Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1
Schauspielerin Diane Kruger
über ihrGeheimdiensttraining für den
Thriller „Die Agentin“  Seite 17

DEFGH Nr. 189, Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019 15


FEUILLETON


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FOTO: DPA

SämtlicheSchriften von Alexander
von Humboldt: Die „Berner Ausgabe“
ist eine Sensation  Seite 18

S


ie steht noch da. Seit vier Mona-
ten fährt einem, wenn man an der
Pariser Notre-Dame vorbei-
kommt, dieser Satz mit seiner
Mischung aus Ungläubigkeit, Ent-
setzen und Trost durch den Kopf. Es war
der Satz, mit dem der Schriftsteller und
Journalist Albert Londres am 29. Septem-
ber 1914 in der ZeitungLe Matinseine be-
rühmte Reportage über die Kathedrale
von Reims begann, nachdem diese durch
die deutschen Truppen beschossen wor-
den war. Kein Dach mehr über dem Gewöl-
be, Tageslicht, das durch die löchrige De-
cke dringt, und im Innern verrußtes Ge-
mäuer mit den Spuren von herabgeronne-
nem Blei, schrieb der Autor damals.
Eines aber ist anders. Heute herrscht
nicht mehr Krieg, und die Arbeiten an No-
tre-Dame sind schon nach vier Monaten
weit vorangeschritten.
Vor den mit Stacheldraht geschützten
Absperrungswänden knipsen die Touris-
ten Selfies mit dem Doppelgesicht der Kir-
che als Hintergrund. Auf der Westfassade
sieht sie praktisch so aus wie zuvor, abgese-
hen vom fehlenden Vierungsturm. Auf den
drei anderen Seiten zeigt sie hingegen mit
den Holzverschalungen, den abmontier-
ten Glasfenstern, den weißen Planen statt
eines Dachs und den in den Himmel ragen-
den Giebelstümpfen das Ausmaß des
Schadens.


Die Räumung der verkohlten Dachbal-
ken und heruntergefallenen Mauerstücke
im Inneren neigt sich dem Abschluss entge-
gen. Dutzende Wissenschaftler, Denkmal-
experten, Fahndungsbeamte, Ingenieure
und Bauarbeiter waren bis vor Kurzem mit
dem Sichten, Aussortieren und Beseitigen
der Trümmer beschäftigt. Ende Juli muss-
te die Arbeit wegen des zu hohen Bleige-
halts am Boden und auf den Wänden ausge-
setzt werden. In der nächsten Woche soll
sie unter verschärften Schutzvorkehrun-
gen weitergehen. Im Inneren der Kirche
werden zwei ferngesteuerte Bagger einge-
setzt, denn wegen des weiterhin drohen-
den Absturzes von Gewölbeteilen ist das
Betreten des Hauptschiffs verboten.
Der Chefarchitekt für die Rettung von
Notre-Dame, Philippe Villeneuve, ist aber
halbwegs erleichtert in den Urlaub gefah-
ren. Sämtliche 28 äußeren Strebepfeiler
rund ums Kirchenschiff sind mit giganti-
schen Holzbögen abgestützt worden. Auch
die Befürchtung des Architekten, die nach
den Löscharbeiten auf Jahre gespeicherte
Feuchtigkeit in den Mauern könnte nach
der Hitzeschockwelle dieses Sommers die
Fugen noch bröseliger machen, scheint
sich einstweilen nicht zu bestätigen. Die
Fugen zwischen den millimetergenau ein-
gepassten Steinen seien so dünn, dass sich
wenig Angriffsfläche biete, sagen die Spezi-
alisten.
Thierry Zimmer, Kunsthistoriker und
stellvertretender Direktor des Laboratoire
de Recherche des Monuments Historiques
(LRMH), der mit seinen Leuten seit April
am Ort tätig ist, zeigt sich geradezu opti-
mistisch. Der Kathedrale gehe es gut, sagt
er, während er im Bistro „Quasimodo“ sei-
nen Schutzhelm auf den Nebenstuhl legt
und zur Menükarte greift. Zimmer hat
schon ganz anderes gesehen. Das 1967 ge-
gründete Labor LRMH wird quer durch
Frankreich überall dort herbeigerufen, wo
eine Kirche, ein Schloss, eine Brücke oder
sonst ein denkmalgeschütztes Bauwerk
Rettung braucht. Wie er am 15. April vom
Brand in der Notre-Dame erfahren habe,


