Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1
 Fortsetzung von Seite 11

Siewaren überzeugt, dass Hexen im Wald
lebten, Geister und Dämonen. Sie brauch-
ten etwas, um sich festzuhalten. Einen
Volksglauben, der bis heute sichtbar ist.
Der Weg zum Gipfel des Lusen heißt „Him-
melsleiter“. Wer hinauf will, muss über das
„Teufelsloch“, eine Felsschlucht. Überall
stehen Kapellen in der Landschaft, überall
Wegkreuze und Bildstöcke. Ein göttliches
Bollwerk, um das Böse fernzuhalten.
Eine Kirche, zwei Wirtshäuser, Sparkas-
se, Friseursalon. Viel mehr gibt es nicht in
dem Dorf, in dem die Hofmaiers leben. Sie-
ben Kilometer zur nächsten Apotheke,
25 Kilometer zum nächsten Kino. Die Ent-
fernungen sind hier immer noch groß.
Aber zugenagelt ist nichts mehr. Als der Ei-
serne Vorhang fiel, rückte die Region vom
hintersten Eck Bayerns in die Mitte Euro-
pas. Das Haus der Hofmaiers steht auf ei-
ner Anhöhe, am Straßenrand thront die
Schwarze Madonna auf einem Steinsockel.
Über der Haustür hängt eine Holztafel, dar-
auf ein Spruch: „Gottes Ruh’ und Frieden
sei diesem Haus beschieden.“ Doch es
herrscht keine Ruhe in diesem Haus.
Maria Hofmaier sitzt in der Stube. Ihr
Mann Alois sitzt mit am Tisch, ihre jüngste
Tochter Andrea auf der Ofenbank. „Die
Claudia will nicht runterkommen“, sagt
Maria Hofmaier. Man wird ihre ältere Toch-
ter nicht zu sehen kriegen beim ersten Be-
such. Sie wird oben bleiben, unterm Dach.
In einem Zimmer mit Waschbecken und ei-
nem Fenster ohne Griff. Über dem Bett ein
Marienbild, auf dem Schrank ein paar Por-
zellanheilige. Nachts sperren sie die Tür
ab. Ihre Mutter sagt: „Das müssen wir ma-
chen. Zu unserer Sicherheit.“
Sie haben alle Messer weggeräumt, ver-
steckt im Kachelofen. Der Teufel „treibt
sie ja zum Selbstmord oder zum Mord“,
sagt die Mutter. Einmal habe Claudia den
Porzellanheiligen die Köpfe abgeschlagen.
Zweimal habe sie das Glas aus dem Rah-
men des Marienbildes geprügelt. Meistens
schreie sie nur. Ihre Mutter steht dann am
Fuß der Treppe, spritzt Weihwasser nach
oben und betet.

Heiliger Erzengel Michael,
verteidige uns im Kampfe.
Gegen die Bosheit und die Nachstellungen
des Teufels sei unser Schutz.

Als der Teufel zupackt, ist Claudia Hof-
maier 18 Jahre alt. So erzählt es die Mutter.
Damals stößt Claudia auf eine Anzeige im
Bistumsblatt: Exerzitien für Jugendliche.
Vier Tage im Kloster Cham. Beten, Schwei-

gen, über Gott reden. Die Mutter sagt: „Sie
wollte da unbedingt hin. Der Teufel hat sie
da reingetrieben.“
Am 27. Dezember 1990 fahren Claudia
Hofmaier und ihre Schwester Andrea nach
Cham. Im Kloster bilden die Jugendlichen
einen Stuhlkreis, Thema: Freiheit. Claudia
habe gesagt, dass Freiheit nur innerhalb
der zehn Gebote möglich sei. Ein Priester-
kandidat habe ihr widersprochen, er sah
das lockerer. „Der hat sie mit den Augen
fixiert“, sagt die Schwester. „Hypnotisiert“,
sagt die Mutter. Der Vater sagt: „In Cham
hat der ganze Scheiß angefangen.“
Wieder daheim dreht Claudia Hofmaier
das Radio auf. Volle Lautstärke. Sie tanzt in
Unterwäsche durchs Haus. Will nicht mehr
beten, räumt Rosenkranz und Porzellan-
heilige aus ihrem Zimmer. So erzählt es die
Mutter. Damals habe Sie den Exerzitienlei-
ter des Klosters zur Rede gestellt, sagt Ma-
ria Hofmaier. „Wissen Sie, was der gesagt
hat? Dass das familiäre Probleme sind.
Aber unser alter Pfarrer hat sofort er-
kannt, dasserdahintersteckt.“

