
auf Umverteilung, also die Egalisierung
von finanziellem wie kulturellem Kapi-
tal; und schliesslich eineReihe von öko-
logischbegründeten,meistimGestusder
SelbstbestrafungfürzurückliegendeSün-
den verkörperten Abstinenzregeln, die
angeblich das Überleben der Mensch-
heit auf dem Planeten Erde gegen vie-
lerlei Bedrohungen garantieren.


Lektionen des 20.Jahrhunderts


Wer an «korrekte» Standpunkte glaubt,
hält sich gemeinhin für «rational» und
«kritisch», frei nach Immanuel Kants
Aufklärungsdefinition vom «Heraus-
treten aus selbstverschuldeter Unmün-
digkeit» – alsob jeder Schritt in dieAuto-
nomie zu absoluter Evidenz und Einheit
der Meinungen führte. Zugleich werden
Gewissheit undKonsens als Ergebnisse
eines«geschichtlich notwendigen», dem
Zeitalter derAufklärung entspringenden
«Prozesses der Moderne» inszeniert, der
eine offene Zukunft mit wachsendem
WohlstandundExistenzsicherheitfüralle
Menschenzumöblierenverspricht.«Kon-
servativ» sein hingegen soll darauf hin-
auslaufen, das universale Glücksverspre-
chen zu untergraben und den angeblich
notwendigenFortschritt zu behindern.
So sehen die Prämissen eines intel-
lektuellen Diskurses aus, der vor allem
in den westlichen Gesellschaften längst
dominiert. Er hat Überlegungen inVer-
gessenheit geraten lassen, die seit Mitte
des vergangenen Jahrhunderts den
unterstellten Standardbegriff vonAuf-
klärungentscheidendproblematisierten.
Walter Benjamins Bild vom «Engel
der Geschichte» etwa, der einer angeb-
lich offenen Zukunft denRücken zu-
wendet, um sich mit Emphase allein auf
die Opfer derVergangenheit zukonzen-
trieren. Albert Camus’ Einspruch gegen
jedesAufs-Spiel-Setzen von Menschen-
lebenzumZweckderVerwirklichungun-
vermeidlich prekärer Zukunftsvisionen.
Oder dieWarnung des Philosophen Karl
Löwith,dass mit jedemVersuch,notwen-
digeKonsequenzen aus der Interpre-
tation von Geschichte abzuleiten, ein
Potenzial totalitärer Ideologien entsteht.
Eine noch weiter führendeKonkreti-
sierungsolcherEinwändehatteschondie
Hauptthese von Horkheimers undAdor-
nos «Dialektik derAufklärung» gelie-
fert. Nach ihr sollte dieeinseitigeKano-
nisierungvon Vernunft undRationalität
seit der frühen Neuzeit alle affektiven
Impulse der Menschen und mithin ihren
einzig möglichenWiderstand gegen die
nationalsozialistische Industrialisierung
des Tötens neutralisiert haben.
Dazu passte die ergänzende – und für
dieFortschrittsgläubigen«konservative»



  • BeobachtungReinhartKosellecks von
    der«HypokrisiederAufklärung».Ersah
    sie als eine Bewegung an, mit der das
    BürgertumunterderMaske re volutionä-
    rerMenschheitsbeglückungeinseitigdie
    eigenen Klasseninteressen beförderte.


