Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

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Samstag, 10. August 2019 LITERATUR UND KUNST37


renwerde .Dass er das jemals ernsthaft
in Betracht zog, ist zweifelhaft.Aber so
konnte erTruppen inLagern bei Bou-
logne und anderswo entlang der Kanal-
küste konzentrieren, was ihm eineRe-
organisation der Armee ermöglichte:
Er brach mit den unverlässlichen Mik-
roloyalitäten innerhalb einzelner Ein-
heiten und schuf einen übergreifenden
Korpsgeist.Das Endprodukt nannte er
«GrandeArmée».
DieBritenfördertendazuauchroya-
listische Komplotte zur Ermordung
Napoleons. Das trug in gewisserWeise
zu seiner Kaiserkrönung am 2.Dezem-
ber 1804 bei: Die Angst, dass er umge-
brachtwerdenkönnte,dienteNapoleon
als Argument dafür, eine Dynastie zu
schaffen. Die drohende britischeLan-
dung in Italien sodann hatte zurFolge,
dasssichNapoleonam26.Mai1805zum
König von Italien krönen liess.


Flucht vomSchlachtfeld


Im September1805 fiel einösterr ei-
chisches Heer in Italien ein, während
ein anderes ins mitFrankreich verbün-
dete Bayern einmarschierte. Napoleon
nahm den schnellstenWeg, über querte
die Donau imRücken der Österreicher
und zwang sie am19.Oktober in Ulm
zur Kapitulation.Frische öster reichi-
sche Streitkräfte schlossen sich einem
starken russischenHeer in Mähren an,
ein weiteres österreichisches Heer be-
drohte Napoleons Südflanke von Nord-
italienher,wovereinigteanglo-russisch-
neapolitanische Kräfte ebenfalls gegen
ihn unterwegs waren.Auf der anderen
Seite machte sich Preussen bereit, die
Koalition zu unterstützen und ihn von
hinten anzugreifen. Und zu allem Übel
zerstörtendieBritenunterAdmiralNel-
son vor dem KapTrafalgar auch noch
die vereinten französischen und spani-
schen Flotten.
Wiederholt schlug Napoleon einen
Waffenstillstand vor, aber Zar Alexan-
der,derfestaneinenSiegglaubte,lehnte
dieAnträge schnöde ab.Am 2.Dezem-
ber brachteNapoleo n ihm inAusterlitz
eine vernichtende Niederlage bei; als
sichseinHeerzersetzte,musstederrus-
sischeHerrscher vom Schlachtfeld flie-
hen.Napoleon schlossrasch einenFrie-
den mit Österreich und eilte zurück
nach Paris, um eineFinanzkrise zu be-
wältigen. Sein BruderJoseph verfolgte
derweildieEngländer,RussenundNea-
politaner und eroberte dasKönigreich
von Neapel von den Bourbonen, die
ihrenAllianzvertragmit Frankreich ge-
brochenhatten.ImFrühling 1806began-
nen Friedensverhandlungen mitRuss-
land und England,und Napoleon küm-
merte sich wieder um denAufbau des
französischen Staates.
Die Verhandlungen liefen ins Leere,
und die Briten bezahltenRussland und
Preussen, auf dass sie eine neueKoali-
tion bildeten.Preussen überfiel im Sep-
tember Sachsen, einen französischen
Verbündeten, und ein russisches Heer
machtesich zur Unterstützungauf den
Weg. In einer brillanten Operation zer-
störten Napoleon und sein Marschall
Davout die preussische Armee inJena
und Auerstedt.Dann stellten sie die
Russen,schlugensieinEylauundFried-
land, und im Juni 1807 war der Zar ge-
zwungen,umFrieden zu ersuchen.


Das Verhängnis vonTilsit


Anstatt die Russen zu bestrafen,
streckte Napoleon die Hand aus, als
sich die zwei Kaiser inTilsit trafen – er
spannte Alexander als Bündnispartner
ein,mitdemZiel,dieBritendurcheinen
Handelskrieg zuFriedensverhandlun-
gen zu zwingen. Doch er hatte den fal-
schen Partner gewählt, dennRussland
teilte keine Interessen mitFrankreich,
und Alexander hegte eigene Ambitio-
nen.Zudemhatte Napoleonauchauf
die falscheWaffe gesetzt.Der Handels-
krieg, den die Briten durch eineVer-
ordnung vom16.Mai 1806 lanciert hat-
ten,sollteFrankreich nicht nur genauso
stark schädigen wie Grossbritannien.
VielmehrsolltedieDurchsetzungseiner
KontinentalsperreNapoleonauchinun-
gewollteAktionen verwickeln.
Die Blockade veranlasste ihn zum
Einmarsch in Spanien – die Iberische
Halbinsel sollte für denbritischen Han-
delnichtmehrzugänglichsein,dochdas
provoziertegewaltsameReaktionenund
Guerillakämpfe. Und als Napoleon sel-
ber anreiste, um britischeTruppen zu