Er, der Leibhaftige. Früher haben die
Menschen den Teufel gefürchtet. Und ge-
braucht. Weil der Teufel Erklärungen gab
für das Böse. Für Erdbeben, Seuchen, psy-
chische Krankheiten. Dann kam die Auf-
klärung. Seitdem liefern Wissenschaftler
die Erklärungen. Seitdem hat der Teufel
keinen Platz mehr in der Welt. Er ist jetzt
die Witzfigur im Kasperltheater.
Und die katholische Kirche? Natürlich
kennt sie noch das Ritual des Exorzismus,
das aber zunächst mal nicht mehr ist als
die Gebetsbitte an Gott, den Menschen von
der Macht des Bösen zu befreien. Auch die
Kirche hat die Witzfigur Teufel ein Stück
weit von der Bühne geschoben, um sich
nicht selbst lächerlich zu machen. In den
Sechzigerjahren, mit dem Zweiten Vatika-
nischen Konzil, schrumpfte die Rolle des
Teufels in Liturgie und Gebeten. Ein Feh-
ler, sagt Maria Hofmaier. Wer Satan leug-
net, hat aufgehört, ihm die Stirn zu bieten.
So sieht sie das. Sie gibt der Kirche die
Schuld, dass der Teufel sich in ihrem Haus
breitmachen konnte: „Der will unsere Fa-
milie zerstören. Aber vor allem mich.“
Maria Hofmaier fühlt sich von der Kir-
che im Stich gelassen. Allein ist sie trotz-
dem nicht. In vielen Ländern berichten Ver-
treter der katholischen Kirche, dass die
Nachfrage nach Teufelsaustreibungen stei-

ge. In Irland sagte der katholische Priester
Pat Collins demIrish Catholic, er beobach-
te einen „dramatischen Anstieg dämoni-
scher Aktivitäten im Land“. Der Franzose
Philippe Moscato spricht im Economist
von einer „Lawine“. Auch in Italien sollen
sich die Exorzismen „in kurzer Zeit verdrei-
facht“ haben, wie Radio Vatikan berichtet.
Der Sender beruft sich auf „Branchenex-
perten“, die von mehr als 500 000 Fällen
ausgehen.
Sogar der Papst spricht wieder über den
Teufel. „Viele Leute sagen: Warum über
den Teufel reden, Satan ist eine altertümli-
che Sache, den Teufel gibt es nicht“, sagte
Franziskus in diesem Frühjahr. „Doch
schaut, was das Evangelium lehrt: Jesus
hat sich dem Teufel gestellt.“ Der Papst
sei da „nicht glaubwürdig“, sagt Maria Hof-
maier. Franziskus habe die Gefahr durch
den Teufel zwar erkannt, aber sonst? Zu
liberal, zu human, zu nett sei die Kirche,
um dem Bösen die Stirn zu bieten.
Maria Hofmaier sieht zerbrechlich aus,
wie sie dasitzt, vor dem gewaltigen Kruzi-
fix im Herrgottswinkel der Stube. Man
stellt sich neben ihr den Teufel vor. Mit Hör-
nern und Schwanz, wie man ihn aus Bü-
chern und Filmen kennt. Der Teufel, denkt
man, könnte sie zwischen zwei Fingern zer-
quetschen. Aber diese Frau lässt sich nicht
zerquetschen, das hat sie sich geschworen.
Sie sagt: „Wenn die böse Macht gebrochen
ist, dann wird die Claudia frei.“
Es ist fast nur die Mutter, die spricht. Sel-
ten Andrea, die jüngere Tochter, blasse
Haut, schwarzes Haar. Noch seltener Alois,
der Vater, weißer Schnauzbart. Maria Hof-
maier hat ihre Kinder katholisch erzogen.
Morgengebet, Mittagsgebet, Abendgebet.
Sie hat sie in den Gottesdienst geschickt,
den Kirchenchor, den Trachtenverein. Erst
Frühmesse, danach Schule. Jeden Tag, bis
1991, bis der alte Ortspfarrer aufhörte. Der
alte Pfarrer habe den alten Glauben ge-
pflegt, sagt die Mutter. Mundkommunion,
Messe am Hochaltar, Michaelsgebet. Dann
kam ein neuer Pfarrer, „ein Modernist“.
Seitdem boykottiert die Familie den Gottes-
dienst.

