Der Stern - 08.08.2019

(Ann) #1
Die Geschichte unserer Titelgeschichte beginnt
mit einer Gänsehaut: Mein Kollege Kester Schlenz
kam vor einigen Wochen zu mir und erzählte mir
voller Begeisterung und Leidenschaft von einem
Buch, das er gerade gelesen hatte. Es hat den
etwas sperrigen Titel „Unverfügbarkeit“ und
stammt von dem Soziologen Hartmut Rosa.
Das klingt noch nicht wirklich nach Gänsehaut.
Aber so wie Schlenz schwärmte, wie ihm dieses
Buch die Augen geöffnet habe, bekam ich ein Krib-
beln an den Armen und im Nacken.
Worum geht es? Im Kern und grob verkürzt um
die Frage, wann Sie zum letzten Mal eine Gänse-
haut gehabt haben. Niemand kann sie einfach so
„machen“, sie überkommt uns. Sie ist, einfach ge-
sagt, „unverfügbar“. Und deshalb, so Hartmut Rosa,
bringt sie uns in direkten Kontakt mit der Welt,
in Resonanz mit unserer Umgebung.
Die Gänsehaut begleitet uns durch unsere Evo-
lution. Ursprünglich war unsere Spezies deutlich
behaarter, und das Aufstellen der Haare sorgte für
ein wärmendes Luftpolster. Daher die Gänsehaut
bei Kälte. Bei Angst hat das aufgeplusterte Fell
unsere Urahnen größer erscheinen lassen, sodass
der Gegner eingeschüchtert werden sollte.
Und bei purem Glück? Man weiß es nicht genau,
doch um das Glück geht es Hartmut Rosa: Wir ha-
ben, so seine These, verlernt, uns wahrhaft berühren
zu lassen. Dabei steckt in uns allen die Sehnsucht,

D


von etwas „berührt und bewegt, ja, nennen wir es
ruhig ‚ergriffen‘“ zu werden, sagt Rosa im stern-
Interview (auf Seite 32). „Das kann Musik sein, das
können Begegnungen sein, Naturerlebnisse, Rei-
sen oder ein Buch. Es geht darum, dass wir uns
im übertragenen Sinne von etwas anrufen lassen
und dann auch ‚aufhören‘“, so Rosa. Aufhören mit
dem täglichen Trott, aber auch auf-hören, genau
hinhören, lauschen, wirken lassen. Einen Wow-
Moment genießen.
Ich habe es gerade wieder im Kino erlebt.
„Rocketman“ erzählt die Lebensgeschichte von
Elton John, und es gibt diese Szene, als sein Kum-
pel und Songschreiber Bernie Taupin ihm einen
Stapel Papier in die Hand drückt und sinngemäß
sagt: Diese Worte brauchen eine Melodie! Elton
setzt sich ans Klavier, liest die ersten Zeilen und
schlägt ein paar Akkorde an. Und sofort hört man,
wohin es geht: Wir erleben den Moment, in dem
„Your Song“ geboren wird. Ich bekomme jetzt noch
eine Gänsehaut. Für solche Momente lohnt es
sich, ins Kino zu gehen. Ein Buch zu lesen. Freun-
de zu treffen. Im Wald durchzuatmen. Oder ganz
einfach: Glück zu erleben.
Danke, dass Sie den stern lesen.

Am Dienstag dieser Woche war es so weit: Unser analoges Bildarchiv ist
in der Bayerischen Staatsbibliothek angekommen. Mehr als 15 Millionen
Bilder aus den Jahren 1948 bis 2001 in Form von Abzügen, Negativen und
Dias hat Gruner+Jahr, der Verlag des stern, den bayerischen Archivaren
übergeben. Die Sammlung gilt als visuelles Gedächtnis der Bundes-
republik und ist nun in München in besten Händen: Sie wird langfristig
gesichert, digitalisiert und später der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

15 Millionen Bilder in acht Lkws


stern-Fotograf Robert Lebeck
machte 1976 dieses
Porträt von Romy Schneider

8.8.2019 3

Florian Gless, Chefredakteur

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Herzlich Ihr

EDITORIAL

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