vert reiben, nutzte Österreich die Ge-
legenheit für einen Angriff. Napoleon
musste Spanien verlassen, eine weitere
ArmeeaufstellenundsichmitdenÖster-
reichern auseinandersetzen.Er schlug
sie in einer Serie von Kämpfen, die am
6./ 7. Juli 1809 in der Schlacht beiWag-
ram gipfelten.Entsetzt über die schwe-
renVerlusteaufbeidenSeiten,stoppteer
dieKampfhandlungenundgewährteden
Österreichern einenWaffenstillstand.
ZwarverlangtederfranzösischeKai-
serim VertragvonWien,derim Oktober
unterzeichnetwurde,einenhohenPreis.
Aber als Napoleon im folgenden April
die ErzherzoginMarie-Louise heira-
tete,dieTochtervonKaiserFranzI.,war
der Friede zwischen den beiden Staa-
ten besiegelt. In einem Gedicht, das er
der neuen Kaiserin derFranzosen wid-
mete,nannteGoethesie«dieholde Frie-
densbraut». Und Napoleon war so ver-
narrt in seine jungeFrau, dass er seine
Geschäfte aussergewöhnlich lange ver-
nach lässigte und seineRückkehr nach

Sp anien hinauszögerte – dort hätte er
die anglo-spanischen Kräfte unterWel-
lingtonbekämpfenwollen.Anfang 1811
war es zu spät.

Desaster in Russland


Der Vertrag vonTilsit hatte Zar Alex-
ander in eine schwierige Situation ge-
bracht: Der Handelskrieg schadete der
russischenWirtschaft,und die russische
Öffentlichkeit missbilligte das Bünd-
nis mit denFranzosen.Er initiierte eine
Armeereform, und imFrühling 1811
hatteereinebeeindruckendeStreitkraft
zusam men, die zur Invasion vonPolen
und Deutschland bereitstand.Wäre
NapoleonnocheinmalnachSpanienge-
gangen, hätte Alexander ohne Gegen-
wehr Mitteleuropa einnehmenkönnen.
Als Napoleon durch eineVerschär-
fung der Blockade den Druck auf die
Briten erhöhte und vonRussland das-
selbe erwartete, tat Alexander das
Gegenteil und öffnete russische Häfen.
Dieser Verrat an der Allianz untergrub
Napoleons Strategie.
Das nächsteJahr über versuchte
er Russland zurück auf seine Seite zu
bringen, wobei er schliesslich auf Ein-
schüchterung setzte: Napoleon stellte
diegrössteArmeeauf,diedie Weltjege-
sehenhatte,undliesssieandieGrenzen
desrussischenReichesaufrücken.Alex-
ander verweigerte sich weiterhin, und
Napoleon sah im Sommer1812 keine
andere Option mehr, als ins Land ein-
zufallen.Da er den Krieg nicht gewollt
hatte und sein einziges Ziel darin be-
stand, Alexanderzurück in sein Bünd-
nis zu zwingen, geriet die Kampagne
zum Desaster.Wo er auf sie traf, schlug
Napoleon die russische Armee und
nahmMoskauein.DochAlexanderwar
zurÜberzeugunggelangt,dassGottihn
auserwählthatte,umEuropavonNapo-
leon zu befreien;er blieb hart.
Die Franzosen waren zumRückzug
gezwungen,und als sie die russische
Grenze wieder überschritten, war die
GrandeArméezerfallen.RussischeTrup-
pen strömten nach Deutschland. Zwar
fochtNapoleonmitBrillanzfürseindor-
tigesBündnissystem,aberseineArmeen
waren in der Unterzahl und wurden im
Oktober1813 in Leipzig besiegt.

