Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

6INTERNATIONAL Samstag, 10. August 2019


Im Amsterda mer Rotlichtviertel

sollen die Vorhänge fallen

Die neue Bürgermeisterin will das Sexgewerbe und den Sextourismus eindämmen – doch die Prostitui erten wehren sich


NIKLAUS NUSPLIGER, AMSTERDAM


Es istFreitagabend kurz nach 23 Uhr.
Die Menschenmassen im Amsterdamer
Rotlichtviertel DeWallensind zu einem
Strom angeschwollen, der zäh den
Grachten entlang und durch die kleinen
Seitengassen fliesst. Cannabis-Schwaden
hängen in der Luft, Strassendealer ver-
kaufenPartydrogen, und die Neonlich-
ter der Stripklubs und Sexshops spiegeln
sich imWasser der Kanäle.Aus denBars
dröhnt pulsierende Musik, die sich mit
dem Gejohle torkelnder britischerTou-
risten vermischt.Das Rotlichtviertel in
unmittelbarer Nähe der Amsterdamer
Centraal Stationistein beliebtesReise-
ziel fürJunggesellenabende,die oft in
eines derTheater mit Live-Sex-Shows
führen. Berühmt ist DeWallen aber für
die Prostituierten, die inReizwäsche
hinterrot beleuchteten Glasfenstern sit-
zen und diePassanten verführerisch an-
lächeln.Freier scheinen auf der Strasse
allerdings in der Minderheit zu sein.Da-
für wimmelt es von Schaulustigen, die
einen Hauch von Unterwelt und Aben-
teuer suchen und die Sexarbeiterinnen
mit einer Mischung aus Neugier, Faszi-
nation undVerachtung beäugen.


Alkoholleichenvor der Haustür


Mit den wachsendenTouristenströme
ist in den letztenJahren auch die Zahl
der Besucher desRotlichtviertels explo-
diert – zum Leidwesen von Anwohnern
wie Gijs. «Das Quartier ist zum Zoo ver-
kommen», sagt der 47-jährige Universi-
tätsdozent, während erkopfschüttelnd
aus demFenster seinerWohnung auf
die Menschenmassen blickt. Dann führt
er durchsTr eppenhaus zum Hinterein-
gang, wo die Briefkästen von betrunke-
nenTouristen oft als Pissoir missbraucht
werden. «Die Besucher glauben, dass sie
in Amsterdam so richtig die Sauraus-
lassenkönnen», klagt er. Eines Morgens
fand Gijs direkt vor seiner Haustüre
eine im eigenen Urin liegende Alko-


holleiche vor. Und einesAbends wurde
er auf der Heimfahrt auf demRad von
einemTouristen angerempelt und be-
wusstlos geschlagen, ohne dass ihm je-
mand zu Hilfe geeilt wäre.Für Gijs ist
die Grenze des Erträglichenüberschrit-
ten, und er glaubt, dass dieFensterpro-
stitution der Ursprung allen Übels ist.
«Wären dieFrauen nicht so sichtbar,
zöge dies wenigerTouristen an.»
Greifbar ist der Ärger der Anwoh-
ner auch an einem Informationsanlass
zur Zukunft desRotlichtviertels, der an
einem lauen Sommerabend in einem
Schauspielhaus in einer ruhigeren Ecke
desQuartiers stattfindet. Eingeladen hat
die grüne BürgermeisterinFemke Hal-
sema, die seit einemJahr im Amt ist. Sie
hat jüngst mehrere Szenarien für die
Entwicklung desRotlichtviertels aus-
gearbeitet, die sie nun auf derTheater-
bühne präsentiert. Siereichen von der
Vorschrift, bei den rund 300 zugelasse-
nenFenstern für Prostituierte dieVor-
hänge zu ziehen, über die teilweiseVer-
lagerung des Gewerbes in andere Stadt-
teile bis hin zurVerbannung derFens-
terprostitution in diePeripherie.
Neben Anwohnern sitzen auch viele
Prostituierte und Bordellbetreiber im
prallgefüllten Saal, die Stimmungist
spannungsgeladen. Halsema betont,
dass noch nichts beschlossen sei und
dass die Bevölkerung über die Zukunft
desViertels mitentscheiden solle.Doch
rücktsie drei Ziele in denVordergrund,
die auf eineReduktion der Prostitution
und deren Sichtbarkeit hinauslaufen
dürften: Erstens soll die Belastung für
die Anwohner abnehmen. Zweitens soll
die Kriminalität zurückgehen, und drit-
tens soll diePosition der Sexarbeiterin-
nen verbessert werden.
Halsema weiss, dass die Prostituier-
ten das Quartier nicht verlassen wollen,
weshalb sie sich als deren Anwältin ge-
bärdet. Sie beklagt, dass die Sexarbeite-
rinnenvonPassanten belästigt, verspot-
tet und fotografiert würden. Zudem er-
öffneten das Internet und Smartphone-

