Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

36 LITERATUR UNDKUNST Samstag, 10. August 2019


Such te er Krieg, oder wollte er Frieden?

Mit Napoleon verbinden wir eine Periode grausamer Schlachten. Dabei hasste der grosse Feldherr Gewalt.Von Adam Zamoyski


250 Jahre Napoleon – am15.August
1769 ist der spätere französische Herr-
scher zurWelt ge kommen,und dasJubi-
läum bietet sich an, um einige geläufige
Thesen zu hinterfragen. Besonders weit
verbreitet ist die folgende Annahme:
Napoleon war ein Mann, der den Krieg
genoss und Europa in bewaffneteKon-
flikte stürzte, die Millionen Menschen
das Lebenkosteten. Aber stimmt das
ei gentlich? Um dieserFrage auf den
Grund zu gehen, ist zuallererst die irre-
führende Bezeichnung der «Napoleoni-
schen Kriege» zu verabschieden.
Als Frankreich im April1792 Öster-
reich den Krieg erklärte, war der 22-jäh-
rige Leutnant Napoleon Bonaparte ein
normaler Offizier. Seinen ersten Einsatz
hatte er imFolgejahr gegen Sardinien,
das sich der antifranzösischenKoali-
tion angeschlossen hatte. Die nächsten
Kampferfahrungen machte er im Herbst



  1. Eine englisch-neapolitanisch-spa-
    nisch-sardinische Armee war inToulon
    gelandet und wollte dieFranzösische
    Republik stürzen.Hauptmann Bona-
    parte, nunmehr 24, befehligte die Artil-
    lerie der französischenTruppen.Erwar
    massgeblich dafür mitverantwortlich,
    dass derFeind, zumRückzug gezwun-
    gen,das französischeTerritorium verlas-
    sen musste. In derFolge wurde Bona-
    parte daher in denRang eines Brigade-
    generals erhoben.
    Weiter diente erseinemLand, indem
    er die Artillerie des Heeres anführte,
    das Österreich und Sardinien im Süden
    Frankreichs zurückdrängte.ImOktober
    1795 wurde Bonaparte eingesetzt, um
    die Regierung inParis gegen einenroya-
    listischenAufstand zu verteidigen,und
    im März1796 erhielt er dasKommando
    über die Italienarmee – mit demAuf-
    trag , einAblenkungsmanöver zu organi-
    sieren. Der eigentliche Zusammenstoss
    wurde im Nordenerwartet, wo sich die
    Österreicher darauf vorbereiteten, den
    Rhein zu überqueren und nachParis zu
    marschieren.
    Bonaparte vollbrachteWunder und
    trieb einenKeil zwischen die Öster-
    reicher, die sich in Richtung Mailand
    zurückzogen, und die Sarden, die er
    zu einemFriedensschluss zwang. Die
    Österreicher trieb er aus der Lombar-
    dei heraus und machte in fünf brillan-
    ten Kampagnen ihreVersuche zunichte,
    Norditalien wieder in Besitz zu nehmen;
    schliesslichzwang er auch sie zumFrie-
    den. Das tat er entgegen denWünschen
    der Pariser Regierung, deren Befehle er
    schon vorher ignoriert hatte – indem er
    Verträge mit Sardinien, mit demKönig-
    reich Neapel, mit demPapst und mit
    anderen italienischen Herrschern ab-
    geschlossen hatte. Bonaparte ist auch
    über seinen ursprünglichenAuftrag hin-
    ausgegangen und hat denFeind aggres-
    siver als erwartet angegriffen. Er wollte
    die Invasionsbedrohung endgültig besei-
    tigen – und das erreichte er, indem er
    einen italienischen Pufferstaatzwischen
    Österreich undFrankreich schuf.


