Die Welt - 16.08.2019

(Brent) #1

E


rsoll etwa zwölf Jahre alt
gewesen sein und in der Ge-
gend von Orléans als Hirte
gearbeitet haben. Da sei
ihm Christus erschienen
und habe ihm einen Brief mit der Auf-
forderung überreicht, das Böse zu be-
kämpfen, dem sich die Erwachsenen
nicht stellen würden. Auch Philipp II.
von Frankreich machte da keine Aus-
nahme. Als Stephan, der Hirte, an ei-
nem Maitag des Jahres 1212 vor ihm in
Saint-Denis erschien und seine Mah-
nungen vortrug, schickte dieser ihn
fort. Doch Stephan ließ sich davon
nicht beeindrucken. Er begann zu pre-
digen. Und Zehntausende Altersgenos-
sen schlossen sich ihm an.

VON BERTHOLD SEEWALD

Wenn jetzt die schwedische Klimaak-
tivistin Greta Thunberg publikums-
wirksam per Boot zum Klimagipfel nach
New York startet, mögen historische
Assoziationen aufflackern. Damals wie
heute wollen Kinder ein lautstarkes
Vorbild für die Rettung der Welt bieten,
der sich die Erwachsenen verweigern.
Damals wie heute finden Kinder in einer
Massenbewegung zusammen und be-
schämen damit die Zeitgenossen. Da-
mals wie heute wird der Weg über das
Meer zum Symbol für ein Unterneh-
men, das die Billigung allerhöchster Au-
toritäten genießt.
Doch damit sollten die Denkspiele en-
den, bieten doch die Zeugnisse des soge-
nannten Kinderkreuzzuges ein geradezu
diffuses Bild von den Ereignissen und Be-
weggründen des Jahres 1212. Der Theolo-
ge Ulrich Gäbler kam gar zu dem Schluss,
dass viele Berichte „unhistorisch“ seien
und es sich allenfalls um eine „Jerusalem-
wallfahrt“ gehandelt haben dürfte.
Gleichwohl wird Stephan und seinen
Anhängern ein wichtiges Kapitel in der
Geschichte der Kreuzzüge gewidmet.
Danach zog der charismatische Hirten-
junge durch Nordfrankreich und schlug
zahlreiche Zuhörer in seinen Bann. En-
de Juni 1212 zählten staunende Zeitge-
nossen 30.000 Kinder, von denen nicht
eines älter als zwölf Jahre gewesen sein
soll, die sich in Vendôme an der Loire
versammelten.
Die meisten waren „einfache Bauern-
kinder, deren Eltern sie in vielen Fällen
willig hatten auf ihre große Mission zie-
hen lassen“, schreibt der britische His-
toriker Steven Runciman in seiner gro-
ßen „Geschichte der Kreuzzüge“. „Aber
es waren auch Knaben edlen Geblüts
darunter, die sich von daheim wegge-
stohlen hatten.“
„Freundlich gesinnte Priester“, so
Runciman, erteilten den Kindern ihren
Segen, dann brach das Heer auf. Ste-
phan soll auf einem bunt geschmückten
Karren und unter einem Baldachin vor
der stechenden Sonne geschützt geses-
sen haben, flankiert von adligen Anhän-
gern, die sich ein Pferd leisten konnten.
Die übrigen schleppten sich zu Fuß vor-
wärts in der Hoffnung, ihren Hunger
mit milden Gaben stillen zu können,
denn eine vorausschauende Organisati-
on wie heutzutage üblich gab es nicht.
Viele erlagen den Strapazen.
Man hat das ganze Unternehmen als
pralles Beispiel für die glühende Begeis-
terung gedeutet, die der Kreuzzugsge-
danke nach wie vor entfachen konnte.
Nach der vernichtenden Niederlage der
Kreuzfahrer gegen Sultan Saladin bei
Hattin 1187 und dem Fall von Jerusalem
hatten die Päpste die Christenheit wie-
derholt zu weiteren Zügen ins Heilige
Land aufgerufen. Doch der Dritte
Kreuzzug erschöpfte sich in der Erobe-
rung von Akkon, der Vierte begnügte
sich sogar damit, mit Konstantinopel
die Hauptstadt des christlichen Byzanz
auszuplündern.
Wie sehr die Zeitgenossen glaubten,
mit der Annahme des Kreuzes Gott na-
he zu kommen, zeigt ein weiterer Kin-
derkreuzzug, der sich weiter östlich,
am Mittelrhein, formierte. Ungefähr
zur gleichen Zeit, als Stephan in Frank-
reich für seinen Zug warb, trat in Köln
ein Junge mit Namen Nikolaus auf. Sei-
ne Verheißung, sie würden „Jerusalem
befreien, weil wir reinen Herzens
sind“, führte ihm zahlreiche jugendli-
che Anhänger zu. Vielleicht 7000 Jun-
gen und Mädchen, aber auch Männer
und Frauen machten sich bald darauf
nach Italien auf, darunter eine größere
Gruppe mit adligem Hintergrund „so-
wie eine Anzahl verrufener Landstrei-
cher und käuflicher Weiber“, schreibt
Runciman.
Sicher ist, dass das von Stephan an-
geführte Heer zunächst durch die Île-