Es gibt also gute Gründe, einer impe-
rativ auftretendenVernunft – und dem
sie begleitendenFortschrittsfundamen-
talismus – zutiefst zu misstrauen. Die-
ser Begriff von Aufklärung, der sich im
Sozialismus manifestierte, hatte intel-
lektuell eigentlich schon zu Beginn des
Kalten Krieges abgewirtschaftet. Doch
er war, wie wir heute sehenkönnen,
noch nicht wirklich an seinem Ende an-
gekommen.Vielmehr ist dieKonzeption
seit der Implosion des Staatssozialismus
um 1990 mit demAufstieg einer neuen,
sozialdemokratistisch gesinntenMittel-
klasse vonAngestellten und Beamten in
denAlltag zurückgekehrt – ebenals die
Matrix einer politischkorrekten Ethik,
welche Alternativen nicht mehr zulässt.
Wer aber intellektuell atmen und mit
einem Grad von Unabhängigkeit leben
möchte, der kann diekollektiv-utopisch
verstandene «Aufklärung»keinesfalls
als Norm hinnehmen. Und er hat in der
Tat die Möglichkeit,sich auf ein ande-
res Verständnis desAufklärungserbes
als Stil individueller Skepsis zu berufen.
Statt im späten achtzehntenJahrhun-
dert und bei den bürgerlichenRevolutio-
nen mit ihren Programmen der Mensch-
heitsbeglückung anzusetzen, muss die
Gegenkonzeption zunächst Bezug neh-
men auf den Ursprungsimpuls derAuf-
klärung, der in einerRevision allen
überliefertenWissens nach universalen

Kriterien derVernunft wirksam wurde


  • und zunächst ganz ohne das Moderni-
    sierungsversprechen umfassenderWohl-
    fahrt auskam.
    Aufklärer in diesem Sinn war der
    jungeVoltaire, dessen leidenschaftlich
    kühle Kritikkeine Autorität oder Insti-
    tutionverschonte.SchonmitzwanzigJah-
    renmussteereineelfmonatigeHaftinder
    Bastille aussitzen, weil er öffentlich dem
    PrinzregenteneineinzestuöseBeziehung
    zu seinerTochter unterstellt hatte.
    Solchen Mut zur Provokation und
    die Freude an persönlicherResonanz
    in der Gesellschaft, wie sie ihm gerade
    auch Bestrafungen einbrachten,hatVol-
    taire zeit seines Lebens nicht verloren.
    Daneben benutzte er aber dieVernunft
    auch höchst kreativ und praktisch, um
    durch mathematisch wohlkalkulierte
    Transaktionen im damals entstehenden
    Lotteriegeschäft zu einem derreichsten
    Unternehmer seiner Zeit – und mithin
    auch politisch erstaunlich unabhängig –
    zu werden.
    Die Freundschaft undKorrespon-
    denz mitFriedrich II. von Preussen zum
    Beispiel blieb trotz gelegentlichen Ent-
    täuschungen und Misstönen vor allem
    deshalb erhalten, weil derKönig seinen
    unbotmässigen Gesprächspartner weder
    finanziell noch juristisch in die Knie zu
    zwingen vermochte. Und gerade aus der
    Lust an Divergenzen scheintVoltaire


seine intellektuelle Energie bezogen zu
haben.
Erst spät entfalteteVoltaires agile
Skepsis eine moralische Dimension, die
an die heutigeKorrektheit erinnert. Er
engagierte sich für die postumeRehabi-
litierung des hugenottischen Kaufmanns
Jean Calas, der vom absolutistischen
Staat unter dem – unbegründeten–Ver-
dacht zuTode gefoltert worden war, sei-
nen Sohn wegen dessen Absicht einer
Konversion zum Katholizismus umge-
bracht zu haben.

Und der gelasseneDiderot


Während jenerJahre machte sich inVol-
taires Briefen undPamphleten der Be-
griff von der «vertu persécutée» breit,
der – in Analogie zum Mythos vom
Opfertod Christi – unterstellte, dass
praktischeTugend nicht nur gelegent-
lich, sondern prinzipiell die Mächte des
Bösen auf sich ziehen:Kritik sollVerfol-
gung sein, und wer kritisiert wird, ver-
fügt dann über das Opferprivileg.
DieneueTugendhaftigkeiterwiessich
soal sproblematischeMitgifteinerneuen
mit dem utopischenAufklärungsbegriff
verkoppelten Ethik. Denn in seinen
extremenVersionen steigertesich selbst
Voltaire zu der bis heute vom politisch
korrektenKonsens durchaus unterstell-
ten Prämisse,den in Bildung, Finanzen

