Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1

U


m die Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts suchte eine spiri-
tistische Welle Europa heim.
Das Tischerücken wurde Mo-
de. Auch der berühmteste
Naturforscher der Zeit, Alexander von
Humboldt, erhielt eine Anfrage, wie das
vermeintlich paranormale Phänomen zu
erklären sei. Im April 1853 brachte die Wie-
ner ZeitungDie Presseseine Antwort. Er
habe, hieß es, sich über das Tischerücken
„mit einer gewissen Indignation ausge-
sprochen“. Humboldt verwies die Neugieri-
gen an seine wissenschaftlichen Freunde,
die vielleicht geneigter seien, derlei genau-
er zu ergründen. Er selbst beschied: „Eine
ungenau beobachtete Thatsache ist schwe-
rer zu erschüttern als eine Theorie. Wenn
in einem 84jährigen Lebenslaufe man
schon die periodisch wiederkehrenden
Albernheiten der dogmatischen Volksphy-
sik erlebt hat; so hat man keine Neigung,
sich mit der erneuerten Untersuchung der
Art zu beschäftigen“.


Der kurze Brief „über das Tischerü-
cken“ machte rasch die Runde. DieAugs-
burger Postzeitungdruckte ihn ebenso wie
dieNeue Zürcher Zeitung, man veröffent-
lichte ihn in Kopenhagen, Washington,
Detroit. Und als im Jahr daraufDie Garten-
laubeüber Spiritistisches und die Gefahren
der Pseudowissenschaft berichtete, zitier-
te das illustrierte Familienblatt selbstver-
ständlich den klugen Satz des „geistvollen
Forschers in Silberhaaren“, dass ungenaue
Beobachtungen schwerer zu korrigieren
seien als Theorien. Es war übrigens Hum-
boldts Freund, der Physiker François Arago,
der sich in einem Vortrag in Paris den ver-
rückten Tischen streng wissenschaftlich
näherte und das Rätsel entzauberte.
Sechsundzwanzig Veröffentlichungen
des Briefes verzeichnet die Ausgabe sämtli-
cher Schriften Alexander von Humboldts,
die in dieser Woche erschienen ist. Für die
lange Zeit nach dem Tod Humboldts im
Jahr 1859 wurde kein einziger Druck nach-
gewiesen. Und so verhält es sich mit der
Mehrheit der hier versammelten unselbst-
ständigen, also nicht in Buchform veröf-
fentlichten Texte. Die Ausgabe erschließt
eine ganze Werkgruppe, die Artikel, Aufsät-
ze, Essays des klassischen Autors, der über
die Jahrhunderte mehr gefeiert, beschwo-
ren, interpretiert und instrumentalisiert,
denn gelesen wurde.


Die Berner Ausgabe


Die Ausgabe bietet über 750 Erstdrucke
mit, so es sie gab, den Abbildungen der Ori-
ginalpublikation. Die Bibliografie verzeich-
net insgesamt 3600 Drucke und Nachdru-