Als der neue Pfarrer kam, druckte die Lo-
kalzeitung einen Leserbrief von Maria Hof-
maier. Er beginnt so: „Heute, am Festtag
des heiligen Erzengels Michael, dem Be-
schützer vor allem Bösen, appelliere ich an
das angeblich christliche Volk der Gemein-
de umzudenken und innerlich umzukeh-
ren zu Gerechtigkeit und Wahrheit.“ Doch
statt umzukehren, haben die Leute nur ge-
lacht. Über „die Damische“, sagt Maria Hof-
maier, die Spinnerin. Auch Claudia sei ge-
hänselt worden. Weil sie anders war, sagt
ihre Mutter, fromm, sensibel. Einmal habe
der Lehrer gefragt, was die Kinder werden
wollen. Als Claudia an der Reihe war, habe
er nur gespottet: „Du gehst eh ins Kloster.“
Die Klasse habe gebrüllt vor Lachen.
Claudia Hofmaier ist nicht ins Kloster
gegangen, sie machte eine Lehre. Ihren
Glauben hat sie behalten. Den Glauben,
den die Mutter vorlebt. Aber sie hatte Zwei-
fel, sagt Maria Hofmaier. „Wenn die ande-
ren alle anders sind, dann ist das ja normal,
dass man sich fragt: Was ist richtig, was ist
falsch? Vielleicht wollte sie deswegen nach
Cham rein.“
Man möchte sie gern selbst fragen. Aber
Claudia Hofmaier bleibt auf ihrem Zim-
mer. Sie will nicht reden. Vielleicht nächs-
tes Mal. Man verabschiedet sich, da fällt
der Blick auf ein Foto an der Wand. Die jun-
ge Claudia im Dirndl, rosige Haut, pech-
schwarzes Haar. Und ein gerahmter
Spruch: „Wenn du noch eine Mutter hast,
so danke Gott und sei zufrieden.“
Man steigt zurück ins Auto, im Rückspie-
gel schrumpfen die Bayerwald-Berge, im
Kopf kreisen Fragen. Den Teufel gibt es
nicht, das ist ja klar. Und trotzdem will
man wissen, was in diese Familie gefahren
ist. Was passiert ist, damals im Kloster.
Anruf in Cham, bei Pater Ludwig Götz,
der im Dezember 1990 die Exerzitien leite-
te. Lange her, sagt Götz, er könne sich nicht
erinnern. Nicht an Claudia Hofmaier, nicht
an ihre Mutter. Was er darüber denkt, dass
ein Priesterkandidat einer jungen Frau
den Teufel eingepflanzt haben soll? Für
manche, sagt Götz, sei der Teufel „der
Schwarze Peter“, um sich vor der eigenen
Verantwortung zu drücken. Und der Stuhl-
kreis, der Claudia Hofmaier angeblich so
verändert hat? Na ja, bei solchen Gesprä-
chen könne sein, „dass man an Dinge hin-
rührt, denen man lange Zeit ausgewichen
ist. Das kann Ängste auslösen.“