Unterwegs nachÄgypten


Als Bonaparte1797 als Held nachParis
zurückkehrte, zeigte erkeinerlei Nei-
gung, wieder in den Krieg zu ziehen. Er
widmete sich intellektuellen Belangen
und besuchte dieVersammlungendes
«Institut National des Sciences et Arts»,
das ihn zum Mitglied gewählt hatte. Die
nächsteAufgabe, die er von derRegie-
rung erhielt, nahm er zuTeilen denn
auch wegen ihrer kulturellen und wis-
senschaftlichen Bedeutung begeistert
an: Nun ging es darum, Ägypten einzu-
nehmen und eine neueKolonie zu er-
schliessen – sie sollte die Gebietekom-
pensieren,dieFrankreich in der Karibik
an England verloren hatte.
Bonaparte besiegte die ägyptischen
Mamluken und machte sich an die Orga-
nisation der neuenKolonie. Er führte
ein e Verwaltung und einJustizsystem
ein , sorgte für Strassenbeleuchtungen
und Abwasseranlagen, initiierte ein


Grundbuch und andere institutionelle
Einrichtungen– un d beauftragte zu-
gleich Experten undWissenschafter mit
der Untersuchung vonTopografie, Flora,
Fauna, Klima,Kultur und des archäolo-
gischen Erbes desLandes.
Während seines Staatsbildungspro-
zesses musste sich Bonaparte mit zwei
osmanischen Armeen auseinander-
setzen, die ihn vertreiben wollten. Er
marschierte nordwärts nachPalästina
und Syrien, um eine von ihnen aufzu-
halten, stiess aber auf heftigenWider-
stand und musste sich nach Kairo zu-
rückziehen. Mit der anderen Armee
hatte er mehr Erfolg, er schlug sieam


  1. Juli 1799 haushoch in Abukir.
    Napoleon liebte Ordnung und hasste
    Gewalt. Nie hat er die Angst und den
    Abscheu vergessen, die er1792 empfun-
    den hatte, als er den Sturm auf denTui-
    lerienpalast beobachtete – und das Mas-
    saker, das derPariser Mob an seinen
    Verteidigern verübte.Während des Ita-
    lienfeldzugs (1796/97) zügelte erregel-


mässig die Grausamkeit seinerTrup-
pen. «Der Soldat ohne Brot überlässt
sich Exzessen derWut, bei denen man
sich schämen muss, Mensch zu sein»,
stellte er nach seinen ersten Siegen fest,
und er hielt es für angezeigt, ein Exem-
pel zu statuieren – indem er einige der
schlimmsten Missetäter erschoss. «Es
bereitet mir vielKummer, und ich habe
einige schwere Augenblicke durch-
gemacht», gestand er.
Als Bonaparte Ägypten einnahm, tat
er alles,um sich die Bewohner gewogen
zu machen, er respektierte ihreReligion
und ihre Gebräuche und zeigte Gnade
gegenüber seinen Gegnern. Allerdings
bemerkte er bald, dass ihm das als
Schwächeausgelegt wurde; infolgedes-
sen wurde er rücksichtsloser. Unt er den
Extrembedingungen derSyrienkampa-
gne ordnete er ein Massaker an Gefan-
genen an,deren Bewachung und Ernäh-
rung ernicht mehr gewährleistenkonnte
(wob ei einige dieser Gefangenen wieder
gegen ihn zu kämpfen begonnen hatten,

nachdem sie zuvor auf Bewährung frei-
gelassen worden waren). Zudem aufer-
legte er seinenTruppen strikte Diszi-
plin. Durch di eser Erfahrung verhärtete
sich seineHaltung:Künftig sollte er ent-
schlossen handeln, wenn eine Situation
es verlangte. Doch Bonaparte war nie-
malsabsichtlich grausam.
Im Übrigen war er bis Ende 1799
bloss ein Soldat, der die Befehle sei-
ner Regierung ausführte.Wenn er dabei
übermässigen Eifer an denTag legte,
dann darum,weil er die gestecktenZiele
auf möglichst effizienteWeise erreichen
wollte. Erst später erteilte er dieBefe hle
selber: nachdem er durch den Staats-
streich vom18./19.November1799 an
die Macht gelangt war.

Wer beginntden Krieg?


