Der Stern - 08.08.2019

(Ann) #1
FOTO: ROGER HAGMANN/VISUM

„Es geht um ein neues Gleichgewicht“


Hartmut Rosa
ist Professor für
Soziologie an der
Universität Jena

Der Soziologe


Hartmut Rosa über


die Überforderung


der Menschen durch


ein Leben voller


To-do-Listen


unverfügbar. Das ist hier der
zentrale Begriff.
Den müssen Sie erläutern.
Unverfügbarkeit heißt, dass wir
nicht sagen können, wann und wo
die Resonanz eintritt. Und man
weiß nie, was dabei herauskommt.
Wirkliche Resonanzerlebnisse
sind grundsätzlich ergebnisoffen.
Aber genau diese Ergebnisoffen-
heit, eben das Unverfügbare, ist
für viele offenbar eine Zumutung.
Sich auf etwas einzulassen, ohne
zu wissen, was dabei heraus-
kommt, klingt für sie unvernünftig.
Man hat ja genug zu tun.
Heißt das nicht auch, dass
wir das Scheitern wieder mehr
zulassen müssen?
Absolut. Wer nur Dinge tut, von
denen er weiß, dass sie klappen,
verhindert ja gerade das
Unverfügbare.
Gehen wir mal ins Private.
Ist die Liebe nicht auch Unver-
fügbarkeit in Reinkultur?
Ja, schon im Hinblick auf das Ein-
treten dieses emotionalen Ereig-
nisses. Liebe ist nicht planbar.
Und wenn sie dann da ist, erfah-

beherrschen und vergiften sie.
Natur ist nutzbare Biomasse. Die
Folgen sind unter anderem der
Klimawandel und das Artenster-
ben. Und dennoch machen wir
weiter. Kaum ein Winkel der Welt,
der nicht durchforstet und nach
Verwertbarem durchkämmt wird.
Aber es stimmt: Das Unbehagen
darüber nimmt zu. Das Umdenken


  • oder besser Umfühlen – hat
    begonnen. „Zurück zur Natur“ ist
    ja nicht nur ein Slogan. Dahinter
    steckt ein tiefes Bedürfnis
    vieler Menschen, wieder mit dem
    Umgreifenden, dem Urgrund
    der Existenz, verbunden zu sein.
    Sie klingen jetzt wie ein
    idealistischer Philosoph.
    Sind Sie ein Romantiker?
    Ich bin ein großer Bewunderer
    der Aufklärung. Aber in der
    Epoche der Romantik wurde die
    Idee der schützenswerten Kind-
    heit geboren, wurden die Konzep-
    te der partnerschaftlichen Liebe
    und der Freundschaft formuliert,
    wurde der Natur und der Kunst
    ein Eigenwert zugesprochen.
    Wenn Sie diese Dinge meinen,


dann können Sie mich gern auch^
einen Romantiker nennen. Aber
das bedeutet nicht, dass man
blind werden darf für die Realität
sozialer Verhältnisse.
Ihre Analysen klingen sehr
einleuchtend. Aber was kann
ich als Einzelner tun? Ich kann
ja nicht ständig ergebnisoffen
durch den Wald wandern.
Sollten Sie aber mal. Natürlich
nicht ständig. Aber es wäre ein
Anfang. Ich bin Soziologe. Ich
schreibe keine Glücksratgeber
für Individuen. Ich forsche und
analysiere. Und ich will ja gerade
eben nicht alles dem Individuum
zumuten und rufen: Du musst
dein Leben ändern.
Sondern?
Natürlich können wir nicht
aufhören zu arbeiten und müssen
weiterhin Dinge erledigen.
Die Art und Weise, wie wir der
Welt begegnen, ist zu großen
Teilen institutionell vorbestimmt.
Am Arbeitsplatz, im Supermarkt,
beim Sport – überall begegnen
wir der Welt in diesem ständigen
Steigerungsmodus.
Dem wir nicht entfliehen
können.
Kommt darauf an. Eigentlich
hören wir den ganzen Tag über
kleine Resonanzappelle.
Wir antworten nur nicht. Man
kann sich trotz der Alltagsbe-
wältigung öffnen, neugierig sein,
ausgetretene Pfade verlassen,
Dinge auch mal geschehen
und sich treiben lassen. Eben
„aufhören“. Es sind die kleinen
Momente und Begegnungen, die
den Unterschied machen. Mit
dem Kollegen reden, statt eine
Mail zu schreiben, beim Konzert
das Handy in der Tasche lassen,
den Partner, die Kinder, die
Freunde wirklich wahrnehmen,
dem Obdachlosen auf der Straße
einen Blick schenken und
vielleicht auch einen Euro.
Schon habe ich einen kleinen
Resonanzmoment. Es gibt viele
kleine Spielräume, die wir
nutzen können, um nicht nur
zu funktionieren. 2
Interview: Kester Schlenz

ren wir in einer Liebesbeziehung
am deutlichsten, dass wir den an-
deren nicht vollständig verfügbar
machen können und dürfen. Das
muss ein dynamisches Wechsel-
verhältnis bleiben. Liebe kann
nur erfahren werden, wenn der
andere unverfügbar, aber erreich-
bar ist. Die totale Kontrolle über
den anderen wäre die pure Lan-
geweile, dann hätten wir eine Art
Liebesroboter. Wir können Liebe
nicht planen, sie nicht erzwingen
und sie auch nicht einseitig
halten. Wir müssen uns auf sie
einlassen. Mit allen Risiken.
Was suchen wir im anderen?
Antworten. Wir wollen uns ver-
standen und aufgehoben fühlen,
wir wollen angenommen werden
und uns bewegen, aber uns auch
durch das Fremde inspirieren las-
sen. Nicht nur von Menschen, auch
von Erlebnissen oder der Natur.
„Zurück zur Natur“ ist ja
gerade im Trend.
Bisher ist das vorherrschende
Verhältnis gegenüber der Natur
auf der Makroebene immer noch
ein aggressives. Wir verbrauchen,

8.8.2019 33
Free download pdf