Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

Samstag, 10. August 2019 MEDIEN 7


IN MEDIAS RAS


Keine


Sternstunde


von Tamedia


Rainer Stadler· Der«Tages-Anzeiger»
beschäftigte sich AnfangJuli mit der
Frage, warum Scheidungskinder den
Kontakt zu einem Elternteil abbrechen.
DieJournalistin schilderte einenkon-
kretenFall, wobei sie die Identität der
Betroffenen verschleierte, um deren Pri-
vatsphäre zu schützen. Allerdings lief
vieles schief.Die Mutter sah sich falsch
dargestellt und wandte sich an den
Ombudsmann der Zeitung. Erantwor-
tete ihramDienstag. Sein Schreiben be-
kam ich zur Einsicht. Es irritiert.
Der«Tages-Anzeiger» suggerierte,
derVater sei das Opfer; die Mutter habe
die Kinder ihm entfremdet, weshalb
diese ihnnicht mehr besuchen wollten.
DieJournalistin schrieb, sie habe vom
Vater alle Unterlagen erhalten, welche
denFall beträfen. Dem war nicht so.
Entsprechend schilderte sie die Situa-
tion einseitig.Aber nicht nur das. Einige
Informationen waren falsch.
Der Ombudsmann schreibt, es be-
stehe in derRegel zwischenJournalisten
und einem Informanten ein «ungeschrie-
benesVertrauensverhältnis». Beide Sei-
ten würden davon ausgehen, dass man
sich gegenseitig über die wesentlichen
Punkte informiere. Hierkommt ein selt-
sames publizistisches Selbstverständ-
nis zumAusdruck. EinJournalist muss
seiner Quelle gegenüber kritisch blei-
ben. Denn diese kann – absichtlich oder
nicht – eine Sachlage selektiv wahr-
nehmen und entsprechend einseitig
schildern.Für jedenJournalisten lau-
ert hier eineerhebliche Gefahr–gerade
dann, wenn eine Quelle glaubwürdig
wirkt, ist dieVersuchung gross, auf eine
Anhörung der Gegenseite zu verzichten.
Die «Tages-Anzeiger»-Journalistin
schickte der Mutter per E-MailFragen,
bekam aberkeine Antwort.Das krei-
det der Ombudsmann der Beschwerde-
führerin an.Das Schweigen der Mut-
ter ist verständlich. DieFrist zur Be-
antwortung derFragen war einerseits
viel zu kurz – dasräumt der Ombuds-
mann ein; anderseits war dasThema so
komplex wie persönlich. Es hatte be-
reits diverse behördliche Instanzen be-
schäftigt. ImFall einer Privatperson, die
keinerAuskunftspflicht untersteht, glich
dieses journalistischeVorgehen einem
Übergriff.
Der Ombudsmann schreibt ferner,
dieJournalistinkönne nichts für das
von der Mutter kritisierte Niveau der
Online-Kommentare.Wenn ein Me-
dium sein Publikum mit falschen In-
formationen irreführt, trägt es jedoch
eine Mitverantwortung für denTenor
der Leserkommentare.
Schliesslich wirft der Ombudsmann –
wie zuvor Chefredaktor ArthurRutis-
hauser – der Mutter vor, sie selber habe
Privates preisgegeben, weil sie ihre Sicht
nach der«Tages-Anzeiger»-Publikation
der «Schaffhauser AZ» offenlegte, die
dann darüber berichtete. Zwarkonnte
dieallgemeine Leserschaft des«Tages-
Anzeigers» die Identität der Betroffe-
nen nicht erkennen. DerVater drohte
jedoch in einer Mail an die Mutter, er
werde den«Tages-Anzeiger»-Artikel an
Kantonalpolitiker verschicken, womit
eine engere Öffentlichkeit vom angeb-
lichen Skandal erfahren hätte. Die Mut-
ter musste wegen ihrer beruflichen Stel-
lung um ihrenRuf fürchten, weshalb es
nachvollziehbar ist, dass sie sich an die
«AZ» wandte.
Der Mutter wurde inAussicht ge-
stellt, dass man gewillt sei, die offen-
sichtlichenFehler zukorrigieren.Rät-
selhaft bleibt, warum dies dieRedak-
tion mehr als einen Monat nach der
Publikation des Artikels nicht eigen-
ständig getan hat.Kurz und schlecht:
Das warkeine Sternstunde beiTamedia,
aufkeiner Stufe.

