Mathias Schneider (l.)
bewundert seit Jahren
die Ameisenstraße, die sich
sogleich in der Ferienwohnung
bildet, sobald ein Stück Baguette auf dem
Tisch bleibt. Es fotografierte Philipp Spalek
Grätz nach längerem Überlegen ihr Han-
dy zücken, um ein Bild ihres Beins zu zei-
gen. Eine mächtige, schwer entzündete of-
fene Wunde ist dort oberhalb des Knöchels
zu sehen, groß wie ein Bierdeckel. Amei-
sensäure, ein Angriff bei einer früheren
Umsiedlung. „Das habe ich damals nicht
gleich ernst genommen, es tat zunächst gar
nicht so weh.“ Einem Tier, welches das
18-Fache des eigenen Körpergewichts be-
wegen kann, mangelt es nun einmal auch
chemisch nicht an Durchschlagskraft.
Bis heute glaubt Grätz, dass jene Amei-
sen ihr besonders feindlich gesinnt ent-
gegentreten, deren Nest sie bereits einmal
umgesiedelt hat. Als könnten sie Grätz
schon aus der Ferne am Geruch erkennen.
Der Stubben, jener tote Baumstumpf
mit seinem Wurzelwerk, ist nun freigelegt.
Noch immer versuchen Brutpflegerinnen,
die sich noch am Holz befinden, die Pup-
pen im Stubben zu vergraben. Sie lassen
ihre Koloniegenossen nicht zurück. Umso
vorsichtiger packt Grätz den Baumstumpf
in eine Decke, um die zahlreich herunter-
kullernden Puppen und Ameisen nicht zu
verletzen. In genauer Reihenfolge werden
Erde und Streu in Papiersäcken auf den An-
hänger verladen. Erst wenn in der Erde kei-
ne weiteren Gänge zutage gefördert wer-
den, gilt die Aushebung als abgeschlossen.
Zurückkehren wird Christina Grätz in je-
dem Fall. Sie weiß um die Loyalität der Tie-
re: Sie hat schon Ameisenstraßen über 500
Meter quer durch den Wald zum alten Nest
entdeckt, auf denen Arbeiterinnen von grö-
ßeren Tieren geschleppt wurden, da die Ent-
fernung zu weit gewesen wäre, um selbst hi-
nüberzukrabbeln. Keine Pause macht Grätz,
nachdem ihre kostbare Fracht verstaut ist.
Wo bei Amazon die exakt getaktete Zeit
Geld bedeutet, ist bei ihr Zeit Leben. Die Tie-
re sollen schnell samt der wenigen verblie-
benen Streu wieder den Waldboden spüren.
Nach rund zwei Kilometern querfeldein
hält ihr SUV unvermittelt am Rande eines
Waldwegs. Grätz läuft ein paar Meter nach
rechts, dann ein paar Meter nach links.
Licht, der richtige Untergrund, ein ruhiges
Plätzchen, alles will bei der Erschließung
des neuen Wohnorts bedacht sein in
Sachen Logistik. Grätzʼ Job unterscheidet
sich zumindest in dieser Hinsicht nicht
von der Quartierwahl eines E-Commerce-
Giganten. Es sei am Ende auch eine Frage
der Erfahrung und des Gefühls. Sie habe
schon Nester gegen das eigene Empfinden
20 Meter entfernt vom als perfekt identi-
fizierten Platz angesiedelt, um sie nicht zu
dicht an einer Straße zu platzieren. „Und
als ich eine Woche später wiederkam, war
das gesamte Nest an die Stelle umgezogen,
die ich ursprünglich ausersehen hatte.“
Vorsichtig breiten Grätz und Zaplata die
Decke mit dem Haupthaus – dem Stubben
- auf dem Waldboden aus. Dann beginnt
Grätz auch schon eine Mulde zu graben, in
die kurz darauf einem Puzzle gleich ein
großer sowie ein kleinerer Stubben einge-
passt werden. Vorsichtig wird die wenige
von der Fräse zurückgelassene Neststreu
um die Wurzel herumdrapiert, alles nicht
zu dicht, um die Luftzirkulation nicht zu
behindern. Als baute eine Zoowärterin ein
neues Kleintiergehege. Zum Schluss leert
Grätz den verbliebenen kostbaren Inhalt
aus der Decke über das Nest und umschließt
das neue Heim mit einem weißen Ring aus
Zucker, ein Lunchpaket für die ersten Tage,
wenn das Hauptaugenmerk noch der In-
nenarchitektur des Nestes gilt – und wohl
auch Nervennahrung.