wisse er schon gar nicht mehr genau, sagt
er: „Im Fernsehen wahrscheinlich.“ Bei al-
ler staatstragenden Gravität: Notre-Dame
ist für Zimmer mehr eine berufliche als
eine emotionale Herausforderung.
Das Recherchelabor ist nach Materialka-
tegorien eingeteilt: Stein, Holz, Metall,
Glas, Textil, Beton, Mikrobiologie. Fast alle
23 Wissenschaftler sind für Notre-Dame
im Einsatz. Manche von ihnen können ihre
Euphorie nur schlecht verbergen. Norma-
lerweise werde die Erlaubnis für Bohrpro-
ben zur Altersbestimmung der Balken in
solchen Bauwerken nur spärlich vergeben,
und nun liege das Material massenweise
auf dem Boden herum, schwärmt die Mole-
kularbiologin Martine Regert.
Gewiss, durch den Brand ging manches
verloren, dafür kann viel Wissen über die
Kathedrale gewonnen werden. Konkrete
Ergebnisse liegen noch nicht vor, die Erfor-
schung des Materials hat kaum erst begon-
nen. Überraschend erscheint manchen Ex-
perten aber heute schon der unerwartet
hohe Eisenanteil in den Trümmern, als wä-
ren die Kathedralenbauer des 13. Jahrhun-
derts mit diesem Material besser vertraut
gewesen als bisher angenommen. Einige
träumen auch schon von genaueren Kennt-
nissen darüber, in welchen mittelalterli-
chen Wäldern die Eichen für den 120 Meter
langen Dachstuhl geschlagen wurden.
Ein echtes Problem ist hingegen das

Blei. Mehr als zweihundert Tonnen wogen
die fünf Millimeter dicken Dachplatten,
für die der Bischof und Notre-Dame-Grün-
der Maurice de Sully testamentarisch in
seinem Todesjahr 1196 noch fünftausend
Livres gespendet hatte. Dazu kamen weite-
re 250 Tonnen von dem ganz in Blei gefass-
ten Vierungsturm des Restaurationsarchi-
tekten Eugène Viollet-le-Duc im 19. Jahr-
hundert. Blei schmilzt bei 327 Grad und
wird bei sehr hohen Temperaturen gas-
förmig. Beim Brand stieg die Hitze bis auf
900 Grad. Rund um Notre-Dame werden
nun überdurchschnittlich hohe Bleiwerte
gemessen. Auf manchen Plätzen und
Schulhöfen in der Umgebung der Kathe-
drale hat in dieser Woche eine gründliche
Reinigung begonnen.

Die Laune der Forscher können solche
Sorgen nicht trüben. Zimmer hält fest: Die
Hauptsache sei gerettet. Noch während
des Brandes sei alles Transportierbare in
Sicherheit gebracht worden. Von den drei
wegen ihres Formats hängen gebliebenen
Bildern sei jenes im Chor unbeschädigt
und die beiden im Querschiff zeigten,
soweit man das durchs Fernrohr sehen
könne, auch keine gravierenden Schäden.
Die Glasmalereien sind heil, Schimmel
ist bisher nur auf einer herabgestürzten
Engelsbüste gefunden worden, die Orgel
ist reparierbar, und unmittelbar vor der
Pietà von Nicolas Coustou aus dem 17. Jahr-
hundert verbrannten im Chor Balken-
stücke, ohne den Marmor auch nur anzu-
schwärzen. Was die Gebäudestatik ange-
he, meint der Experte, sei kein größeres
Unheil zu befürchten, „außer es fegt ein
Sturmtief wie einstLotharübers Land“.
Andere sind vorsichtiger. „Teile des
Gewölbes und auch die oberen Partien der
Außenmauern müssen eventuell ausge-
wechselt werden“, erklärt Barbara Schock-

Werner, ehemalige Dombaumeisterin des
Kölner Doms und heute Koordinatorin der
deutschen Hilfsangebote für Notre-Dame.
Denn ausgeglühte Steine hätten ihre Fes-
tigkeit verloren. Schock-Werner hat die
zahlreichen materiellen und finanziellen
Angebote aus Deutschland gesichtet.
Allein aus Nordrhein-Westfalen seien
900000 Euro zusammengekommen.
Steinmetze, Fachleute der Digitaltechnolo-
gie oder Spezialunternehmen von überall
her warteten nur darauf, loslegen zu kön-
nen.

