Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

34 FEUILLETON Samstag, 10. August 2019



  1. LOCARNO FIL M FESTIVAL


Elternplage und


Kinderwunsch


Zwei Schweizer Komödien
nehmen Bez iehungen aufs Korn

URS BÜHLER

Reizvoll durchkreuzt mitunter dieRea-
li tät dieFiktion anFilmfesten, wie am
Donnerstagin Locarno bei dieserPre-
miere:In«WirEltern»desKünstlerpaars
Eric Bergkraut undRuth Schweikert
spielen dessen SöhneRuben, Elia und
Orell mit, und die drei sollen nach dem
Abspann zunächst allein auf der Bühne
des voll besetzten Saals gestanden und
Dankesreden gehalten haben: Muster-
knaben, gemessen am tyrannischenVer-
halten zweier von ihnen imFilm.

FastrealerWahnsinn


So jedenfalls lassen wir, durch eine
höhere Macht namens verzögerter
Bahnverkehr an derTeilnahme gehin-
dert, uns den Anlassschildern:Wir su-
chen dieFamilie spätabends nach der
Premiere bei derFeier mit der Crew in
einem Ristorante auf. Der zwölfjährige
Orell Bergkraut, der schauspielerisch
besonders talentierteJüngste, erzählt
stolz, dass Bundesrat Alain Berset samt
Familie im Saal gewesen sei, und erläu-
ter t abgeklärt, nun einmal zu schauen,
ob weitereRollenangebote kämen.
Ged reht worden ist grösstenteils in
der realen Wohnung der Bergkrauts in
einer Neuüberbauung auf dem Zür-
cher Hürlimannareal. Der dank ge-
konnter Kameraführung (Stéphane
Kuthy) semidokumentarisch wirkende
Inh alt ist als fiktiv deklariert,doch es
ist ein durchausreal erfahrener Stoff,
der da satirisch zugespitzt und verfrem-
det wird.Kürzestfassung: Zweikett en-
kiffende Tagediebe tanzen kurz vor
dem Eintritt insTwen-Alter den wohl-
meinenden Eltern auf der Nase herum,
bis die nicht mehrweiterwissen.
Ob man das nun eine Groteske,
eineFarce oder eineKomödie nennt:
Das Premierenpublikum hat laut un-
abhängigen Beobachtern viel gelacht,
wenn auch nicht immer an den erwar-
teten Stellen. Die SchriftstellerinRuth
Schweikert,die nun ihr erstes Drehbuch
umgesetzt hat,und der erfahrene Doku-
mentarfilmer Eric Bergkraut haben ihr
400000-Franken-Projekt mithilfe des
neuen «FastTrack»-Förderinstruments
der Zürcher Filmstiftung für innova-
tive Low-Budget-Produktionenreali-
sierenkönnen – im Eiltempo: Ein hal-
bes Jahr nach Beginn der Dreharbeiten
ist das Ergebnis nun für die Einladung
nach Locarno bereit,ohne dass es hinge-
schludert wirken würde (trotz der einen
oder anderen Holprigkeit).
Schön subversiv ist etwa die Idee,
real existierende Experten wie denKin-
derarztRemo Largoeinzuflechten, die
ihre real existierendenThesen nicht vor
einem wohlgeordneten Büchergestell
abgeben, sondern mitten im Chaos die-
ser Familie.Als Werbespot fürs Kinder-
habenistdasWerkgewissnichtangelegt.

Elternwerdenist auch schwer


Nicht nur das Elternsein, auch das
Elt ernwerden ist manchmal schwer.
Das illustriert das satirische Kinospiel-
filmdebüt von Natascha Beller,der ein-
zige Schweizer Beitrag auf der Piazza
Grande (am Sonntag in der etwas jün-
ger und frecher programmierten «Crazy
Midnight»-Schiene): Im Zentrum von
«Die fruchtbaren Jahre sind vorbei»
steht die Zürcher Mittdreissigerin Leila
mit dringlichem Kinderwunsch samt
Torschlusspanik.
Das Ganze ist eher sketchartig an-
gerichtet, aber mitTempo, originellen
Bildeinfällen und Biss. Ihre Gefühle
vor der Premiere schildert die1982 ge-
boreneFilmemacherin amTelefon als
Mischung ausVorfreude und Angst.
Ihre Befürchtung, ihr Werk könnte auf
der Piazzaausgebuht werden wieeinst
Michael Steiners vom gleichen Cutter
ge schnittenes «Missen Massaker», hal-
ten wir nach dem Qualitätsvergleich
für unbegründet. Gefahr droht eher
von oben: Es istRegen prognostiziert.
Die Realität bedroht also wieder ein-
mal dieFiktion.