und symbolischen Einfluss unterlegenen
Individuen und sozialen Gruppen einen
systematischenAnspruchauf moralische
Überlegenheit zuzuschreiben.
Voltaires späten Schritt zum morali-
schen Aktivismus hat Denis Diderot, der
ExzentrikerundLeser-Lieblingunterden
gross en Autoren der französischenAuf-
klärung, nie vollzogen.Als Herausgeber
steuerte er zur «Encyclopédie» zwar ei-
nigeArtikelüberdamalsheissdiskutierte
politische Stichworte bei, in denen er den
Klerus kritisierte und auf weitgehende
Konzessionsbereitschaft desAdels setzte.
Doch Diderots bis heute oft übersehener
Haupteinsatz zurRevision überliefer-
ten Wissens war an einer ganz anderen
Dimension der Praxis interessiert.
In ausführlichen Beschreibungen
und vor allem in den Illustrationsbän-
den der «Encyclopédie» erfasste er die
Räume,Werkzeuge und Produktions-
prozesse zahlreicher Berufe und ver-
suchte, implizitesWissen erstmals in
Sprache zu überführen. Die entschei-
dendeRolle spielte dabei sein materia-
listischesWeltbild, in dem Spekulatio-
nen über den Ursprung des Lebens und
über die Bedingungen ständiger Lebhaf-
tigkei t alle politisch-ethischenFragen an
den Rand gedrängt hatten.
Bei der Lektüre von «Jacques leFata-
liste et son Maître» und «Le Neveu de
Rameau», Diderots heute populärsten
Texten, wird deutlich, wie er von über-
wältigenderKomplexitätund allgegen-
wärtiger Zufälligkeit alsVorzeichen für
Welterfahrung und Kommunikation
ausging. Mit verbindlichenRegeln oder
grundlegenden Prinzipien war ihnen
keinesfalls beizukommen.Nicht zu einer
Existenz entlang«korrekter»Lösungen
von ethischen Problemen ermutigte er
deshalb seine Leser,sondern zum nie
aussetzenden individuellen Gebrauch
ihrer Urteilskraft.

Eine intellektuelle Kraft


Von Gestalten wie Diderot und dem frü-
henVoltaire ermutigt,lässt sich derVor-
wurf, jede Kritik an politischkorrekten
Positionen sei «anti-aufklärerisch», mit
einer kontrapunktischen Konzeption
von Aufklärungkontern. Unter der An-
nahme unaufhebbarerKomplexität und
Kontingenz derWelt bleibt dieseKon-
zeption vor allem skeptisch gegenüber
allen sich als a priori «richtig» präsen-
tierenden Lösungen, Anleitungen und
Imperativen.
Ansätze zur Orientierung inkon-
kreten Situationen mit ihren jeweili-
gen Problemen gewinntdie andereAuf-
klärung aus der Bereitschaft,sich über
Unterschiede des Urteilens wie des Er-
fahrens zu verständigen.Dabei entsteht
eine intellektuelle Kraft, die es sich leis-
ten kann,Widersprüche wahrzunehmen
und anRückschlägen zu arbeiten – statt
sich mit moralischer Selbstgerechtigkeit
und kollektivenFortschrittsversprechen
selbst zu blenden.
Dank dieser Kraft sollte sich die an-
dereAufklärung auch dieFragen nicht
verbieten lassen, wem eigentlich die
heutige Identitätenbesessenheit hilft;ob
wir Ungleichheit unter den Menschen
nicht als Bedingung für wechselseitiges
Lernen und Quelle der Motivation nötig
haben; und ob derWeltuntergang denn
wirklich unmittelbar bevorsteht.
Je länger der Untergang ausbleibt,
desto besser sieht diekontrapunktische,
nichtmoralisierendeAufklärungaus,jene
Aufklärung, die unserer «menschlichen»
Selbstüberschätzung zutiefst misstraut.

Hans Ulrich Gumbrechtist emeritierter Pro-
fessor für Literaturwissenschaftenin Stanford
und Autor. Zuletzt ist von ihmdas Buch«Brü-
chige Gegenwart: Reflexionen undReaktio-
nen» (Reclam, 2019) erschienen.

Für den Exzentriker Diderot bliebWelterfahrung immer eine Sache der individuellen Urteilskraft. Gemälde von Louis-Michel van
Loo,Ölauf Leinwand, 1767. PD
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