cke. Die Texte erschienen in Zeitschriften,
Zeitungen, als Beiträge zu Werken anderer
Autoren. Der größte Teil dieser unselbst-
ständigen Schriften, etwa 95 Prozent, ist
nach dem Tod Alexander von Humboldts
nie wieder gedruckt worden. Auch die
jüngst erschienenen Biografien, etwa von
Andrea Wulf oder Rüdiger Schaper, be-
rücksichtigen sie nur am Rande. Über Jah-
re haben Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftler unter der Leitung von Oliver
Lubrich und Thomas Nehrlich an der
Universität Bern das Corpus der Schriften
erarbeitet. Dazu gingen sie Hinweisen in
Büchern und Briefen Humboldts nach.
Hatte eine Zeitschrift oder Zeitung einen
Artikel Humboldts veröffentlicht, wurde
sie systematisch durchmustert. Gesucht
wurde in den Metadaten und Volltexten
von rund 240 Periodica-Datenbanken. Nur
gedruckte und nachweislich von Hum-
boldt verfasste Texte haben die Herausge-
ber aufgenommen. Die hier versammelten
Schriften entstanden über sieben Jahr-
zehnte, auf drei Kontinenten und wurden
in vielen Sprachen veröffentlicht.
Der erste Artikel erschien am 5. Januar
1789 in derGazette littéraire de Berlin,in
französischer Sprache. In der Berner Aus-
gabe kann man ihn auch auf Deutsch nach-
lesen: „Brief an den Autor dieses Blattes;
über den Bohon-Upas; von einem jungen
Adligen aus dieser Stadt“. Darin geht es um
einen giftigen Baum, über den wundersa-
me Geschichten kursieren. Der Zögling der
Berliner Aufklärung verweist auf das Inter-
esse der Herrschenden, das einfache Volk
unwissend zu lassen: „Voltaire würde sa-
gen, dies beweise, daß die Priester sich
auch unter dem Äquator nicht ändern“. Ge-
gen den Aberglauben setzt Humboldt auf
Beobachtung, auf Daten. Die Übel der
Menschheit seien zahlreich genug, es sei
nicht nötig, sie durch „schädliche Ideen
noch zu vermehren“. Der letzte Text der
Ausgabe ist der „Ruf um Hülfe“, mit dem
der Greis bat, ihn nicht mit Anfragen zu
überhäufen, ihm Ruhe zur eigenen Arbeit
zu lassen. Er stammt aus dem März 1859.
Drei Apparatbände erschließen die Tex-
te. Band VIII – „Werkzeuge“ – enthält Bi-
bliografien, Register, Glossare. In Band IX


  • „Übertragungen“ – finden sich Überset-
    zungen der fremdsprachlichen Texte.


„Durchquerungen“ ist der Band X über-
schrieben. Er vereint 21 „Transversalkom-
mentare“, die einzelne Themen behandeln
wie: „Autobiografie und Biografie“,
„Schrift und Material“, „Bergwerke und
Vulkane“, „Daten und Bilder“, „Politik und
Engagement“. Die Bände sind bemerkens-
wert lesefreundlich gestaltet, man blättert
und liest in ihnen mit großem Vergnügen.
Im Jahr 2021 wird die gesamte Edition on-
line gestellt. Die Seitewww.humboldt.uni-
be.chinformiert bereits jetzt ausführlich
über den Autor, sein Werk und die sämtli-
chen Schriften. Schon im September die-
ses Jahres, wenn der 250. Geburtstag Alex-

ander von Humboldts gefeiert wird, wollen
die Herausgeber beginnen, Einführungs-
kommentare zu jedem einzelnen Text zu
veröffentlichen.
Im Hörverlag ist ein zehnstündiges
Feature von Hans Sarkowicz erschienen,
das bestens auf die Lektüre vorbereitet
(Alexander von Humboldt. Der unbekannte
Kosmos. 8 CDs, 40 Euro). Ausführlich kom-
men die Herausgeber und andere Hum-
boldt-Kenner zu Wort, Ulrich Noethen liest
Humboldts Texte so, dass deren sprachli-
che Eigenart und Kraft erlebbar werden.

Affenschinken


Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts
war Humboldt, soweit das im Rückblick
festzustellen ist, dank seiner Amerika-Ex-
pedition von 1799 bis 1804 der neben Napo-
leon berühmteste Europäer. Ende des Jah-
res 1807 ging er in diplomatischer Mission
nach Paris und erlangte schließlich die Er-
laubnis, dort zu bleiben und sich ganz der
Publikation seines Reisewerks zu widmen.
Die Leser hatte er schon von Südamerika
aus in Briefen und Berichten auf dem Lau-
fenden gehalten, mit jedem Detail weitere
Neugier geweckt. Im Januar 1807 veröf-
fentlichten die Allgemeinen Geographi-
schen Ephemeriden„Auszüge aus einigen
Briefen“ Humboldts an den Herausgeber.
Der Maler Gottlieb Schick, der damals in
Rom lebte, hatte nach Erzählungen des
Reisenden die „Skizze einer nächtlichen
Szene am Orinoko“ angefertigt. Humboldt
fand sie „sehr genialisch“. Keiner, der da-
bei gewesen, könnte sie treuer machen.
„Wenn ich sie betrachte, glaube ich mich
an den Alten Orinoko oder Cassiquiare ver-
setzt. Nichts gränzt an die stille Majestät je-
ner Tropennächte. Der Wald (...) drängt
sich dicht an den Fluß. Man fährt lange mit
dem Canot am Ufer hin, bis man an eine
Stelle trifft, wo das Pflanzengewirre Ei-
nem Raum läßt, ans Land zu steigen und
seine Hamaken (Hängematten) auszuspan-
nen. Europäer haben keinen Begriff von
diesen Hindernissen, welche die Vegetati-
on der Cultur des Menschengeschlechts
im Innern von Südamerika setzt.“
Humboldt schildert, halb sich erin-
nernd, halb Schicks Skizze beschreibend,
die Beschwerlichkeiten und Gefahren,
unterbricht die stimmungsvolle Szene im-
mer wieder einmal durch allgemeine Infor-
mationen und Bemerkungen des For-
schers. In den Hängematten sei man „vor
den furchtbaren Schlangen gesichert“,
„die abgerechnet, welche sich von oben
von den Bäumen herablassen“. Von den
„Mosquitos“ wolle er gar nichts sagen, in
den ersten Wochen versuche man noch,
sich zu schützen und sehe dann ein, dass al-
le Gegenmittel umsonst seien. „Kaltes Was-
ser lindert die Geschwulst“, aber das Fluss-