Sie bringt sogar Schäbiges zum Leuchten


Mit einem Kosmos von Romangeschichten verabschiedet sich Brigitte Kronauer von ihren Lesern


PAULJANDL


Können Buch undAutor einander ver-
fehlen?Vielleicht nur in einem sehr
weltlichen Sinn.Vor dreiWochen ist Bri-
gitte Kronauer gestorben.Das Erschei-
nen ihres Buches «Das Schöne, Schä-
bige, Schwankende» hat sie nicht mehr
erlebt.Dass das Leben schäbig wirken
kann, sagen Kronauers letzte Prosa-
stücke in jeder Zeile. Man kann diese
Miniaturromane drehen und wenden,
und dann steht da in der allerklarsten
Schrift, wie schön das Leben ist. Ein
«schwebendes durchsichtiges Glück».
Eine nicht mehr ganz junge Schrift-
stellerin darf für die Arbeit an ihrem
Roman «Glamouröse Handlungen» ins
Haus eines verreisten Ornithologen zie-
hen. Siekommt mit ihrer eigentlichen
Arbeit nicht wirklich voran und hadert
mit einem Literaturbetrieb, der ihr «nar-
rative Impotenz» vorwirft. Eine Floskel,
die ähnlich auch Brigitte Kronauer zu
hö ren bekommen hat, und deshalb ist
dieses letzte Buch auch wie ein aber-
witzigerKonter.Auf sechshundert Sei-
ten wird erzählt und erzählt, wird gegen
den Tod angeschrieben. Gegen denTod,
der uns bevorsteht, und gegen alles lite-
rarisch Anämische.
Die Papierform desRomans braucht
die Büchnerpreisträgerin nicht. Sie
schreibt stattdessen «Romange-
schichten». Dutzende. Längere und kür-
zere, die sich episch miteinander ver-
knüpfen.Aus den lebenden und präpa-
riertenVögeln des Ornithologen wach-
sen Menschengesichter und mit ihnen
auch Erinnerungen, die wiederum zum
Erzählstoff werden. Es gibt stolzeAdler
im Personal,teigige Dompfafftypen und
Literaturbetriebsschnepfen. Einige sind
überhaupt etwas vogelig, wie das schöne


Wort für Sonderlinge inWalter Kem-
powskis«Tadellöser undWolff» lautet.

Aufprallin Zeitlupe


Kronauers Geschichten handeln von
der Versenkung und vom Sinken.Vom
allerschönstenkontemplativen Einssein
mit derWelt und von jenen Momen-
ten des Lebens, wo alles auseinander-
fällt. Beides ist in fein gerahmten Bil-
dern festgehalten. Ein kleinerJunge
steht mit offenem Mund und den Hän-
den an der Hosennaht vor der Brandung
des Meeres. Minutenlang und fassungs-
los. Der alte Literaturprofessor lässt
sich, wann immer es geht, vom Grün
der Natur überwältigen.Von der «un-
entwegt schaffendenFabrik des Pflanz-
lichen». Franziska ist in dieJahre ge-
kommen und etwas ausserForm gera-
ten. Sie lehnt sehr touristisch an einer
Brüstung amTiber inRom, als sie einen
jungen Mannsieht, der ein Abenteuer
seinkönnte. Er geht vorbei, aber er
kommt zurück. Sie schliesst dieAugen
und denkt: «Ja!Ja! Ja!» Als sie sie wie-
der öffnet, sieht sie denrassigenRömer
mit ihrer Handtasche auf einem Motor-
rad verschwinden.
Kronauers Geschichten sind dabei,
wenn das Leben in etwas umschlägt,was
wir ganz behelfsmässig Schicksal nen-
nen. Und ab da geht es tiefer und tie-
fer. Man sieht denAufprall immer wie
in Zeitlupe. Krisen,Trennungen, das Al-
ter. Ein zerzaustes Gedächtnis. Die vie-
lenTode,diesehrspätimLebenoderzur
Unzeit gestorben werden.Krebs, plötz-
licher Herztod, Mord. DerTod ist aber
auch ein langsamesAbsterben,ein Schä-
bigw erdenderDingeundderMenschen.
Der fast metaphysische Ästhetizis-
mus Brigitte Kronauers hat einen schar-

