Der Stern - 08.08.2019

(Ann) #1

sieben Linden zu Fall, sondern auch sieben


Ameisenhaufen zum Umzug zwingen wird:


„Jeder Quadratmeter Gewerbe bedeutet


Einnahmen für uns.“


Dr. Haase dürfte nicht allzu lange ge-


zögert haben, als 2016 ein Investor mit


der Absicht auf den Plan trat, ein riesiges


Logistikzentrum in Kiekebusch zu errich-


ten. Einen prominenten Mieter hatte der


nämlich in seinem Schlepptau: Amazon.


Doch alles sollte streng geheim bleiben.


Keinen Tag früher als nötig sollten die


Kiekebuscher erfahren, dass hier bald ein


Sortierzentrum mit 34 000 Quadratmeter


Fläche stehen und bis zu tausend Lkws


täglich die Waren in alle Himmelsrichtun-


gen verteilen sollen.


Leicht durchzusetzen schien der Bebau-

ungsplan zunächst allerdings nicht. Die


Untere Naturschutzbehörde des Landkrei-


ses Dahme-Spreewald kritisierte den „nach-


haltigen Eingriff in die Schutzgüter Boden,


Arten und Landschaftsbild“, vor allem weil


es an ausreichenden Kompensations-


flächen für die ausgedehnten Versiegelun-


gen fehlte. Naturschützer pro testierten, weil


im Vergleich zu früheren Planungen die zu


schaffenden Ausgleichsflächen sogar noch


einmal deutlich reduziert worden waren.


Staat mit Hunderten Königinnen


So führte die Kahlrückige Waldameise


zunächst weiter ein friedliches Dasein. In


einem Hügel über einem toten Baum-


stumpf richtet sie es sich seit Äonen mit


einigen Tausend Artgenossinnen ein,


darunter Hunderte Königinnen, die Eier


legen. Diese werden dann als Larven und


Puppen von Brutpflegerinnen großge-


zogen. Die Arbeitsteilung wird ernst


genommen. Nicht umsonst sprechen Ex-


perten von einem Superorganismus, wenn


sie die unterschiedliche Rollen verteilung


im Ameisenstaat beschreiben.


Die kleinen Waldbewohner schätzen


eine stabile Holzunterkellerung, auf der


sie ihre typischen Ameisenkuppeln errich-


ten – aus allerlei Grünzeug wie Kiefern-


nadeln, zerbissenen Grashalmen, Steinen,


Erdkrümeln. Diese spenden Wärme wäh-


rend des Winterschlafs und Kühle im


Sommer. Von ihrem Basiscamp eilen die


Außendienstler unter ihnen dann hinaus,


um täglich bis zu 100 000 Beutetiere ins


Nest zu schleppen. Auf diese Weise däm-


men sie manche Schädlingsepidemie ein:


Zecken und Holzböcke dezimieren sie und


werden auf ihrem Weg durch den Wald


zum Kurier von Pflanzensamen und selbst
zur Nahrung für manchen Vogel.
Doch Dr. Haases Plan nahm rasch Kon-
turen an – und Ameisen dürften auf der
Prioritätenliste nicht allzu weit oben ge-
standen haben. Lieber sollten sie künftig
ihre guten Werke woanders verrichten,
und dann würde auf dem zu entsiegelnden
Kasernengelände Blankenfelde-Mahlow
ja noch ein Ausgleich geschaffen werden.
Es liegt zwölf Kilometer entfernt.
Der „Interkommunale Flächenpool“,
Dienstleister für Landkreise und Gemein-
den rund um den neuen Flughafen, sorgt
dafür, dass in Genehmigungsverfahren
kein Sand ins Getriebe kommt. Fast könn-
te man glauben, es handelte sich um eine
moderne Form des Ablasshandels, bei dem
sich Investoren wie Amazon ihrer Natur-