  1. November 2016. Das Telefon klingelt,
    Maria Hofmaier ist dran. Letzte Nacht ha-
    be Claudia wieder geschrien. „Erde! Erde!
    Erde!“ Um drei Uhr früh, als sich die US-
    Wahl zu Donald Trumps Gunsten drehte.
    „Die älteste Demokratie der Erde ist gefal-
    len. Es wird alles auf den Kopf gestellt, was
    nicht auf Gott gebaut ist.“
    Eine Woche später sitzt man wieder auf
    der Eckbank unter dem gewaltigen Kruzi-
    fix. Wieder will Claudia nicht aus ihrem
    Zimmer kommen. Noch nicht. Ihre Mutter
    legt ein Buch auf den Tisch: die Briefe des
    niederbayerischen Pfarrers Franz Hand-
    wercher, der um 1830 Vorzeichen für den
    Untergang prophezeite. Erdbeben, Wolken-
    brüche, Kriege. Maria Hofmaier ist über-
    zeugt: Das Strafgericht Gottes steht bevor.
    Erdbeben in Italien, Flut in Bayern, jetzt
    Trump. „Es spitzt sich dramatisch zu.“
    In der Stube ist es hell, draußen nebel-
    dunkel, und man bekommt eine Ahnung
    davon, warum dieses teuflische Drama
    hier spielt und nicht in München. „Weiße
    Finsternis“, so hat der Dichter Adalbert Stif-
    ter den Bayerwaldwinter vor 150 Jahren be-
    schrieben. Wenn es heftig schneit, ver-
    schwimmen heute noch Himmel und Erde
    zu einer weißen Masse. Der Schnee formt
    Latschen und Fichten zu bizarren Figuren.
    „Arbermandl“ nennt der Bayerwaldler die
    Bäume, die wie Ungeheuer in der Gegend


stehen. Um 1800 lebte hier der Mühlhiasl,
ein Mystiker und Weissager. Er sah die Apo-
kalypse nahen, „wenn man Sommer und
Winter nicht mehr unterscheiden kann“,
„Mandl und Weibl nimmer auseinander-
kennt“, wenn „einerlei Geld“ komme. Und
jetzt, sagt Maria Hofmaier: Klimawandel,
Genderismus, Euro. Seltsam, oder?
Die Hofmaiers schauen misstrauisch
zu, wie die Welt sich verändert, auch im
Bayerischen Wald. Wie die Globalisierung
die nächste Schneekanone, den nächsten
Skilift in die Landschaft rammt. Auch Ma-
ria Hofmaier nennt sich „Mystikerin“. Aber
ihr wolle ja keiner glauben, dass hinter all
den Krisen und Katastrophen das Böse ste-
cke. Dass die Kirche schuld ist, wenn der
Teufel die Welt auf den Kopf stellt. Die Kir-
che müsse das rückgängig machen: die Irr-
tümer des Zweiten Vatikanums, den Mo-
dernismus, diese liberale Freimaurerei.

Sie hat nicht nur den Leserbrief geschrie-
ben, auch Briefe an Bischöfe. Sie hat auf Jo-
seph Ratzinger eingeredet, in den Neunzi-
gern, als er noch nicht Papst war, sondern
Glaubenspräfekt. An seinem Gartenzaun
habe sie ihn abgefangen, in Pentling bei
Regensburg. Sie habe ihn gewarnt, dass
die Kirche umkehren müsse. „Wir haben
noch Zeit“, habe Ratzinger gesagt. Aber
jetzt drängt die Zeit, da ist Maria Hofmaier
sicher. Und sie ist sicher, dass der Teufel ih-
re Tochter gezielt auserwählt hat. Weil es
ihm nicht passt, dass da eine Mutter die Kir-
che zur Umkehr zwingen will.
Plötzlich steht sie in der Tür.Eine
Frau, der man die Erschöpfung ansieht, sie
schwitzt, das Haar klebt an der Stirn. Sie
schlurft durch die Stube, rutscht in die Eck-
bank. Sie ist die Treppe heruntergestiegen,
ein paar Stufen nur, aber sie muss jetzt ver-
schnaufen. Dieser Schwindel, sagt Claudia
Hofmaier, „den kann ich einfach nicht weg-
machen. Und meine Füße tun so weh.“
Die Füße. „Die Dämonen packen die
Menschen immer über die Füße“, sagt die
Mutter. Claudia greift nach der dampfen-
den Teekanne. Sie gießt sich ein, legt beide
Hände um die Tasse. Also, was ist damals
in Cham passiert? „Das waren längere Ge-
spräche und da habe ich auf einmal Stim-
men gehört“, sagt Claudia Hofmaier.
Mutter: „Was hat die Stimme gesagt?“
Tochter: „Das kann ich nicht mehr sa-
gen. Komisch war das.“
Mutter: „Eine böse Macht.“
Tochter: „Nein, für mich ist das keine bö-
se Macht.“
Mutter: „Das ist eine Macht, die dich so
schreien lässt.“
Tochter: „Dann schreie ich halt ein biss-
chen laut. Ich denke mir da nichts dabei.
Ich rede für mich. Ich sage immer, das sind
Selbstgespräche.“
Mutter: „Das ist aber vom anderen ge-
steuert.“
Tochter: „Nein.“
Mutter: „Und was war mit der Herz-Jesu-
Figur und der Herz-Maria-Figur? Die wa-
ren beide kaputt.“
Tochter: „Die eine ist mir runtergefal-
len. Das war nicht absichtlich.“
Mutter: „Lügst du da nicht?“
Claudia Hofmaier zieht die Ärmel über