Sicher ist, dass das von Stephan an-
geführte Heer zunächst durch die Île-

Sicher ist, dass das von Stephan an-


de-France zog, bis es schließlich von
König Philipp zerstreut wurde. Nach
einer anderen Überlieferung aber
schlug Stephan den Weg nach Mar-
seille ein, um von dort direkt nach Je-
rusalem zu ziehen. Denn ihr Führer
hatte den Kindern prophezeit, dass
sich das Meer teilen werde, wie es sich
einst für Mose und die Israeliten zu-
rückgezogen hatte.

Die gleiche Botschaft wird von Niko-
laus berichtet. Auch er habe seinen An-
hängern versichert, dass Christus „die
Wogen des Meeres teilen“ werde. „Wir
werden trockenen Fußes die heilige
Stadt erreichen. Und es wird euch an
nichts fehlen, denn Gott unser Vater ist
mit uns.“
Doch weder Stephans noch Nikolaus’
Voraussagen sollten sich bewahrheiten.
Das Meer blieb ungeteilt, und die jun-
gen Kreuzfahrer befielen Zweifel und
Schwermut. Manche von den deutschen
sollen bis nach Rom weitergezogen
sein, wo sie von Papst Innozenz III.
vom Kreuzzugsgelübte gelöst wurden.
„Diese Kinder beschämen uns“, zitiert
ein Chronist den Oberhirten der Chris-
tenheit, „denn während sie zur Rückge-
winnung des Heiligen Landes eilen,
schlafen wir.“
Anderen Kreuzfahrern, die mit Niko-
laus losgezogen waren, erging es
schlechter. Sie endeten in Knechtschaft
und Sklaverei, viele starben, nur wenige
kehrten zurück. Nikolaus’ Vater, dem
vorgeworfen wurde, seinen Sohn aus

Ruhmsucht ermuntert zu haben, endete
am Galgen.
Stephans Anhänger sollen ein noch
übleres Schicksal als die Deutschen er-
litten haben soll. Wie der Chronist Al-
berich von Trois-Fontaines berichtet,
wurden sie von zwei Kaufleuten, Hugo
dem Eisernen und Wilhelm dem
Schwein, eingeladen, ihre Schiffe für die
Weiterfahrt zu benutzen. Dann hörte
man nichts mehr von ihnen. Erst 18 Jah-
re später konnte ein geflohener Kleriker
ihre Geschichte erzählen:
Einige Schiffe seien bald in einem
Sturm untergegangen. Die übrigen hät-
ten muslimische Piraten – in Absprache
mit den Kaufleuten, die sich als Skla-
venhändler entpuppten – geentert. Die
Kinder wurden nach Afrika verkauft,
400 nach Ägypten, wo Franken bessere
Preise erzielten. Einige gelangten bis
auf den Sklavenmarkt von Bagdad, wo 18
schließlich den Märtyrertod erlitten ha-
ben sollen.
Die Glaubwürdigkeit von Alberichs
Bericht ist in der Forschung umstritten
und hängt wohl auch mit der Bereit-

schaft eines Autors zusammen, die pral-
le Geschichte zum Besten geben zu wol-
len. Einigermaßen sicher ist, dass beide
Kinderkreuzzüge (die vom Papst im Üb-
rigen nicht autorisiert worden waren)
im Kern regionale Wallfahrten waren, in
denen sich durchaus die Vision eines
zurückgewonnenen Jerusalem artiku-
lieren konnte.
Der Theologe Ulrich Gäbler hat darin
einen Widerschein der kriegerischen
Stimmung gesehen, die zwei Ereignisse
im Südwesten Europas hervorgerufen
hatten. So war 1211 ein muslimisches
Heer von Marokko aus in Spanien ge-
landet und hatte weite Gebiete des Lan-
des erobert. Zugleich trieb der Konflikt
mit den von der Kurie als Ketzer verur-
teilten Katharern in Südwestfrankreich
auf seinen Höhepunkt zu. Gegen beide
Gegner hatte Innozenz III. zu Kreuzzü-
gen aufgerufen, die durch zahlreiche
Prozessionen unterstützt werden soll-
ten. Das Eintreten für die christliche Sa-
che hätte durchaus in eine Jerusalem-
wallfahrt umgeformt werden können,
schreibt Gäbler.