Applikationen neue Möglichkeiten,
um ProstituierteundFreier auch ohne
Schaufenster zusammenzubringen. Die
Bürgermeisterin zitiert Zahlen, wonach
bis zu 80 Prozent aller Prostituierten in
den Niederlanden Opfer vonMenschen-
handel seien.Darauf ergreift eine trans-
sexuelle Prostituierte dasWort und ruft
donnernd in den Saal, dass gerade die
Sexarbeiterinnen desRotlichtviertels
freiwillig ihrer Arbeit nachgingen und
ihrkeinFall von Menschenhandel be-
kannt sei. Eine wortgewaltigeKolle-
gin fordert statt wenigerFenster mehr
Polizisten, um jeneTouristen zu bestra-
fen, die Prostituiertegegen ihrenWillen
fotografierten. UndeinBordellbetreiber
mit pomadigen Haaren ergänzt, den Be-
hörden gehe es nur darum,die Immobi-
lienpreise weiter in die Höhe zu treiben.

Welcher Feminismus?


Mit seinen schmucken Kanälen und
Backsteinhäusern gehört De Wallen
zu den schönsten und ältestenVierteln
Amsterdams. Ursprünglich trennte der
Fluss Amstel das Quartier vomRest
der Stadt.Wegen der isoliertenLage
in Hafennähe entwickelte sich DeWal-
len früh zu einem Zentrum für das Sex-
gewerbe. Mittendrin steht bis heute die
OudeKerk, die älteste Kirche der Stadt
aus dem 13.Jahrhundert. Gleich daneben
gewährtein InformationszentrumEin-
blicke in die Geschichte der Prostitution
in Amsterdam, die imLaufe derJahr-
hunderte einmal toleriert und einmal
geächtet wurde. Hinter einem Schreib-
tisch sitzt eine etwa 30-jährigeFrau, die
sich Fleur nennt und gerade zwei schüch-
ternenTouristen aus Osteuropa erklärt,
wie sie sich im Umgang mit Sexarbeite-
rinnen zu verhalten haben.
DieFensterprostitution kam in den
Niederlanden alsFolge der Legalisie-
rung von Bordellen imJahr 20 00 auf,
wobei die BehördenLizenzen mitAuf-
lagenvergaben, um das Sexgewerbe zu
kontrollieren.Rasch entwickelte sich

dasRotlichtviertel zumSymbol für die
Toleranz Amsterdams, wo Drogen und
Sexgewerbe mittenin der Stadt geduldet
und nicht in die Illegalität gedrängt wur-
den. Doch bald breiteten sich auch die
Begleiterscheinungen eines einschlägi-
ge nTourismus aus, den Amsterdam mit
seinem Image anzog. 2007 lancierte die
Stadt das nach derPostleitzahl von De
Wallen benannte Projekt 1012, welches
dasViertel beruhigen sollte. Rund die
Hälfte der Coffee-Shops und einVier-
tel derFenster wurden geschlossen. Die
Prostituierten gingen zu Hunderten auf
die Strasse, um für ihrenVerbleib im
Rotlichtviertel zu demonstrieren.
Fleur vom Informationszentrum be-
tont, dass das Projekt 1012 dieTouristen-
ströme nicht zureduzieren vermochte.
Dass sich die Fenster nun auf einige
Haupt- und Seitenstrassenkonzentrie-
ren, habe vielmehr zu einer Bündelung
der Besucherströme geführt.An die Stelle
von Bordellen und Coffee-Shops traten
nicht nur die von denPolitikern herbei-
gewünschtenTr endboutiquen und vega-
nenRestaurants, sondern auch Sex-Shops,
Schnellimbissbuden oder billige Souve-
nirläden. Fleur sieht die Pläne der neuen
Bürgermeisterin alsFortsetzung der Stra-
tegie, die Prostitution aus DeWallen zu
verbannen. «Es prallen zwei Richtungen
desFeminismus aufeinander», meint sie.
Die Bürgermeisterin sehe die Prostituier-
ten als potenzielle Opfer männlicher Ge-
walt undAusbeutung, während die Prosti-
tuierten dasRecht auf Selbstbestimmung
über deneigenenKörper geltend machten.