ihre Finger. Sie schaut einen kaum an, sie
spricht langsam, mit leiser Stimme, macht
Pausen, mitten im Satz. Der Schwindel,
sagt sie. Der Teufel, sagt ihre Mutter.
Damals, nach Cham, haben die Hofmai-
ers monatelang gegen den Teufel angebe-
tet. „Bis wir sie frei hatten“, sagt die Mut-
ter. Danach machte Claudia Hofmaier ihre
Lehre fertig. 2002 lernte sie einen Mann
kennen, sie zog zu ihm. Fast 20 Jahre habe
der Teufel ihre Tochter in Ruhe gelassen,
sagt Maria Hofmaier. Aber dann, in der Kar-
woche 2009, der Rückfall. Die Mutter er-
zählt das so: Claudia hilft ihrem Vater im
Garten, beim Unkraut zupfen. Plötzlich ist
sie weg. Es ist Nacht, als eine Polizeistreife
sie aufspürt. Sie läuft mitten auf der Stra-
ße, verwirrt, unterkühlt. Die Polizisten
bringen sie ins Krankenhaus. Am nächsten
Tag kommen Maria und Alois Hofmaier zu
Besuch. „Das sind nicht meine Eltern“, sagt
Claudia Hofmaier zum Arzt. Der schickt sie
in die Psychiatrie. Diagnose: Schizophre-
nie. Sie kriegt Medikamente. Nach drei Wo-
chen geht es ihr besser. Sie wird entlassen.
Schizophrenie? „Die psychische Krank-
heit kommt von den Dämonen“, sagt die
Mutter. Dann ein Satz, der den Zuhörer
trifft wie ein harter Schlag: Da helfe keine
Medizin, nur beten. Dreimal war ihre Toch-
ter in der Psychiatrie: 2009, 2010, 2014.
Jedes Mal hat sie die Medikamente wieder
abgesetzt. Warum? Therapie, Tabletten, ha-
be alles nicht geholfen, sagt Claudia Hof-
maier. Sie sieht das wie ihre Mutter: „Du
musst sehr viel beten, damit es dir besser
geht.“ Sie betet zwei Stunden am Tag. Aber
manchmal, da „kriege ich das nicht so hin,
weil es mir furchtbar schwindlig wird“. Ih-
re Mutter sagt: „Sehen Sie!“
Mit ihrem Freund ist Claudia Hofmaier
nicht mehr zusammen. Sie hat Schluss ge-
macht. Seit Sommer 2014 wohnt sie wieder
bei ihren Eltern. Wie ihre Schwester An-
drea, die nie ausgezogen ist. Ob sie an den
Teufel glaube? Ja, sagt Claudia Hofmaier.
Ob sie besessen sei? „Nein, nein, das nicht.“
Auch mit Cham habe das nichts zu tun. Es
sei ihr schon vorher schlecht gegangen.
Man will das genauer wissen, aber sie
blockt ab: „Das sind persönliche Sachen.“
Wieder verlässt man die Hofmaiers, wie-
der kreisen Fragen im Kopf. Ist die Tochter
die Besessene? Oder die Mutter? Man kann
ja auch von einer Idee besessen sein. Der
Idee, dass der Teufel an allem schuld ist.
Man sollte jemanden fragen, der nah
am Teufel dran ist: Jörg Müller, Theologe
und Psychotherapeut. Er behandelt Men-
schen, die sich für besessen halten. Oder
für besessen gehalten werden. Er habe
250 Anfragen im Jahr, sagt Müller. Viele kä-
men aus dem Bayerischen Wald, dem All-
gäu, aus Vorarlberg. „Ländliche Gebiete,
abgeschottet, im Winter zugeschnibbelt“.
Man besucht ihn in Freising bei Mün-
chen, hinter Backsteinmauern. Hier fin-
den Exerzitien statt, Meditationen, Tagun-
gen. Jörg Müller, 76, trägt Rollkragen, Bart
und Brille. Über den Teufel sagt er: „Ich bin
durchaus bereit, an die Existenz dämoni-
scher Geister zu glauben.“
Wie oft es die klassische Teufelsaustrei-
bung in Deutschland noch gibt, ist umstrit-
ten. Früher war das anders, doch seit dem
Fall Anneliese Michel ist die Kirche vorsich-
tiger geworden. Die Studentin starb im Juli
1976, nachdem Priester Exorzismen an ihr
praktiziert hatten. Sie hielten das Kreuz
hoch, riefen laut den Teufel an: „Hebe dich