wasser ist warm, „und der Blutdurst der
Crocodile, die man nicht mit dem Alligator
verwechseln muß, wie der Biß des Carai-
ben-Fisches, verbieten meist das Baden“.
Jaguare streifen herum, Waldtiere
schreien, gefährlich ist es, wenn der Regen
das Feuer löscht. „In der Mitte des Bildes
hat Hr. Schick eine Indianische Küche ab-
gebildet. Sie sehen, sie ist sehr einfach. Ein
von Baumzweigen gebildeter Rost, auf
dem man den Affen, die große Simia Panis-
cus bratet. Affenschinken sind ein Lecker-
bissen dieser Welt.“

Die Texte


Bekannt sind vor allem Alexander von
Humboldts „Ansichten der Natur“ und
sein „Kosmos“. In den letzten Jahren wur-
den die Reisetagebücher, das grafische
Werk und einiges mehr ediert. Die Ausga-
be der Schriften profitierte vom Auf-
schwung der Humboldt-Philologie und ist
deren vorläufige Krönung. Sie erlaubt es,
so die Herausgeber, andere Seiten des Au-
tors zu erkunden: den „meister der kleinen
Formen“, den „internationalen Publizis-
ten“, den „öffentlichen Intellektuellen“,
den „postdisziplinären Forscher“. Er ver-
fasste Reisebriefe und Feldforschungsbe-
richte, Dank- und Empfehlungsschreiben,
Reden. Er nutzte eine Vielzahl an Genres:
von „Abhandlung“, „Abriß“, „Analyse“
über „Entwurf“, „Erklärung“ „Erzählung“
bis hin zu „Versuch“ und „Zuschrift“.

Gleich im ersten Band wird klar, dass er
nicht allein der deutschen Nationallitera-
tur angehört: Da stehen nacheinander ein
französischer, ein deutscher und ein latei-
nischer Text. Er wurde in ein Dutzend wei-
tere Sprachen übersetzt und noch zu Leb-
zeiten auf allen Kontinenten veröffent-
licht, in Mailand, Warschau, Caracas, in
New York, Moskau, Bombay, Shanghai. Be-
sonders zahlreich sind die Publikationen
in englischer Sprache. Er war ein viel ge-
druckter Autor in den Vereinigten Staaten.
Obwohl er selbst nicht auf Englisch
schrieb, sei er, sagen die Herausgeber,
gegen Endes seines Lebens zu einem eng-
lischsprachigen Autor geworden. In wie
vielen Disziplinen und Wissensgebieten er
sich tummelte – Botanik, Hüttenkunde,
Geschichte, Geografie usw. – ist bekannt.
Die Berner Ausgabe umfasst Texte aus al-
len Jahren seines produktiven Lebens. Die
großen Reisen markieren Zäsuren: die
1799 begonnene Reise nach Amerika, die
Reise nach Russland und Asien1829.
Mit den sämtlichen Schriften kommt
man Humboldt und seiner Zeit besonders
nahe, weil sie Texte aus allen Epochen sei-
nes produktiven Lebens enthalten, weil er
vor allem mit diesen Texten in der Öffent-

lichkeit und global präsent war. Die Pracht-
werke von den Reisen waren für die meis-
ten unerschwinglich, nicht aber die Zeitun-
gen und Zeitschriften. Einige Artikel bezie-
hen sich direkt auf eines der Bücher, aber
zwei Drittel der Schriften „haben keine Ent-
sprechung in den Buchwerken“.