Dabei ist eine seiner ersten Amtshand-
lungen als ErsterKonsul bezeichnend:
Bonaparte wandte sich schriftlich an
König George III. von England und

an KaiserFranz II., bekundete seinen
Wunsch nachFrieden und schlug vor,
Verhandlungen aufzunehmen.
Natürlich kann man sich fragen, ob
dieseVorschläge aufrichtig waren, und
BonapartesReaktion auf ihreAblehnung
durch England und Österreich ist bemer-
kenswert. «Diese Antwort hätte für uns
nichtgünstigerseinkönnen»,gaberspäter
zu, denn Krieg sei,in seinen eigenenWor-
ten,«lebenswichtig», um die Kraft und die
Einheit des Staates aufrechtzuerhalten» –
und der Krieg stärkte seine eigenePosi-
tion. Nachdemer dann aber die Öster-
reicher inMarengo besiegt hatte, ging er
methodisch daran,Frieden zu schliessen,
mit einemLand nach dem anderen: Als
im März1802 derVertrag vonAmiens mit
England unterzeichnet wurde, war Frank-
reich zum erstenMal seit zehnJahren mit
niemandem mehr im Krieg.
Der Friede von Amiens endete im
Mai 1803 – und erst von diesem Zeit-
punkt ankönnte man nun denAus-
druck «Napoleonische Kriege» verwen-
den. Doch ironischerweise war es nicht
Napoleon, der die Kriege begann, son-
dern Grossbritannien. Angelsächsische
Historikervert reten denStandpunkt,
dass Napoleons provokativesVerhalten
den Krieg unumgänglich gemacht habe,
und daran ist durchausetwa sWahres.
Napoleon hatte unverzüglich begon-
nen,Frankreichs Einfluss in Europa und
in d en Überseegebieten wieder zu ver-
stärken.Er machte Piemont und Elba zu
französischen Departementen (wozu er
laut seinemVertrag mit Österreich be-
rechtigt war) und übernahm die Präsi-
dentschaft der ItalienischenRepublik.
Die Briten waren erbost darüber, dass
er, anstatt die französischenTruppen aus
den Niederlanden abzuziehen, die dor-
tige Regierung manipulierte und diese
die Truppen schliesslich zum Bleiben
aufforderte. Und die britische Öffent-
lichkeitwar empört, als er den inter-
nen Konflikt in der Schweiz ausnutzte,
um die HelvetischeRepublik zu schaf-
fen und unter seineKontrolle zu stellen.

Wirtschaftliche Interessen


Doch auf beiden Seiten wurde geheu-
chelt. England erachtete die französi-
sche Präsenz in den Niederlanden tradi-
tionsgemäss als Bedrohung, aber Frank-
reich seinerseits hat sich immer schon
vor einem mit Grossbritannien befreun-
deten Holland gefürchtet. Und wäh-
rend die öffentliche Meinung das Bild
der freien Schweiz pflegte, deren Neu-
tralität man schützen musste, haben die
Briten dasLand alsBasis für subversive
Aktivitäten inFrankreich benutzt, und
auch als Eintrittstor für österreichische
und russische Armeen fungierte es.
Was die Briten wirklich störte, war
etwas anderes: Napoleon weigerte sich,
einen Handelsvertrag abzuschliessen,
der es britischen Gütern erlaubt hätte,
zollfrei auf die Märkte zu gelangen, die
er kontrollierte.Zudem machteFrank-
reich Anstalten, dieKontrolle über sein
Kolonialreich wiederzuerlangen.
Napoleons Handlungenrespektier-
ten denWortlaut derVerträge. Und
dass er entschieden hatte, die sich lang-
sam erholendefranzösischeWirtschaft
vor einer Flut an britischen Billigimpor-
ten zu schützen, ist schwerlich als krie-
gerischerAkt zu sehen.Napoleon signa-
lisie rte mitnichten, dass er einen Krieg
wollte, und hatte von einem erweiterten
Frieden viel zu erwarten:Dadurch hätte
er seinLand administrativ und ökono-
misch so konsolidieren können, dass
Frankreich und er selber eine unangreif-
bare Position erlangt hätten.
Die Briten starteten ihren Angriff
zwei Tage vor ihrer Kriegserklärung, so
dass dieRoyal Navy bereits mehr als
1000 französische und niederländische
Schiffe in britischkontrollierten Häfen
beschlagnahmenkonnte. Napoleon war
rasend. Er nutzte dieöffentliche Empö-
rung inFrankreich aus und verkün-
dete, dass er in England einmarschie-

Vor 250 Jahren wurde Napoleon geboren – wieist er h eute zu deuten?


GeneralBonaparte 1796 in der Schlacht bei Arcole–der Italienfeldzugbegründete den Ruhm des jungen Helden. GETTY
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