Der Stern - 08.08.2019

(Ann) #1

Sie ruhen friedlich am Rande der Lichtung,


an jenem Ort, der einmal ihre kleine Fes‑


tung war, von der seit Monaten aber nur


noch das Fundament steht. Noch hat sich


die Sonne nicht über die Baumwipfel ge‑


schoben, die kühle Frühlingsluft lädt noch


nicht zum Verweilen draußen ein, als der


Angriff erfolgt. Spaten und Säcke führen


die Eindringlinge in der Hand. Als könn‑


ten die Fremden sie allein durch diese


Waffenschau in die Flucht schlagen. Doch


sie werden kämpfen, und seien die Kräfte‑


verhältnisse noch so ungleich verteilt.


Blitzschnell werden sie sich organisieren,

als synchronisiere eine leise Stimme ihr


Tun. Die Soldatinnen werden dem Gegner


Aber von vorn. 198 Einwohner zählt Kie‑
kebusch, rund 40 Kilometer südlich von
Berlin liegt das Örtchen und gehört zur Ge‑
meinde Schönefeld, mittlerweile bis ins
australische Outback weltberühmt für
ihren „bad airport“ BER. Wer die Auto‑
bahn in Waltersdorf verlässt und auf der
Landstraße gen Süden rollt, passiert ein
Naturschutzgebiet mit Erlenbrüchen und
einen Laubwald voller Eichen und Buchen.
Doch als Naherholungsgebiet begreift sich
Schönefeld nicht. Es will boomender Wirt‑
schaftsstandort sein. 200 Millionen Euro
betragen schon jetzt die Rücklagen der
reichsten Gemeinde Brandenburgs, längst
platzen die Straßen aus allen Nähten vor
Pendlern und Flughafenbesuchern.
Wer hinter der Wachstumsstrategie
steht, daran besteht für die Menschen
hier kein Zweifel: Seit 2003 regiert Dr. Udo
Haase als Bürgermeister und sagt über
jenes Projekt, das auf einem Acker Kieke‑
buschs bald entstehen und nicht nur

Säure entgegenschleudern, todesmutige
Kämpferinnen ihre Kiefer in die Haut der
Invasoren treiben.
Es wird keine Kapitulation geben.
Eine Ameise kapituliert nicht.
Nicht vor zwei Menschen.
Nicht vor einem Giganten wie Amazon.
Dies ist die Geschichte einer Zwangsmi‑
gration, wie sie in Wäldern, auf Wiesen und
in Straßengräben Jahr für Jahr zu erleben
ist. Doch nicht allein der Behauptungswil‑
le der kleinen Jäger und Sammler lässt sich
bei einer Exkursion mit der Ameisenum‑
siedlerin Christina Grätz erleben. Wer sie
begleitet, dem begegnen im Kleinen die
großen Fragen, die sich aus der gestörten
Beziehung von Mensch und Natur ergeben:
Wie viel Bodenversiegelung etwa kann sich
der Mensch angesichts von Klimawandel
und Artensterben eigentlich noch erlauben?
Und wo liegt die Grenze für einen vertret‑
baren Tribut der Natur, auf deren Kosten wir
unseren Turbokonsum aufrechterhalten?

Oben links:
Das Nest ist bis
auf die Wurzeln
ausgehoben und
verladen; oben rechts:
Ein Ring aus Zucker
soll den Tieren am
neuen Wohnort bei
der Eingewöhnung
Kraft spenden.
Unten links:
Die Umsiedler
Christina Grätz
und Markus Zaplata
verfrachten Tiere
und Streu in Säcke.
Unten rechts:
Grätz trägt die
kostbaren Säcke zum
Ort der Ansiedlung

S


92 8.8.2019

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