hinweg, du nichtsnutziger Drache!“ Mi-
chel starb mit 23 Jahren, abgemagert auf
31 Kilo. Die ganze Republik war schockiert.
Heute findet Exorzismus fast immer im
Verborgenen statt, die Regeln sind stren-
ger als damals. Eine psychische Erkran-
kung etwa muss ausgeschlossen sein.
Alles „hochdiskret“, sagt Müller. Und
höchst selten. „99 Prozent der Menschen,
die meinen, vom Teufel besessen zu sein,
sind psychisch krank.“ Dahinter steckten
oft Traumata, sagt Müller, auch Miss-
brauch aller Art. Man erzählt ihm jetzt von
Claudia Hofmaier. Er nickt, aber er hat sie
ja nie gesehen. Mit allem Vorbehalt sagt er
dann, ihre Schreie könnten „Wutschreie“
sein, „um die Mutter zu bestrafen“. Wofür?
Womöglich habe „in dieser frommen Erzie-
hung ein emotionaler Missbrauch stattge-
funden“. Aber wenn die Tochter so wütend
ist, wieso bleibt sie bei der Mutter? Sie
könnte gehen, das Haus ist kein Hochsi-
cherheitstrakt. Tagsüber steht ihr Zimmer
offen. „Es kann durchaus sein, dass das Zu-
hausebleiben eine Strafe für die Mutter
ist“, sagt Jörg Müller. Er spricht von einer
folie à deux, einer Verrücktheit zu zweit.
Ein paar Monate später. Alle sitzen in
der Stube, nur Claudia Hofmaier ist oben.
Ihre Schwester Andrea sagt: „Exorzismus
hat so ein schauderhaftes Image. Sodass
ich mir denke: bloß nicht!“ Ob es sein
kann, was Jörg Müller sagt: dass ihre Erzie-
hung zu fromm war, zu streng? „Man muss
streng sein, aber gerecht“, sagt Maria Hof-
maier. Und trotzdem: „Es geht da um den
Kampf.“ Sie könne nicht „den Herrgott ver-
raten“, nur damit der Teufel ihre Tochter in
Ruhe lässt. Wenn die Kirche nicht fürs Wah-
re kämpft, muss sie das selbst tun. „Ich ha-
be da eine Pflicht“, sagt Maria Hofmaier.
Sie geht hinüber in ihr Schlafzimmer,
zeigt auf den Boden. Ein dunkler Fleck im
Holz. Sieht aus wie ein Adler, denkt man.
Gespaltene Hufe, „der Fußabdruck Sa-
tans“, sagt Maria Hofmaier. Plötzlich dage-
wesen. Sie habe alles probiert. Kratzen,
scheuern, schrubben. Nichts habe gehol-
fen. „Ein Wahnsinn“, sagt sie.

In der Stube erzählt sie weiter. Kirche,
Teufel, das göttliche Strafgericht. Eher ne-
benbei sagt sie, dass Claudia mal ganz auf-
gelöst nach Hause gekommen sei. Sie war
16 oder 17, ein damaliger Bekannter der Fa-
milie hatte sie heimgefahren. Auf der
Fahrt habe der Mann angehalten. Er habe
versucht, sie zu küssen. So habe ihre Toch-
ter das erzählt, sagt Maria Hofmaier. Ein-
mal habe der Bekannte ihre Tochter ange-
fasst. Wo? „Da“, sagt die Mutter und macht
eine Handbewegung in Richtung Hüfte.
Man muss jetzt an Claudia Hofmaiers
Schreie denken. An die „persönlichen Sa-
chen“, über die sie nicht reden wollte. Dar-
an, was Jörg Müller in Freising gesagt hat:
Missbrauch. Wissenschaftlich ist ein Zu-
sammenhang zwischen Missbrauch und
Schizophrenie fragwürdig. Aber Schwes-
ter Andrea sagt: „Vielleicht hat die Claudia
das verdrängt und in Cham ist es hochge-
kommen.“ Der Bekannte habe ja auch so
„einen fixierenden Blick“ gehabt, wie der
Priesterkandidat in Cham. Ob die Familie
ihn nie zur Rede gestellt hat? Doch, sagt die