Ein streit barer Vermittler


Der Neurowissenschafter und Religionskritiker Sam Harris findet mit profunden Gesprächen ein Publikum


MARKUS SCHÄR


«Ich hatte, ehrlichgesagt,keine Ahnung,
was einPodcast ist», sagt Sam Harris zu-
letzt zuJoe Rogan. «Ich lernte es, als du
mich das erste Mal einludst.»
Ihren jüngsten gemeinsamenPod-
cast nahmen der Bestsellerautor und
der Stand-up-Komiker aus Los Ange-
les imFebruar diesesJahres auf.Das
dreistündige Gespräch über die Hyste-
rie der amerikanischen Gesellschaft, die
gerade die Social Media schüren, fand
seither allein aufYoutube7, 6 Millionen
Zuschauer.
Denn Sam Harris gilt seit dem ersten
Podcast mitJoe Rogan vor sechsJahren
selber als Medienphänomen. Seine Ge-


sp rächeunter Denkern, teilweise auch
an öffentlichen Anlässen, hört nach
eigener Schätzung jeweils eine Million
Fans. Und auf der Sponsoring-Website
Patreon stand er Ende 20 18 an15.Stelle,
als Einzelner unter viel aufwendiger
produziertenPodcasts,mit bis zu 11 000
Spendern, die durchschnittlich proFolge
2 Dollar 65 zahlten.
Dann stieg SamHarris im Streit beiPa-
treon aus. Er ruft jetzt seine Gefolgschaft
erfolgreich auf, ihn über seine eigene
Website zu unterstützen. Und er sagt den-
noch:«Ich würde mein Geschäftsmodell
niemandem sonst empfehlen.»
Der Einstieg mit dem«Waking Up»-
Podcast gelang 2013 nämlich nur, weil
Sam Harris da schon einenRuf als kan-
tiger öffentlicher Intellektueller genoss.
1967 als Sohn eines Schauspielers aus
einer Quäkerfamilie und einerTV-Pro-
duzentin mit jüdischer Abstammung ge-
boren, wuchs er in Los Angeles auf, ab
zwei Jahren aufgrund der Scheidung der
Eltern ohneVater.Als Student in Stan-
ford entdeckte er Ecstasy: «Ich machte
nackte Erfahrungen wie nie zuvor. Und
ich sah, dass es einen gewaltigen Unter-
schied gab zwischen dem, was ich fühlte,
und dem, was ich fühlenkonnte.»


Diese Erfahrung suchte er wieder,
ohne Drogen und auch ohne Mystik,
obwohlerdas Meditieren bei buddhis-
tischen und hinduistischen Lehrern in
Indien und Nepal lernte. Erst elfJahre
später, 1997, kehrte er nach Stanford zu-
rück, um sein Studium in Philosophie
abzuschliessen. Und gleich nach den
Attacken des 11.September 20 01 fing
er mit dem Buch an, das ihn berühmt
machen sollte:«T he End ofFaith:Reli-
gion,Terror, and theFuture ofReason».
Das Pamphlet kam 2004 auf die Best-
sellerlisten, vor anderen Abrechnun-
gen mit dem Glauben, die vom briti-
schen Biologen RichardDawkins, vom
englisch-amerikanischen Journalisten
Christopher Hitchens und vom ameri-
kanischen PhilosophenDaniel Dennett
stammten. Die vier «neuen Atheisten»,
wie sie die Medien nannten, obwohl sie
gemäss Sam Harris gar nichts anderes
sagten als die alten Atheisten, galten
fortan als «die vierReiter der Nichtapo-
kalypse».Sie trafen sich aber nur einmal
zum Gespräch, am 30. September 2007.
Das Tr anskript kam erst Anfang die-
sesJahres heraus – und der «Guardian»
fand darin, imWissen um den weiteren
Weg von Sam Harris, schon «die gefähr-
lichen Samen, die es im neuen Atheis-
mus immer gab».

Auf Wahrheitssuche


Denn der Denker scheute auch fortan
keineKontroverse mitRechtgläubigen
aller Art. Er schrieb 2006, nach den An-
griffen wegen des Buchs zum «Ende des
Glaubens», seinen «Letter to a Christian
Nation»; damit wollte er «die intellek-
tuelle und moralische Anmassung des
Christentums demolieren».
Sam Harris gab 2010 das Buch«T he
MoralLandscape: How Science Can
Determine Human Values» heraus,
nachdem er eine Dissertation inNeuro-
wissenschaften abgeschlossen hatte, für
dieer das Denken vonVersuchsperso-
nen beiwahren oder falschenAussa-
gen mit einemTomografen vermass.
Er stritt 2014 in derTalkshow «Real
Time with BillMaher» mit dem Schau-
spieler Ben Affleck, der ihn wegen sei-
ner Kritik am Islamismus alsRassisten
schmähte; dieVideos von diesem Dis-
put wurden bisher aufYoutube mehr
als 15 Millionen aufgerufen. Und er
setzte sich 2015 mit dem britischen Ex-
Islamisten Maajid Nawaz auseinander,