fen Blick für dieseVorgänge. Er sieht ge-
nau,wenn die Moral fadenscheinig wird.
Wenn sie sich auflöst in etwasKörper-
näheres und Bequemeres:in Anpas-
sung, Opportunismus und Misanthropie.
Dass dasWort Niedertrachtim Begriff
ist, auszusterben, wird im Buch an ent-
scheidender Stelle vermerkt.Vielleicht
stirbt dasWort aus.Aber nicht, weil es
die Niedertracht nicht mehr gäbe, son-
dern weil sie überall ist.
Kronauer liefert mit ihren Geschich-
ten wie nebenbei diese Dialektik mit, sie
schlägt auf wenigen Seiten ganze Ka-
pitel zu einem grossenThema auf: die
menschliche Psyche und ihreFolgen.
«Das Schöne,Schäbige,Schwankende»
erzählt den Abstieg oft von hohem
Niveau aus. Ganz obenist nicht selten
die Kunst. So auch imFall der «chileni-
schen Nachtigall», die vor Hitlers Zei-
ten eine strahlende Nummer war,sich
aber jetzt,in den fünfzigerJahren , einem
Pfeifkonzert gegenübersieht.Von der
Bühne aus merkt sie, wie das Glück
plötzlich entweicht.
Sehnsucht und Schönheit sind bei
Kronauer aufs Engste verbunden. Die
Schönheit der tragischen Katja, die als
Bardame arbeitet, ist nur das weltliche
Äquivalent zu den Menschengesichtern
auf Matthias Grünwalds Isenheimer
Altar, mit dem sich für den Literatur-
professor einRaum für seine himmel-
weite Sehnsucht auftut.
Dass das Glück aber auch unerträg-
lich sein kann, erfährt man in der Ge-
schichte«DasPaar vor derLaube».
ZweiAlte, die auf knorrigeWeise
deutsch sind, verschaffen sich in ihrer
Sch rebergartenkolonie nicht allein
durch wucherndes GrünRespekt, son-
dern auch durch militante Philanthro-
pie.Wird etwas gebraucht, sind sie zur

St elle. Mit Rat undTat. Als sich Herr
Spreizel aus ihremWohnblock die Puls-
adern aufschneidet, wird er von Herrn
und Frau Rugenbark schnell und sach-
gemäss gerettet. Manträgt ihn aufder
Bahre in den Krankenwagen, und die
rugenbarkscheRücksicht winkt dem
am Leben erhaltenen Suizidanten noch
hinterher:«Hof fentlich war es über-
haupt in seinem Sinn.» Zu viel des
Guten, zu viel der Guten, denkt sich
die Erzählerin.

Existenzschabernack


«Das Schöne,Schäbige,Schwankende»
ist auf dramatische Art noch einmal
grossartig wie alle Bücher Brigitte Kro-
nauers. Ein präzises Gewimmel.Das
sprachliche Äquivalent dessen, was
draussen die Natur treibt. Ordnung und
Chaos, ein Weben und Flechten der
Sätze undWörter.Von Letzteren gibt es
Exemplare wie «Rauhreiflächeln», «Pro-
teströcke», «Verdummungsquark» und
«Existenzschabernack».
Der Existenzschabernack, in dem
wir leben, ist eine traurig-komischeVer-
anstaltung. Man sieht seineKostümie-
rungen undVerpuppungen,aber seinen
Kern sieht man nicht. Einmal fragt die
erzählende Schriftstellerin ihre Mut-
ter,wie sie sich die menschliche Seele
vorstelle. Die Mutter sagt nur: «Motte.»
Das ist das Bild, das uns Brigitte Kro-
nauer hinterlässt. Die Seele, das ist der
Inbegriffdes Schönen,Schäbigen und
Schwankenden. Und vielleicht ist die
Seele, dieses tagscheueWesen, eben
eine Motte.

BrigitteKronauer:DasSchöne, Schäbige,
Schwankende. Klett-Cotta,Stuttgart 2019.
59 6S., Fr.38.90.

Alles löst sichauf in Brigitte Kronauers Geschichten – und ist dochganz da. CHRISTOPH RUCKSTUHL/ NZZ

Free download pdf