Legal und vergleichsweise sicher


Ähnlich sieht es die rumänische Sex-
arbeiterinFelicia, die an einem frühen
Abend zu einemRundgang durchsRot-
lichtviertel einlädt. Felicia ist eine klein-
gewachsene, fast zierliche Enddreissige-
rin, doch ihr forschesAuftreten lässtkei-
nen Zweifel daran,dass sie sich gegen
aufdringlicheFreier durchsetzen kann.
«Wir Prostituierte imRotlichtviertel sind

keine Opfer, sondern gehen stolz und
selbstbewusst einer Arbeit nach»,sagt sie
dezidiert.Felicia zog vor rund fünfzehn
Jahren aus ihrer Heimat genau deshalb
nach Amsterdam, weil sie ihr Gewerbe
in einem legalen Umfeld ausüben wollte.
Der Spaziergang zeigt, dass in DeWal-
lenFreier mit unterschiedlichenVorlie-
ben auf ihreKostenkommen: Es gibt
Zonen, in denen vornehmlichLatein-
amerikanerinnen in denFenstern sitzen,
und Strassen mitTr anssexuellen – männ-
liche Prostituierte hingegen sitzen nicht in
denFenstern. EineTagesmietekostet die
Sexarbeiterin rund 80 Euro, für die lukra-
tivere Nachtschicht werden zwischen 150
und 200 Euro fällig. Um einFenster mit
Hinterzimmer zu beziehen, muss eine
Prostituierte mindestens 21Jahre alt sein
und über eine Arbeitsbewilligung ver-
fügen. Zudem ist eineRegistrierung als
selbständig erwerbende Sexarbeiterin
nötig. Daein EU-Pass zur Arbeit in den
Niederlanden berechtigt, sind heute viele
Bulgarinnen, Ungarinnen und vor allem
Rumäninnen imRotlichtviertel tätig –
aus freien Stücken, wieFelicia betont.
Dass immer weniger Niederländerinnen
in denFenstern arbeiten, trägt bei man-
chen Anwohnern zum Gefühl eines allzu
rasantenWandels imViertelbei.
LautFelicia bringtdie Arbeit in den
Fenstern aus Sicht der Prostituierten
vieleVorteile mit sich. Anders als in ge-
schlossenen Bordellen oder der Stras-
senprostitution seien die Sexarbeite-
rinnen selbständig erwerbend und da-
her auch unabhängigvonZuhältern,
die eineKommission einstrichen.Wie
viel eine Prostituierte für eine Dienst-
leistung verlangt, istVerhandlungssache,
wobei im Milieu ein Mindestpreis von
50 Euro gilt. Zudem sei die Arbeit in
denFenstern sicher, sagtFelicia. Die
Sexarbeiterinnen stünden mit denFrei-
ern in direktem Sichtkontakt, und jedes
Zimmer sei mit einemAlarm ausgestat-
tet. Schliesse die Bürgermeisterin die
Fenster, dränge sie die Prostituierten in
die Illegalität, was die Sicherheit und die
Arbeitsbedingungen verschlechtere.
DieTouristen blicken durchs Schau-
fenster der weltweit ersten Condome-
ria,rauchen im ältesten Coffee-Shop
Amsterdams einenJoint oder stehen
Schlange beim Museum für Prostitution
in einem ehemaligen Bordell.Damit im
RotlichtviertelRuhe einkehrt, müsste
die Stadtnicht nur dieVorhänge an den
Fenstern der Bordelle ziehen, sondern
drastisch in die Gewerbefreiheit eingrei-
fen und gegen Sex-Shops, Stripklubs und
einschlägigeTheater vorgehen.

Wandel durchBilligreisen


Der 27-jährige Sam ist mit einer Gruppe
von Studienfreunden aus Südengland an-
gereist, um malwieder richtigParty zu
machen.Versteht er, dass viele Amster-
damer des Rummels überdrüssig sind?
«Die machen das dochgeschickt», ant-
wortet er lachend. «Siekonzentrieren Sex
und Drogen imRotlichtviertel und hal-
tenbritische Schwachköpfe wie uns aus
den anderenTeilen der Stadt fern.» Pros-
tituiertewollen die jungen Männernicht
aufsuchen, auch wenn sie von denFrauen
in denFenstern durchaus fasziniert sind.
Felicia bleibt an einer Strassenecke
stehen und zündet nachdenklich eine
Zigarette an.Das Geschäft habe sich
in den letztenJahren verschlechtert,
räumt sie ein. Billigflüge und Budget-
hotels lockten auch wenig zahlungskräf-
tigeTouristennach Amsterdam. Zudem
suchen immer mehrFreier online nach
Prostituierten. DochFelicia sträubt sich
dagegen, ihre Dienste im Internet anzu-
bieten. DaProstitution in den Nieder-
landen nur in lizenzierten Bordellen er-
laubt sei, sei Heimarbeitkeine legale Al-
ternative zurFensterprostitution.Felicia
ist entschlossen, dem Strukturwandel
im Sexgewerbe zu trotzen. Und sie wird
sich mit aller Kraft für denVerbleib in
DeWallen wehren, das längst zu ihrer
neuen Heimat geworden ist.

Eine Sexarbeiterin im AmsterdamerDe-Wallen-Viertel hältAusschau nachKunden. JASPER JUINEN / REDUX / LAIF

Free download pdf