schutz-Pflichten andernorts ökologisch-
juristisch korrekt entledigen können: Ich
zahle die Entsiegelung deiner Kaserne und
werde mit der Baugenehmigung belohnt,
dem Ticket fürs große Geld.
Die Kontrolle der vereinbarten Maß-
nahmen zur Kompensation erfolge „stich-
punktartig“ und „anlassbezogen“, teilt die
Naturschutzbehörde auf Anfrage mit.
Zu Häufigkeit und Genauigkeit der Kon-
trollen will sie auch auf Nachfrage keine
Aussagen machen. Ein regelmäßiges Über-
wachungsprogramm existiert allerdings
nicht, so viel wird deutlich. Es fehlt an Res-
sourcen: „Diese Behörden sind über Jahre
kurzgehalten worden. Wenn die dann noch
einen Landrat über sich haben, der das Pro-
jekt will, wird es für den Einzelnen schnell
schwierig. In manchen Landkreisen findet

die Untere Naturschutzbehörde gar kein
Gehör mehr“, sagt ein Mitarbeiter, der um
seinen Job fürchtet, wenn er mit Namen in
der Zeitung auftaucht.
Manfred Braasch vom Bund für Umwelt
und Naturschutz Deutschland (BUND) in
Hamburg kritisiert auch deshalb, dass „die
Erfolgskontrolle ein Riesenproblem“ sei.
„Es gibt viel zu wenig Personal bei den
Naturschutzverbänden, aber vor allem in
der Naturschutzverwaltung. Ausgleichs-
möglichkeiten zu planen ist eine Sache,
aber funktioniert das auch? Der Ausgleich
muss eigentlich so lange gewährleistet
sein, wie der Eingriff andauert. Wenn ein
Gebäude also 100 Jahre steht – 100 Jahre.
Aber wer überprüft das wirklich?“
Nach einer jüngst durchgeführten Stu-
die der Behörde für Umwelt und Energie
in Hamburg wurde dort in zwölf Prozent
der Fälle der Ausgleich für Natur und
Landschaft überhaupt nicht umgesetzt.
Insgesamt sei ein Drittel des im Rahmen
von Baumaßnahmen vorgeschriebenen
Ausgleichs unzureichend.
Ein zu vernachlässigendes Delikt ist die
Missachtung von Umweltschutzauflagen
eigentlich nicht. Nach Anlage 1 der Bundes-
artenschutzverordnung zählt Formica
polyctena, wie die Kahlrückige Waldamei-
se zoologisch heißt, zu den geschützten
Tieren. Bis zu 50 000 Euro kann es kosten,
mutwillig den Hügel einer geschützten
Ameisenart dem Erdboden gleichzu-
machen: Es ist deshalb kein freiwilliger
Dienst an der Natur, der die Gemeinde
Schönefeld dazu bewog, Christina Grätz
zu rufen. Alle sieben Ameisennester galt
es für Frau Grätz zwischen April und Mai
im Zuge des Amazon-Projekts umzu-
setzen.
Biologie hat sie einmal studiert, Schwer-
punkt Botanik, nicht Zoologie. In der Lau-
sitz betreibt sie heute ein Unternehmen,
das sich der Renaturierung von Natur
verschrieben hat, etwa jenen Flächen, die
dem Braunkohletagebau zum Opfer ge-
fallen sind. Das mit den Ameisen war eher
Liebe auf den zweiten Blick. Ihr damaliger
Arbeitgeber nötigte sie sanft, an einer Um-
siedlung teilzunehmen. Rund 2000 sind
danach hinzugekommen, sie ist nun eine
sogenannte Ameisenumsiedlerin, wie jene
Ehrenämtler heißen, die bei Ameisen-
schutzwarten registriert sind. Heute könn-
te man glauben, die Tiere seien zur natürli-
chen Erweiterung ihrer Familie geworden,
so liebevoll spricht sie von ihnen. Sie hat

BIS ZU


50 000 EURO


STRAFE


ZAHLT,


WER EIN


AMEISEN NEST


MUTWILLIG


ZERSTÖRT


8.8.2019 93

4

Free download pdf