So weit ist man in Paris noch nicht. Nach
Abschluss der Räumung im Kirchenschiff,
voraussichtlich im Herbst, muss zuerst
das noch vor dem Brand installierte Bauge-
rüst auf dem Dach abmontiert werden.
Dessen Stäbe wurden durch die Flammen
ineinander verschweißt und sind heute
Teil der fragilen Gebäudestatik. Unter dem
Kirchengewölbe wird dann ein Holzboden
zur Inspizierung der Mauern und zur
Lagerung des Baumaterials für die Errich-
tung des neuen Dachstuhls eingezogen.
Und damit beginnt die Kontroverse.
Um die in den ersten Wochen nach dem
Brand florierenden Architekturvisionen
mit öffentlichem Dachgarten, Kristallglas-
giebel, Stahlhaube, Laserturm und sonsti-
gen Verrücktheiten ist es stiller geworden.
Publikumsumfragen, aber auch die War-
nungen namhafter Persönlichkeiten ha-
ben die Fantasien abgekühlt.
Ein achthundertjähriges Bauwerk wie
Notre-Dame sei kein Spielzeug für selbst-
verliebte Formtändelei, wurde einge-
wandt. Modern sein bedeute nicht, alles an-
ders zu machen, erklärt der Architekt Jean
Nouvel und mahnt: „In diesem Fall müs-
sen wir gotischer sein denn je.“ So wie der
Gotik-Bewunderer Eugène Viollet-le-Duc
im 19. Jahrhundert mit seinem frei erfun-
denen neogotischen Vierungsturm für
Notre-Dame, der nun ausbrannte und ab-
stürzte?
Der Wunsch des Präsidenten Emmanu-
el Macron nach einem Wiederaufbau
„eventuell mit einer zeitgenössischen Ar-
chitekturgeste“ steht jedenfalls für die
Fachwelt nicht auf der Prioritätenliste. Pro-
saischer lautet zunächst die Frage, ob der
Dachstuhl wieder aus Holz oder aus Stahl
sein soll. Der Chefarchitekt Villeneuve und
seine Kollegen plädieren für die Holzversi-
on, nicht nur aus Liebe zum Original, son-
dern auch aus Überlegungen der Statik.
Durch eine Stahlkonstruktion wäre der
Druck des Dachs auf die Außenmauern zu
gering, sie könnten wegkippen.
Politisch jedoch hat die Regierung mit
dem im Juli verabschiedeten Sondergesetz
für die Wiederinstandsetzung von Notre-
Dame höchstes Tempo vorgelegt. Das Ge-
setz legt die Regeln für die Geldspenden
fest und sieht eine staatliche Projektlei-
tung für den Bau vor. Dessen Direktor, der
ehemalige Armeegeneral Jean-Louis Geor-
gelin, hat sein Büro im Pariser Elysée-Pa-
last bezogen.
Im umstrittenen Artikel 9 vereinfacht
das Gesetz aber auch das Baugenehmi-
gungsverfahren für Notre-Dame in den Be-
reichen Stadtplanung, Umwelt und Denk-
malschutz. Unnötig, gefährlich, skanda-
lös, protestieren die Gegner, denn der
Staat gebe damit ein schlechtes Beispiel
für den Umgang mit seinen eigenen Vor-
schriften. Thierry Zimmer sieht das gelas-
sener. Ausnahmeregelungen seien ihm
zwar auch suspekt, sagt er, „doch der Ge-
setzestext benennt klar genug die einzel-
nen Ausnahmen, sodass kein Unfug mit ih-
nen angestellt werden kann“.
Und wie sehen das die Hauptnutzer der
Kathedrale, die Pariser Katholiken? Notre-
Dame sei nicht nur ein Kulturdenkmal,
sondern auch ein geistiger Ort, sagte bei
der ersten Messe nach dem Brand in einer
Seitenkapelle der mit Schutzhelm ausge-
rüstete Pariser Erzbischof Michel Aupetit
in seiner Predigt: Wer das vergesse, mache
Kultur zur Unkultur. In einem Land, das
zwischen Staat und Kirche scharf trennt,

hat sich nun zwischen dem Staat als Gebäu-
deinhaber und der Kirche als Gebäude-
nutzer ein Dialog entsponnen, auch wenn
dieser unterschwellig manchmal gereizt
ist.
Der religiöse Aspekt müsse ein entschei-
dender Bestandteil der Restaurierung
sein, mahnte unlängst der Nuntius des Vati-
kans bei der Unesco. Manche Franzosen
reagieren auf diese Forderung unwirsch:
Dann solle der Vatikan gefälligst die Reno-
vierung mitfinanzieren, finden sie. Mehr
als ein paar Rosenkranzkügelchen sei vom