Mutter. Er sei hier gesessen, in der Stube.
Dass er Claudia küssen wollte, sie ange-
fasst hat, das habe er alles zugegeben. Aber
sie habe ihm verziehen, „er ist ja selber Op-
fer“, sagt die Mutter. „Alle Menschen, bis
hin zu Mördern, sind im Grunde Opfer des
Bösen.“ Ob da noch Schlimmeres gewesen
sein könnte? „Hoffentlich nicht“, sagt die
Mutter. Hat sie Claudia nie gefragt? „Ich
glaube, dass sie das schon erzählt hätte.“
Hätte sie? Es vergehen eineinhalb Jahre
und mehrere Besuche im Bayerwald. Aber
Claudia Hofmaier will nicht reden, ihr Zim-
mer nicht verlassen. Im April 2018 kriegt
man sie noch mal zu sehen, durchs trübe
Türglas. „Geh und bete oben“, sagt die Mut-
ter, „aber rede nicht mit den Dämonen.“
Die Tochter schlurft aus der Stube, die
Treppe hinauf. Die Mutter ruft ihr nach:
„Sag ihnen, dass sie dich in Ruhe lassen sol-
len.“ Man hört, wie die Zimmertür zufällt.

Neun Monate später, Dezember 2018.
Andrea Hofmaier legt ein Tonbandgerät
auf den Esstisch. Sie drückt einen Knopf.
Die Stimme im Lautsprecher ist blechern.
„Saudrecksmänner!“ Es ist die Stimme ih-
rer Schwester, neulich aufgenommen am
Mittagstisch. Claudia Hofmaier brüllt,
man versteht nur Satzfetzen: „ ...meine See-
le zu bekommen“, „Saumörder da oben“.
Im Hintergrund klappert Geschirr, die Mut-
ter ruft: „Schweige, du böser Geist!“ An-
drea Hofmaier drückt die Stopp-Taste.
„Schauderhaft“, sagt die Mutter. Später er-
zählt sie von den Waldbränden, die in Kali-
fornien die Kleinstadt Paradise zerstört ha-
ben. „Paradise!“, sagt Maria Hofmaier. Sie
schaut einen jetzt an, die Augenbrauen am
Anschlag. Wenn das kein Zeichen ist?
Juli 2019. Ein letzter Besuch im Bayer-
wald. Im Dorf stehen Urlauber bei der „Tou-
rist-Information“. Aber mit dem Dorf, in
dem sie leben, haben die Hofmaiers nur
noch wenig zu tun. Die Mutter sagt: „Es ist
alles zusammengebrochen, als der neue
Pfarrer gekommen ist.“ Die Familie verließ
den Trachtenverein, nahm die Töchter aus
dem Chor. Es hat die Hofmaiers verletzt,
dass die Leute sie für Spinner halten. Sie ha-
ben den Hausaltar im Flur aufgebaut, das
Evangelium im Radio gehört. Sie haben ih-
ren eigenen Eisernen Vorhang zugezogen.
Wer im Juli 2019 hinter den Vorhang
schaut, sieht eine Frau, die kaum wiederzu-
erkennen ist. Maria Hofmaier sitzt im
Wohnzimmer, auf dem Sofa, trägt ein zer-