in einem Dialog über den Islam und die
Zukunft derToleranz.
AufWahrheitssuche geht Harris auch
mit seinemPodcast: streng mitrationalen
Argumenten, aber auch offen für emo-
tionale Intelligenz, streitbar für seine
Position und doch vermittelnd zwischen
denFronten. Der Denker zählt zwar, wie
der PsychologieprofessorJordanPeter-
sonoder derPolitkommentator BenSha-
pi ro, zum IntellectualDarkWeb, einem
lockeren Kreis intellektueller Nonkon-
formisten; doch er sieht sich selber als
Liberalen auf amerikanische Art. Er
kämpfte für Hillary Clinton und zieht
über DonaldTr ump her; aber er pikst
gerne in die Blasen der Gleichgesinnten,
wie ihren politischkorrekten Glaubens-
eifer und ihre bigotte Selbstgefälligkeit.
So bat er vor zweiJahren Charles
Murrayzum Gespräch. Der Publizistgilt
in den USA alsParia, seit er1994 mit
seinemBuch«T he BellCurve» von einer
genetischen Grundlage für die Intelli-
genz ausging, was dieWissenschaft jetzt
weitgehend bestätigt. Noch 20 17 hin-
derte ihn deshalb ein Mob an einem Col-
lege inVermont amReden. «Ich wusste,
dass auch ich wegen eines freundlichen
Gesprächs mitMurrayunter Beschuss
kommen würde», sagt Harris. «Aber ich
machte es gerade darum: Angesichts
der Bösartigkeit, mit der dieRechtgläu-
bigen über ihn herfallen – und derFeig-
heit, mit der ich ihm bis dahin auswich –,
fühlte icheinen moralischen Imperativ,
ihm beizustehen.»
Der Sturm brach denn auch über Sam
Harris herein.«Was bei Murrayvoll-
bracht und bei mir versuchtwurde,war
nicht weniger als der totaleRufmord, dies
wegendesVerbrechens, dass wir aufrich-
tig wissenschaftlicheDaten diskutier-
ten», sagt derPodcaster. Er wehrte sich,
indem er seinen Standpunkt ausführlich
darlegte, was er vor jederFolge macht.
Harris legte den Mailwechsel mit sei-
nem schärfsten Kritiker Ezra Klein vom
Online-MagazinVox offen und stimmte
schliesslich einem Gespräch zu. Und er litt
unter der Kritik auch seiner eigenenFans.
Danach gestand Harris, er habe die-
sen Sturm nur durchgestanden, weil er
täglich meditiere. Er kündet seither ge-
legentlich an, er gebe dasTwittern auf.
Und er wirft in seinenPodcasts immer
wieder dieFrage auf: «Wie findet je-
mand nach einem solchen Scherben-
gericht, also derVernichtung der sozia-
len Existenz, einenWeg zurück?»

Solche Erfahrungen prägen auch das
Geschäftsmodell seinesPodcasts. Sam
Harris verzichtet auf Sponsoring,im
Gegensatz zu seinemVorbildJoe Ro-
gan und anderen erfolgreichenKolle-
gen wie Malcolm Gladwell («Revisio-
nist History») oder StephenDubner
(«FreakonomicsRadio»), die ungeniert
die Spots selber sprechen. Denn nur
so bewahre er seine Unbefangenheit:
«Ich treffe häufig Medienleute, diesich
scheuen, öffentlich zu sagen, was sie zu
einemThema wirklich denken, weil sie
ihreJobs verlieren oder ihreSponsoren
vergrämenkönnten.»

Totale Unabhängigkeit


Und er vertraut auch nicht mehr den
Plattformen,aufdenenFans Kreative
mitregelmässigen Spenden unterstüt-
zenkönnen.AlsPatreon im Dezem-
ber 20 18 den britischenYoutuber Sar-
gon of Akkadrauswarf, zog sich, zu-
sammen mitJordanPeterson, auch Sam
Harris zurück. Er teile die Ansichten
des Antifeministen nicht, betonte er,
aber er wolle sich selber nichtderWill-
kür einer Plattform ausliefern, die mit
einer politischen Schlagseite über Mei-
nungen richte.
Stattdessen vertraut Sam Harris
seinem Publikum. «Wenn Ihnen die-
serPodcast etwas wert ist», sagt er am
Schluss jederFolge, «dannkönnen Sie
ihn unterstützen.» Dies vor allem mit
einer Spende via die persönlicheWeb-
sit e: Ein monatlicher Beitrag bietet den
privilegierten Zugang zu den «Ask me
anything»-Episoden und den Live-An-
lässen desPodcasters, vor allem aber
drückt ereinfachdieWertschätzung aus.
«Im digitalen Universum ist alles zu bil-
lig», sagt Sam Harris im Gespräch mit
Joe Rogan.«Wir sollten die Leute wie-
der darangewöhnen, dass sie bekom-
men, wofür sie bezahlen.»
Dabei gehe es aber nicht ums grosse
Geld, beteuert er. Zum Beweis gewährt
er den privilegierten Zugang auch Leu-
ten,die miteinem Mail bestätigen, dass
sie nichtsbezahlenkönnen. Das gilt selbst
für seine hochgelobte Meditations-App
«Waking Up»,die er seitHerbst 20 18 an-
bietet–weshalb er den Namen desPod-
casts zu «Making Sense» änderte. Die
Rechnung geht trotzdem auf für den
Denker zwischen denWelten.Aber eben:
Das Geschäftsmodell ist nur für wirklich
unabhängigeKöpfe zu empfehlen.

Sam Harris
Amerikanischer
PD Philosoph

Wiedas Lesen eines Buches kann auchdas Hören einesPodcastszue inemintellektuellen Erlebniswerden. STUART O’SULLIVAN/GETTY

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