Dramades Emporkömmlings


Napoleon hätte verschiedentlichFrie-
den schliessenkönnen – imVerlauf des
Jahres 1813 und sogar noch imFrühling
1814 , als Russland,Preussen,Österreich
und die neuen deutschen und schwedi-
schenVerbündeten mit vereintenKräf-
ten in Frankreichs Nordosten eindran-
gen und die englisch-spanischenTrup-
penimSüdwestenangriffen.Wiederholt
hatte ihn der österreichische Kanzler
Metternich gebeten, einem Frieden zu-
zustimmen, und auch seine eigene En-
tourage hatte ihn dazu aufgefordert.
Dass er nicht darauf einging, ist jedoch
keinZeichenfürseinenvermeintlichun-
stillbaren Kriegshunger.
Napoleon befürchtete, dass der Ge-
sichtsverlust, den einFrieden in di e-
sem Moment bedeutet hätte, seinen
Anspruch auf die Herrschaft inFrank-
reich untergrabenwürde. «Ihre Souve-
räne, die auf demThron geboren wur-
den, können sich zwanzigmal schlagen
lassen, und doch immer wieder in ihre
Hauptstädte zurückkehren ; ich kann
es nicht, denn ich bin ein Soldat und
Emporkömmling», teilte er Metternich
1813 mit.«Meine Herrschaft überlebt
denTagnicht,andemichaufhöre,stark
und somit gefürchtet zu sein.»
Schliesslich unterlag er derrein zah-
lenmässigen Übermacht und war am
11.April 1814 zurAbdankung gezwun-
gen. Das hätte das Ende dieser Ge-
schichte sein sollen. Im Exil , bloss noch
Herrscher über die kleine Insel Elba,
zeigtesichNapoleonerstaunlichschick-
salsergebenundsogarzufrieden.Erwid-
metesichseinerLieblingsbeschäftigung
und machte sich daran,Verwaltung und
Infrastruktur zu verbessern, dieWirt-
schaft zu entwickeln und rund um sei-
nen kleinen Hof eine neue Hierarchie
aufzubauen.DieGrenadiere,dieernach
Elba mitgenommen hatte, verbrachten
mehr Zeit mit Strassen- und Gartenbau
als mit militärischen Übungen.
Wenn man die ganze Geschichte so
Revue passieren lässt, darf man sich
du rchaus fragen, ob Napoleonwirk-
lich eine kriegerische Natur war. Bis
zum Frieden von Amiens (1803) hatte

er lediglich seine Soldatenpflicht für
sein Land erfüllt. Und diesenFrieden
beendete nicht er. Die Dritte Koali-
tion tat es,und zwar mit dem Ziel,die
FranzösischeRepublikzustürzen.Das-
selbe galt für dieVierte Koalition im
Jahr 1806/7.
Der Einfall in Spanien im Jahr
1808 gehorchte einer Notwendigkeit


  • Napoleon musste einen gescheiter-
    ten Staat an den Grenzen seinesLan-
    des sichern. Über das ganze18.Jahr-
    hunderthinweg war Spanien ein enger
    VerbündeterFrankreichs gewesen, ein
    Zweig des französischenKönigshauses
    regierte dasLand, somit folgte Napo-
    leon einerTradition,als er seinen Bru-
    derdortaufdenThronsetzte .Undkein
    französischer Herrscher hätte tolerie-
    ren können, dass Spanien unter briti-
    schen Einfluss geriet.
    Den nächsten Krieg, in den Napo-
    leon 1809 involviert war, hattendie
    Österreicher begonnen. Die Invasion
    Russlands imJahr 1812 war sein einzi-


ger offen aggressiver militärischer Akt
–wobeieinigerussischeHistorikerauch
den Standpunkt vertreten, dass Napo-
leon aus Selbstverteidigung handelte;
Mett ernich seinerseits prangerte das
«unverzeihlicheVerhalten derRussen»
an. Dieses war dieFolge des verfehl-
ten Bündnisses vonTilsit, das Russland
auf die Unterstützung des Handelskrie-
gesverpflichtete.DazukamAlexanders
Entschlossenheit, die tief empfundene
Erniedrigung zurächen – er wollte die
französische Dominanz in Deutschland
brechen und dafür die russische Ein-
flussnahme vergrössern.
Mit einem Friedensschluss hätte
Napoleon1813seinenThronrett enkön-
nen.Dochselbst jenseitsseinereigenen
UnsicherheitgabesstichhaltigeGründe
dagegen.Wie viele andere, vornehmlich
Polen, Deutsche und Österreicher, be-
fürchteteNapoleon,dassRusslandseine
EinflusszoneinMitteleuropaausdehnen
könnte. Und wie viele in Italien und in
derSchweizwollteerverhindern,dassdie
österreichischeVorherrschaft die italie-
nischeHalbinselunddieSchweizerKan-
tone erfasste. Über seinen Sturz waren
daher diverseParteien wenigglücklich.