knittertes T-Shirt. Ihre Arme sind so dürr,
man könnte sie mit Daumen und Zeigefin-
ger umfassen. Ihr Gesicht ist grau, ihre Au-
gen sitzen tief in den Höhlen. Sie hat acht
Wochen Klinik und zwei Operationen hin-
ter sich. Eine Darmentzündung, sagen die
Ärzte. „Eine Macht, die mich kaputtma-
chen möchte“, sagt Maria Hofmaier.
Sie deutet auf ein Heiligenbild, das im
Holzrahmen am Fenster lehnt: die Mutter
Gottes auf Leinen gestickt. Auch im Febru-
ar sei sie hier gesessen, auf dem Sofa, das
Bild auf den Oberschenkeln, sagt Maria
Hofmaier. Sie habe zum Herrgott gebetet,
„dass er mir ein Zeichen gibt“. Da sei die
Sonne durch die Wolken gebrochen, „mit
einem Strahl, so grell, so was hast du nicht
gesehen“. Dreimal in einer Woche sei das
passiert, immer zwischen zwei und drei
Uhr nachmittags, der Sterbestunde Jesu.
„Ein Sonnenwunder“, davon ist sie über-
zeugt, „eine Bestätigung, dass nicht wir
auf dem falschen Weg sind“. Sondern „die
Masse“, sagt Maria Hofmaier.
Man redet der Familie noch einmal ins
Gewissen. Ob Claudia in der Psychiatrie
nicht besser aufgehoben wäre? „Sie wollte
ja jedes Mal wieder heim“, sagt die Mut-
ter. Ob man es nicht doch mit Medikamen-
ten versuchen sollte? „Die nimmt sie nicht,
da müsstest du sie zwingen.“ Und über-
haupt, sagt Maria Hofmaier: „Gegen den
Teufel ist kein Kraut gewachsen.“
Im Wohnzimmer steht jetzt ein Kranken-
bett, in der Stube ein Rollstuhl. Die Mutter
kann nicht mehr allein laufen. Sie sitzt da,
wie besiegt. „Ein Martyrium“, sagt sie.
Dann spricht sie ein Gebet, ganz leise.

O Maria hilf,
o Maria hilf doch mir!
Ein armer Sünder kommt zu dir
Im Leben und im Sterben,
lass uns nicht verderben,
lass uns in keiner Todsünd’ sterben.
Steh’ uns bei im letzten Streit,
o Mutter der Barmherzigkeit.

„Gott sei Dank haben wir die Claudia so
weit freigebetet“, sagt Maria Hofmaier.
Seit Wochen habe ihre Tochter nicht ge-
schrien. Ihr selbst gehe es umso schlech-
ter. Die Sache mit dem Darm, dieses taube
Gefühl in Händen und Füßen, „vor allem in
den Füßen“. Wie ein „Überfall“, sagt Maria
Hofmaier, ganz seltsam: „Je freier die Clau-
dia, desto mehr packt es mich.“
Ein letztes Mal verlässt man das Haus.
Vorbei an Kerzen, Figuren, Heiligenbil-
dern. Man hofft fast, doch noch etwas zu
hören von oben. Man horcht die Treppe
hinauf. Aber man hört nichts. Nur Stille.

Auch die Kirche hat die
Witzfigur Teufel ein Stück weit
von der Bühne geschoben

Therapie, Tabletten? Nein,
sagen sie. Da helfe nur
sehr viel beten

Zur Sterbestunde Jesu
bricht die Sonne durch die
Wolken. Ist das ein Zeichen?

Erdbeben, Kriege, jetzt auch
noch Trump. Sie ist sicher: Das
Strafgericht Gottes steht bevor

Alle Menschen seien Opfer
des Bösen, sagt die Mutter,
bis hin zu Mördern.

Das Haus der Hofmaiers
ist ein Haus Gottes: über-
all Heiligenbilder, Kreuze,
Kerzen, Weihwasserscha-
len, geschnitzte Engel.


12/13 BUCH ZWEI Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019, Nr. 189 DEFGH


Die Zeugnisse des alten
Volksglaubens sind im
Bayerischen Wald vieler-
orts zu sehen: Kapellen,
Bildstöcke, Wegkreuze.

Die Familie Hofmaier
(Name geändert) in ihrem
Esszimmer: Mutter Maria,
Vater Alois, Tochter An-
drea. Nicht auf dem Bild:
Tochter Claudia, von der
die Mutter glaubt, es sei
der Teufel in sie gefahren.

Mutter Maria Hofmaier
mit einem Marienbild auf
ihrem Sofa. Genau hier,
sagt sie, habe sie ein
„Sonnenwunder“ erlebt.
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