Eine Woche später wird man eine Whats-
app von Christina Grätz erhalten. Sie wird
ein Foto zeigen, auf dem ein Hügel, schwarz
vor Ameisen, zu sehen ist, versehen mit der
frohen Kunde: „‚Unserem‘ angesiedelten
Nest geht es gut.“
Auf der Baustelle jenes Ortes, an dem
schon in wenigen Monaten ein komplet-
tes Logistikzentrum stehen wird, verrich-
ten derweil Lastwagen, Kräne und Bagger
ihr Werk, das Geschäft mit dem Online-
handel boomt, aber auf wessen Kosten?
Allein die Retouren von Onlinekunden
erzeugten im Jahr 2018 238 000 Tonnen
CO 2. Es bleibt somit die Frage, zu welchem
Preis das Wirtschaftswachstum in Kieke-
busch erfolgt – und wer davon wirklich
profitiert. Die Natur ist es nicht.
„Wir müssen die Auswirkungen auf den
Klimawandel stärker in die Debatte um
eine Zulassung miteinbeziehen. Im Mo-
ment ist dies noch überhaupt nicht der
Fall“, warnt der BUND-Mann Braasch.
In Berlin soll derzeit ein Gesamtkonzept
bezüglich der Flächennutzung für den
Großraum um den Flughafen BER aus-
gearbeitet werden. „Aber wir können na-
türlich auch nichts machen, wenn in der
Zwischenzeit schon wieder vier Bürger-
meister sich ihren Gewerbepark genehmigt
haben“, sagt eine Insiderin, die selbst an den
Genehmigungsverfahren beteiligt ist.
In den vergangenen 25 Jahren dehnten
sich Siedlungs- und Verkehrsflächen in
Deutschland um rund 9000 Quadratkilo-
meter auf insgesamt knapp 50 000 aus, ein
Plus von 22,8 Prozent. Im Schnitt wurden
täglich zuletzt etwa 58 Hektar Boden in
Nutzflächen verwandelt. Immer tiefer
frisst sich der Mensch in die Natur, allen
Warnungen vor Artensterben und Klima-
wandel zum Trotz.
Die Sonne ist bereits hinter den Bäu-
men verschwunden, als man rund 500
Meter entfernt von der Amazon-Baustel-
le schließlich eines jener Nester findet,
die Christina Grätz für die Gemeinde
bereits umgesiedelt hat. Hektisches Trei-
ben. Mit ein bisschen Fantasie könnte
man glauben, die Tiere beobachteten
ihren neuen Konkurrenten um den Le-
bensraum.
Es wird auch darum gehen, wer in den
nächsten Jahren den längeren Atem hat
im Fall Amazon versus Kahlrückige
Waldameise. Zumindest die Evolution
haben die Kleinen auf ihrer Seite. Amazons
Gründung: vor 24 Jahren. Die Ameisen
bevölkern dagegen seit über 100 Millionen
Jahren den Planeten Erde.
Die Schlacht um Kiekebusch mag ver-
loren sein. Geschlagen sind sie noch lange
nicht. 2
58 HEKTAR
BODEN
WERDEN
TÄGLICH
IN DEUTSCH
LAND IN
NUTZFLÄCHE
UMG E
WA NDELT
96 8.8.2019