Der geächtete Rückkehrer


Oft werden schliesslich Napoleons
Rückkeh rvon Elb aimJahr 1815 und
die letzte Schlacht beiWaterloo als Be-
legefürseinechronischeLustamKrieg
zitiert.Aberdazu taugen die beidenEr-
eignisse nicht.
Napoleon wusste, dass diealliier-
ten Kräfte ihn von seiner Insel entfer-
nen und ihn an einem entlegeneren Ort
einkerkernwollten.SeineFrauundsein
Kind hätten ihm nicht folgen dürfen.
Zud em trachteten ihmVertreter des
französischenBourbonen-Regimesnach
demLeben;sieweigertensich,den 1814
abgeschlossenenVertrag vonFontaine-
bleau einzuhalten.Das ihm eigentlich
zustehende Geld erhielt er nicht, bald
hä tte er seineWachen entlassen müs-
sen. Dann vernahm er,dass in Frank-
reich viele das Ende der Bourbonen-
Herrschaft ersehnten.
AlsernachPariskam , botNapoleon
an,die Bedingungenvon1814 zurespek-
tieren und auf alle früherenAnsprüche
zu verzichten. Die Alliierten gingen
nicht darauf ein und erklärten ihn zum
Geächteten (ein beispielloser Schritt!),
als sie ihreArmeen in Bewegung setz-
ten,um ihn zu stürzen.

Ambitionen aufallen Seiten


Napoleon hat das, was er als französi-
sche Interessen erachtete, auf aggres-
sive Weise vertreten, und es steht aus-
serFrage,dasserdamitzuTeilenfürdie
Feindseligkeitenverantwortlichwar,die
Europazwi schen1803und 1815 erschü t-
terten. Aber das gilt genauso für alle
anderen europäischen Herrscher mit
ihrenAmbitionen.
Österreich kämpfte um dieVor-
herrschaft über Italien und freute sich
über die Zerstückelung derRepublik
von Venedig und desKönigreichs von
Polen. Preussen, das sich in den voran-
gegangenen Jahrzehnten flächenmäs-
sig mehr als verdoppelt hatte, war be-
gierig, Polen, Hannover, Sachsen oder
jedes andereTerritorium einzunehmen.
Russland, das seine westliche Grenze
in den 50Jahren vor1812 um 600 Kilo-
meter verschoben hatte und dazu nach
Kalifornien und Alaska ausgriff, gierte
nach demBalkan und nach Malta. Und
Grossbritannien machtekein Hehl aus
seinemAnspruch,die Meere zu beherr-
schen – derweil es mit seinem Geld da-
fürsorgenwollte,dassaufdemeuropäi-
schen Festland keine Macht eine domi-
nante Stellung erlangte.
Esgab keineHeiligenunterdenRiva-
len.Alle Seiten brachen ständig dieRe-
geln,verhieltensichzuweilenrücksichts-
losundtratendieMoralmitFüssen.Aber
dieSiegerpflegenihreeigenenVergehen
unter einem Mantel zu kaschieren, den
sieausdenSündendesBesiegtenschnei-
dern.DieHistorikerabersolltensichda-
vor hüten, die Propaganda derVergan-
genheit wie Beweise zu behandeln.

Der amerikanisch-polnische HistorikerAdam
Zamoyskiist Autoreiner Geschichte des
Russla ndfeldzugs («1812»), er hat Napoleons
Stur z untersucht («18 15») und 2018 die Biogra-
fie «Napoleo n. Ein Leben» vorg elegt (alle beim
Verlag C. H. Beck). – Ausdem Englischen
übers etzt von cmd.

«Der Soldat
ohne Brot überlässt
sich Exzessen derWut,
bei denen man sich
schämen muss,
Mensch zu sein»,
stellte Napoleon
nach seinen ersten
Siegen fest.

Alle Seiten traten
die Moral mit Füssen.
Aber die Sieger
pflegen ihre eigenen
Vergehen unter
einem Mantel
zu kaschieren, den sie
aus den Sünden des
Besiegten schneidern.
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