Vatikan nicht zu erwarten, konterte zu Ma-
riä Himmelfahrt der Rektor von Notre-Da-
me, Patrick Chauvet, fügte aber beschwich-
tigend hinzu, entscheidend sei für die Kir-
che zunächst, dass auch im dereinst restau-
rierten Gotteshaus von den Besuchern
kein Eintrittsgeld verlangt werde.
Doch das Murren der Katholiken ist
nichts verglichen mit der Unruhe der Fran-
zosen fern der Hauptstadt. „Alles für eine
Pariser Kirche, nichts für uns“, wurde in
Kreisen der „Gilets jaunes“ gemurrt nach
den spontanen Spendenzusagen von mehr

als achthundert Millionen Euro. Zahlreich
sind die Dorfkirchen quer durchs Land, für
deren dringende Restaurierung die dafür
zuständigen Bürgermeister vergeblich um
Unterstützung betteln. „Das ist eines unse-
rer Hauptprobleme“, bestätigt Thierry Zim-
mer: „In Frankreich liebt man die großen
Rettungsaktionen, viel weniger hingegen
den kontinuierlichen Unterhalt.“ Das Her-
umschweben im Gewölbe zwischen den
Putten von Notre-Dame ist einfach aufre-
gender als das ständige Auskleistern von
kleinen Mauerrissen.

Lügen lernen


Valery Gergievs fulminante Deutung
vonVerdis Oper „Simon Boccanegra“
in Salzburg  Seite 16 Lange fremdelte die Hauptstadt mit ihren Kunstkäufern.
Doch ladenelf Kunstsammler in Berlin zu einem
gemeinsamen Rundgang ein.  Seite 19

Osten

Grundriss mit Einsturzlöchern im Deckengewölbe

Westen

Kathedrale Notre-Dame


Im Jahr 1160 beschloss der Bischof Maurice
deSully den Bau einer Kirche, der bis Mitte des


  1. Jahrhunderts dauerte. Notre-Dame
    überstand die Jahrhunderte ohne größere
    Schäden, selbst die Revolution. Der Vierungsturm,
    der zugleich Glockenturm war, wurde im

  2. Jahrhundert abgetragen. Der Architekt
    Eugène Viollet-le-Duc ersetzte ihn von
    1857 an durch einen Spitzturm.
    Dieser ist nun eingestürzt.


Der Dachstuhl war mit 5 Millimeter dicken Bleiplatten
bedeckt, die zusammen mit der Bleiummantelung
des Turms 460 Tonnen wogen.

ist die Temperatur, bei
der Blei schmilzt. Bei dem
Brand entwickelten sich
Temperaturen bis zu
900 Grad Celsius.

327,5°C


Etwa 1300 Eichen wurden
für den Dachstuhl gebraucht.
Man nannte ihn „la forêt“: der Wald.
SZ-Grafik: Sead Mujić

Osten

Westen

Dachstuhl und
Vierungsturm, die beim
Brand vernichtet wurden

Seien wir gotisch!


Bleiin der Luft, murrende Gelbwesten und ein übereifriger


Präsident – Nur die Forscher sind euphorisch: Besuch in der


Kathedrale Notre-Dame vier Monate nach dem Brand


von joseph hanimann


Die Glasmalereien sind heil,
Schimmel ist nur auf einer
Engelsbüste, die Orgel reparierbar

Kristallgiebel, Stahlhaube,
Laserturm? Um solche Fantasien
ist es etwas stiller geworden

Ovationen


Affenschinken


Bis zum Herbst soll die Räumung des Kirchenschiffs noch dauern. FOTO: PHILIPPELOPEZ, AFP

FOTO: RUTH WALZ

Ohne Voranmeldung


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