Der Stern - 08.08.2019

(Ann) #1

N


eulich bekam ich eine Mail von
einer Frau. Sie habe mich mal vor
einigen Jahren kontaktiert und
melde sich jetzt wieder, weil sie
inzwischen die Lösung für ein
bestimmtes Problem gefunden
habe – das allerdings schon damals nur
ihres war und nicht meines. Glaube ich
jedenfalls. Denn weder erin­
nere ich mich an das Problem
noch daran, überhaupt je von
ihr gehört zu haben. Die aktu­
elle Mail kam also für mich aus
heiterem Himmel und hätte
reziprok eine ebenfalls mehr­
jährige Reaktionsfrist verdient.
Trotzdem antwortete ich um­
gehend. Natürlich. Wie man
das so tut in diesen Zeiten.
Sofortiges Antworten gilt in
diesen Zeiten als wichtigster
Akt der Höflichkeit, im Knigge
des 21. Jahrhunderts steht das
wahrscheinlich noch vor „nicht
auf die Straße rotzen“ und
„nicht auf Leute schießen“.
Wenngleich es verschiedene
Stufen von „sofort“ gibt, abhän­
gig vom Kommunikations­
kanal. Beim Chatten: zackig
antworten, innerhalb einer Mi­
nute. Wenn man nicht schnell
genug reagieren kann, weil ge­
rade was Wichtigeres passiert
(ein anderer Chat, die Geburt
des ersten Kindes, die Demas­
kierung des Astronauten beim
„Masked Singer“): zumindest
Mitteilung machen mit Bitte
um Geduld.
Etwas weniger sofort darf
man bei Messengerdiensten,
SMS und Whatsapp antworten,
wobei die Definition von „sofort“ hier
vom Grad der Intimität abhängt. Aktuelle
Liebesbeziehung oder eine, die es wer­
den könnte/allerbeste Freundin mit Lie­
bes­ oder Jobkummer/Waschmaschinen­
monteur mit Terminvorschlag: sofort.
Verwandte ersten Grades/gute Kumpel/
direkte Vorgesetzte: plus/minus zwei
Stunden. Alle anderen: Bis Mitternacht,
andernfalls ist die Kommunikations­

Kühlkette unterbrochen und die Nachricht
verschimmelt.
Für E­Mails gilt: innerhalb von 24 Stun­
den. Eine Freundin (kein Liebes­ oder
Jobkummer) hakte gestern per Mail beun­
ruhigt nach, weil ich nach fünf Stunden
noch nicht auf ihre SMS reagiert hatte.
Es ist also kompliziert, wie immer im
Fall menschlicher Kommunikation. Und
warum sollte es digital auch einfacher sein

als in einem Vier­Augen­Gespräch? Das
Problem an der Sache ist natürlich, dass
man heute nie nur ein einziges, sondern
meist Dutzende von Vier­Augen­Gesprä­
chen gleichzeitig führt. Man jongliert mit
mehreren Konversationen unterschied­
licher Dringlichkeit, hat also Dutzende von
Bällen diverser Größe und Fluggeschwin­
digkeit in der Luft. Klar, dass
einige davon zu Boden fallen
und unauffindbar ins Gebüsch
rollen. Aus nahezu jedem zwei­
ten „Das beantworte ich später“
wird so ein „Shit, ich wollte ja
schon längst ...“ Diese in der
Geschichte der Menschheit
blutjunge Form von Multi­
kommunikation sorgt in Ver­
bindung mit dem Horrorwort
„zeitnah“ für das ungute Ge­
fühl, ständig am Fuße eines
Gebirgsmassiv namens Bring­
schuld zu stehen.
Was tun? Druck rausnehmen
und (noch so’n Horrorwort)
Erwartungsmanagement be­
treiben. Alle wissen lassen, dass
man nur einmal am Tag die Mail
checkt und zweimal täglich
SMS (ob’s stimmt oder nicht).
Push­Mitteilungen ausschal­
ten. Blaue Häkchen und ande­
re Formen von Lesebestätigung
ausschalten: Niemand muss
wissen, ob man die Nachricht
schon erhalten hat oder nicht.
Und nicht zuletzt: die ei­
genen Erwartungen auf eine
Antwort radikal runterschrau­
ben. Ich stelle mir inzwischen
jede verschickte SMS wie ein
kleines Papierröllchen vor,
geknotet ans Bein einer alters­
schwachen Brieftaube. Oder, was zeitlich
etwa dasselbe bedeutet: versenkt in einen
Briefkasten der Deutschen Post bei ein­
maliger Leerung pro Tag. Jede Antwort
ist dann eine schöne Überraschung. 2

Wie schnell ist eine Whatsapp von der besten


Freundin zu beantworten? Wie schnell eine Mail


vom Chef? Oder eine SMS vom Klempner?


Nachrichten-Knigge


98 8.8.2019

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Die Bestsellerautorin Meike Winnemuth („Das große Los“, „Um es kurz zu machen“) schreibt alle zwei Wochen im stern

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ILLUSTRATION: TINA BERNING/STERN; FOTO: DAVID MAUPILÉ
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