Christus werde „die Wogen des Meeres teilen“, sodass „wir trockenen Fußes die heilige Stadt erreichen“, versprach Nikolaus seinen Anhängern. Er sollte sich irren


PA/ IMAGEBROKER

/ BAO

„„„Wir werden die WeltWir werden die Welt


RETTEN“


Mit dem Boot segelt


Greta Thunberg


zum Klimagipfel.


Die Jugendliche will


ein Vorbild sein. Die


Massenbewegung


junger Menschen,


die sie ausgelöst


hat, erinnert an den


Kreuzzug, mit dem


Kinder 1212 die Welt


beschämten, weil


sie das Heilige Land


befreien wollten


8


16.08.19 Freitag, 16. August 2019DWBE-HP



  • :----Zeit:Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: ---Zeit:---Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe:
    Belichter: Farbe:Belichter: Farbe:Belichter:


DW_DirDW_DirDW_Dir/DW/DW/DW/DW/DWBE-HP/DWBE-HP
16.08.1916.08.1916.08.19/1/1/1/1/Pol5/Pol5 DSCHWENK 5% 25% 50% 75% 95%

8 POLITIK DIE WELT FREITAG,16.AUGUST


Die ersten


Seemeilen sind


geschafft


Greta postet erstes Foto


von der Yacht „Malizia II“


DAS FENSTER, UM


DEN GLOBALEN


TEMPERATURANSTIEG


UNTERHALB VON 1,


ODER 2 GRAD


CELSIUS ZU HALTEN,


SCHLIESST SICH


SEHR SCHNELL.


DESHALB


UNTERNEHME ICH


DIESE REISE


GRETA THUNBERG

,,


GRETA THUNBERG/ TWITTER

D


ie schwedische Klimaaktivis-
tin Greta Thunberg hat ihre
erste Nacht auf dem Atlantik
überstanden. Die Hochseeyacht „Ma-
lizia II“ hatte es bis zum frühen Don-
nerstagmorgen rund 65 Seemeilen
weit Richtung Westen geschafft, wie
die Live-Ortung des Spezialbootes
zeigte. Innerhalb von etwa zwei Wo-
chen soll die Rennyacht New York er-
reichen.
Thunberg war am Mittwoch mit der
„Malizia II“ zu ihrem angekündigten
Transatlantiktörn aufgebrochen. Ge-
meinsam mit den beiden Profiseglern
Boris Herrmann aus dem niedersäch-
sischen Oldenburg und Pierre Casi-
raghi sowie ihrem Vater Svante und
einem Filmemacher war die 16-Jährige
am Nachmittag im südenglischen Ply-
mouth in See gestochen. „Wir sind auf
unserem Weg“, schrieb sie unmittel-
bar nach der Abfahrt auf Twitter. Da-
zu postete sie ein Foto von sich an
Bord, auf dem sie lächelt. Hinter ihr
waren allerdings einige dunkle Wol-
ken zu sehen.
Über den Atlantik reist die Aktivis-
tin, um unter anderem am UN-Klima-
gipfel in New York im September so-
wie an der alljährlichen Weltklima-
konferenz in Chile im Dezember teil-
zunehmen. Auch eine Reihe größerer
Klimaproteste sowie Treffen mit Be-
troffenen der Klimakrise, Aktivisten
und Entscheidungsträgern stehen für
die Schwedin in den kommenden Wo-
chen und Monaten an.
Thunberg geht es darum, den welt-
weiten Ausstoß von Treibhausgasen
rapide zu senken, damit der Anstieg
der globalen Erdtemperatur im Ideal-
fffall noch auf unter 1,5 Grad Celsius be-all noch auf unter 1,5 Grad Celsius be-
grenzt werden kann. Bis heute hat sich
die Temperatur bereits um knapp 1
Grad im Vergleich zum vorindustriel-
len Zeitalter erhöht. Die Welt müsse
auf die Erkenntnisse der Forschung
hören und im Kampf gegen die Klima-
krise handeln, fordert Thunberg.
„Das Fenster, um den globalen Tem-
peraturanstieg unterhalb von 1,5 oder
2 Grad Celsius zu halten, schließt sich
sehr schnell. Deshalb unternehme ich
diese Reise“, wurde Thunberg nach
der Abreise in einer Mitteilung zitiert.
Segelprofi Herrmann erklärte dem-
nach: „Die Reise symbolisiert zwei
Dinge: dass es nicht einfach ist, fossile
Brennstoffe zu ersetzen, und dass das
Meistern dieser Herausforderung ein
großartiges Abenteuer sein kann.“ Sei-
nen Angaben zufolge wird die Reise
rund 3500 Seemeilen lang sein – bis
nach New York ist es also noch ein
sehr weiter Weg.

© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung DIE WELT -2019-08-16-ab-22 a1cbd6b945901b236f0be1f5f56c00a

РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Free download pdf