Kolonialismus und Welthandel


Nur mit Erlaubnis des spanischen Königs
hatte Humboldt in dessen Kolonien reisen
können. Die Idee der Kolonie selbst, ein
Land in Abhängigkeit und Rückständig-
keit zu halten, um es auszubeuten, hielt er
für eine unmoralische. Dennoch hat ihm et-
wa Mary Louise Pratt vorgeworfen, er habe
Südamerika mit „imperialem Blick“ ausge-
kundschaftet und mit seinen Darstellun-
gen den Kontinent als Verfügungsmasse
präsentiert. In den Schriften finden sich
jedoch zahlreiche kolonialismuskritische
Überlegungen. Scharf attackierte Hum-
boldt die Sklaverei. Als sein Buch „Essai po-
litique sur l’île de Cuba“ in den Vereinigten
Staaten erschien und ausgerechnet um die
sklavereikritischen Passagen gekürzt wor-
den war, protestierte er öffentlich. Die
Berner Ausgabe enthält auch zu diesem
Thema viel interessantes Material, das For-
schung anregen kann. Es ist keine Kokette-
rie, dass der Kommentarband mit mehre-
ren Seiten voller Fragen beginnt. Das neue
Material erfordert Forschung.
Einer der schönsten Aufsätze Hum-
boldts erschien 1826: „Ueber die künftigen
Verhältnisse von Europa und Amerika“. Er
entwickelt dort Vorstellungen von einem
globalen Wettbewerb. „Dieser edle Wettei-
fer in Gesittung, Kunstfleiß und Handels-
verkehr wird aber, weit entfernt, (wie viel-
fältig prophezeit worden ist) die Verar-
mung des alten Festlandes zum Vortheil
des neuen herbeyzuführen, vielmehr den
Verbrauchsbedarf, die Masse der produkti-
ven Arbeit und die Thätigkeit des Tausch-
verkehrs steigern (...) es wäre ein verderbli-
ches, ich möchte beynahe sagen gottloses
Vorurtheil, im zunehmenden Wohlstand ir-
gend einer andern Gegend unsers Plane-
ten den Untergang oder das Verderben des
alten Europa erblicken zu wollen. Die Unab-
hängigkeit der Kolonien wird keineswegs
ihre Trennung und Absonderung beför-
dern, sondern vielmehr sie den Völkern frü-
herer Gesittung annähern. Der Handelsver-
kehr strebt dasjenige zu vereinbaren, was
eine eifersüchtige Staatskunst lange Zeit
getrennt hielt.“
Alexander von Humboldt war viel zu lan-
ge der bloß angeschwärmte Klassiker. Ihn
zu lesen, bietet die unerschöpfliche Berner
Ausgabe beste Gelegenheit.

Alexander von Humboldt:
Sämtliche Schriften.
Berner Ausgabe. Heraus-
gegeben von Oliver Lubrich
und Thomas Nehrlich.
dtv, München 2019.
10 Bände, 6320 Seiten.
Limitierte Vorzugsausgabe
390 Euro. Studienausgabe
250 Euro.

Eduard Enders Gemälde
aus demJahr 1856 zeigt
Alexander von Humboldt
und Aimé Bonpland am
Orinoco. Die Abbildungen
der Pflanzen und Tiere
stammen aus verschiede-
nen Werken Humboldts.
Mit dem Cyanometer
(unten links) maß
man die Intensität des
Himmelblaus.
FOTO: IMAGO (OBEN)/DTV

Kanu,


Karte,


Feder


Eine Sensation:


Die Berner Ausgabe vereint


zum ersten Mal alle


Aufsätze, Artikel und


Abhandlungen


Alexander von Humboldts.


Die meisten sind


unbekannt oder vergessen


von jens bisky


18 FEUILLETON LITERATUR Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019, Nr. 189 DEFGH

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