Der Stern - 08.08.2019

(Ann) #1

H


err Rosa, aus Ihren
Vorträgen und Büchern
spricht eine tiefe Sorge
um die seelische Ver-
fassung des modernen
westlichen Menschen.
Was beunruhigt Sie?
Dass in unserer Gesellschaft of-
fenbar fundamental etwas schief-
läuft. Es geht darum, wie Men-
schen sich zum Leben stellen.
Die Wut nimmt zu, sie richtet sich
gegen andere, aber irgendwie
auch gegen das Leben selbst, das
uns scheinbar nicht mehr gibt,
was wir uns von ihm versprochen
haben. Aggression als Reaktion
ist die eine Seite, psychische
Krankheiten wie Burnout und
Depressionen die andere.
Was quält uns aus Ihrer Sicht?
Ich habe dafür einen etwas
sperrigen Begriff geprägt:
Alltagsbewältigungs-Verzweif-
lungsmodus. Jeder kennt das:
Von morgens bis abends begeg-
net uns die Welt als Aggressions-
fläche, in der wir ständig Dinge
bewältigen und bearbeiten
müssen. Dies besorgen, das
erledigen, den anrufen, das weg-
schaffen. Das Leben als einzige,
ausufernde To-do-Liste. Das
geht schon morgens im Bad los.
Inwiefern?
Ich sehe in den Spiegel und
denke: Diese Falte müsste weg,
der Bauch auch, das Haar
sollte voller sein. Immer erhalte
ich die Botschaft: Tu was.
Aber ich sende sie mir ja selbst.
Das ist es ja gerade. Der Optimie-
rungswahn ist verinnerlicht.
Diese gefühlten To-do-Listen
schwellen in uns immer mehr an.
Die Zahl der Dinge, die wir
glauben tun zu müssen, wird
so groß, dass wir sie gar nicht
mehr bewältigen können, egal,
wie sehr uns der technische
Fortschritt scheinbar Zeit
verschafft. Und das zwingt uns
in eine Welthaltung, die ich
als Aggressionsverhältnis
bezeichne: Ich bin immer
unzufrieden und frustriert.
Es geht nicht mehr ums Wollen,
sondern nur noch ums Sollen.

„Es geht um ein neues


Genau. Man sollte pro Tag zehn-
tausend Schritte gehen. Man
sollte sich rechtzeitig um die
Altersversorgung, seine Fitness,
die alten Eltern, die Familie, die
Freunde, den Job, den tollen
Kindergeburtstag, die Beziehung,
den Garten oder die nächste
Feier kümmern. Jeder könnte
diese Liste beliebig verlängern.
Und fertig werden wir nie.
Was ist die Alternative?
Was wir ja tun, ist, Dinge zu
erledigen und zu optimieren.
Wir versuchen, möglichst viel
von der Welt unter Kontrolle zu
bringen. Das ist nicht per se
schlecht. Aber wir wünschen uns
offenbar etwas anderes. Es geht
um ein neues Gleichgewicht. Wir
haben eine tiefe Sehnsucht nach
einer anderen Art des In-der-
Welt-Seins, eine Sehnsucht nach
Resonanz. Und um die geht es.
Resonanz heißt ja in der Physik
so etwas wie Mitschwingen ...
Ja, das trifft es auch auf der
sozialen Ebene. Wir möchten von
etwas berührt und bewegt, ja,
nennen wir es ruhig „ergriffen“
werden. Das kann Musik sein,
das können Begegnungen sein,
Naturerlebnisse, Reisen oder ein
Buch. Es geht darum, dass wir uns
im übertragenen Sinne von etwas
anrufen lassen und dann auch
„aufhören“. Ich mag dieses Wort:
Wir halten inne und hören hin.
Aber die Menschen lesen ja,
gehen auf Konzerte, sie reisen,
begegnen einander.
Aber in welchem Modus? Es geht
darum, dass wir auch wirklich
innerlich auf das antworten,
was uns anruft. Dass wir eben
mitschwingen, uns einlassen
und selbstwirksam etwas oder
jemanden „da draußen“ zu errei-
chen vermögen. Das haben viele
verlernt. Wir müssen die Dinge in
uns wirken lassen und uns dann
von ihnen im besten Fall ver-
wandeln lassen. Man fühlt sich
nur lebendig, wenn man sich
berühren und verwandeln lässt.
Was meinen Sie mit verwandeln?
Dass das Erlebte etwas in uns
auslöst und uns positiv verändert:

aber nicht wirklich berührbar
machen. Denn das bedeutet,
sich auch verwundbar zu machen.
Jedes Risiko soll ausgeschlossen
werden. Wir nehmen unser
sicheres Zuhause mit in die
Welt. Aber so entsteht kein
Gefühl von Lebendigkeit.
Also raus mit dem Rucksack
und den Wanderstiefeln und
mitten rein in die Fremde?
Schon besser. Aber machen
wir uns nichts vor: Resonanz
kann nicht erzwungen werden.
Man kann sie nicht herstellen
und übrigens auch nicht kaufen.
Wir versuchen das immer,
aber es klappt meist nicht.
Warum nicht?
Weil wir so unser Resonanz-
begehren in ein Objektbegehren
verwandeln. Wir kaufen Kleidung,
schöne Autos, buchen eine
Safari, zahlen ein teures Konzert-
ticket. Wir denken: Ich habe
bezahlt, jetzt muss es toll werden.
Und sind dann oft enttäuscht.
Man kann das Berührtwerden
nicht erzwingen, nur erhoffen.
Wirkliche Resonanz ist

die Stimmung, Einstellungen,
Haltungen. Gibt es nicht auch
für Sie das Buch, das Ihr Leben
veränderte? Das Lied, das etwas
Neues in Ihnen zum Klingen
brachte und Ihnen neue Horizonte
eröffnete? Das Gespräch, das Sie
nachhaltig erfüllte?
Ja, aber das ist so selten.
Eben. Viele von uns machen ja
die Erfahrung, dass wir meist
dieselben bleiben, egal, wie viel
Welt wir in Reichweite bringen.
Nehmen Sie das Reisen: Immer
schneller wechseln die Ober-
flächen. Wir reisen hier- und
dorthin. Man sucht Exotik in der
Fremde und bleibt doch immer
derselbe, weil man sich fast
nie berühren und verwandeln
lässt. Manche schließen das
sogar systematisch aus.
Wie denn das?
Indem sie zum Beispiel Kreuz-
fahrten machen. Man bleibt da,
von kleinen Trips abgesehen,
eigentlich immer auf dem Schiff,
weil man mit dem Anderen nicht
wirklich in Kontakt treten möchte.
Man will es sehen, streifen, sich

32 8.8.2019
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