Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1
von ulrich hartmann

S


teffen Baumgart, 47, trat im April
2017 beim Drittligisten SC Pader-
born als Trainer an. Der Absturz
in die viertklassige Regionalliga
blieb dem Klub damals nur er-
spart, weil 1860 München keine Lizenz be-
kam. Binnen zwei Jahren führte der einsti-
ge Profi Baumgart die Ostwestfalen an-
schließend schnurstracks aus der dritten
zurück in die erste Liga. Es war ein Par-
forceritt mit einer No-Name-Mannschaft,
die an diesem Samstag in Leverkusen ins
Oberhaus zurückkehrt, wo der SC bereits
in der Saison 2014/15 kurz zu Gast war.


SZ: Herr Baumgart, seit Sie in Paderborn
sind, ging es im Fahrstuhl nur nach oben.
Wie ist Ihnen das gelungen?
Steffen Baumgart: Gemeinsam mit vielen
Leuten, die auch daran geglaubt haben. An-
fangs, 2017, ging es nur darum, die dritte
Liga zu halten. Aber wenn ich heute auf die
letzten zweieinhalb Jahre zurückblicke,
muss ich schon sagen: einfach schön!
Genießen SiedieAufmerksamkeit, dieKa-
merateams, die gerade zu Gast sind?
Ich hoffe, dass es bald wieder ruhiger wird.
Die Medienarbeit gehört zu meinem Job,
aber ich hätte auch kein Problem damit,
wenn keiner mehr kommt.
Sie haben gern Ihre Ruhe?


So kurz vor Saisonstart ist schon viel auf
uns eingeprasselt. An einem Tag waren
mal neun oder zehn Fernsehteams da.
Und alle wollen wissen: Warum ist Pader-
born mit knapp 150000 Einwohnern Erst-
ligist, während sich große Städte wie Ham-
burg und Stuttgart, Duisburg und Bo-
chum in der zweiten Liga tummeln?
Es ist wichtig, Mut zu haben und eine klare
Idee, wie man Fußball spielen will. Dar-
über machen wir uns sehr viele Gedanken.
Wir machen das aus Überzeugung und un-
abhängig von Ergebnissen. Wenn ich zur
Halbzeit dreinull hinten liege und deswe-
gen aufhöre, dann wird das nichts. Wenn
ich das Ergebnis aber ausblende und sage:
Dieses und jenes müssen wir in der zwei-
ten Halbzeit besser machen, dann könnte
es noch was werden. Zuletzt beim Pokal-
spiel in Rödinghausen, da haben wir zur
Halbzeit zweinull geführt und die zweite
Halbzeit dreieins verloren. Wenn Sie mich
fragen, welche die bessere Halbzeit war:
die zweite. Weil wir da trotz der Gegentore
vieles besser umgesetzt haben von dem,
wie wir grundsätzlich Fußball spielen wol-
len. So denken wir in Paderborn. Genauso
reden wir mit unseren Jungs.
Sie sind beim Viertligisten SV Rödinghau-
sen dann ja doch noch weitergekommen,
allerdings erst nach einem 3:3 und dann
im Elfmeterschießen. Offenbar wurde
dort schon das Risiko deutlich, dem Sie
mit Ihrem Bekenntnis zum bedingungs-
armen, offensiven Tempofußball ausge-
setzt sind. Sie waren selbst früher ein be-
kannter Stürmer. Was fasziniert Sie auch
heute noch als Trainer an der Attacke?


Geradlinigkeit! Der kürzeste Weg zum Tor
ist der beste. Die Jungs wissen: Es geht im-
mer geradeaus! Genauso denken wir aber
auch beim Ballanlaufen. Es geht immer
um den Ball. Wir arbeiten so lange am Ball,
bis wir ihn haben. Wenn ein Spieler mal
sagt: „Ich habe gedacht, dass ich den Ball
nicht kriege“, dann sage ich ihm: Versuch
es trotzdem! Klappt es nicht, finden wir
das nächste Mal eine Lösung. Mir wird eh
viel zu viel darüber gesprochen, was alles
nicht geht. Wir erzählen den Spielern lie-
ber, was geht. Geht dann wirklich mal was
nicht, suchen wir eine Lösung. Die haben
wir bisher noch immer gefunden.
Offenbar auch bei Neuverpflichtungen.
Nach dem Aufstieg in die zweite Liga hat-
ten Sie Ihr Team so verändert, dass es so-
fort hoch in die erste ging: Nach welchen
Kriterien fahnden Sie nach Zugängen?
Nicht nach Namen, sondern nach Fähigkei-
ten. Hat der Spieler einen guten ersten Kon-
takt am Ball? Hat er nicht nur eine gute
Sprintgeschwindigkeit, sondern auch die
geistige Geschwindigkeit? Wir entwickeln
die Jungs dann natürlich noch. Wir reden
viel, wir zeigen viel. Auch mit kleinen
Schritten kann man Großes erreichen.
Auch jetzt sind Sie Ihrem Modell treu ge-
blieben: Sie haben fast nurProfis aus tiefe-
ren Ligen verpflichtet, die zumeist auch
keine Äblöse kosteten. Warum ist es Ihnen
nicht so wichtig, Spieler zu holen, die die
Bundesliga schon kennen?
Das stimmt nicht. Wir würden schon Spie-
ler mit Erstliga-Erfahrung wollen, aber die
Frage ist doch: Wollen sie uns auch? Das ist
oft eine finanzielle Frage. Es gibt drei Auf-
steiger: der erste heißt 1. FC Köln, der zwei-
te Union Berlin, der dritte Paderborn. Da
sagt mancher Spieler vielleicht: Ich gucke
mir erst mal Köln an und dann Berlin – und
dann gucke ich nach Paderborn. Aber dann
wollen wir den Spieler vielleicht nicht
mehr. Für uns muss man sich bewusst ent-
scheiden. Nur zu sagen: Ich will Fußball
spielen, ich will Geld verdienen, ich will
Bundesliga spielen – das funktioniert hier
nicht. Du musst dieses ganze Projekt Pader-
born wollen. Wer hier für sich nicht seinen
Weg sieht, weil ihm vielleicht die Stadt zu
klein ist, der braucht sich mit uns nicht zu
beschäftigen.
Ziehen junge Spieler aus tieferen Ligen in
so einem Projekt nicht eh besser mit? Sind
sie pflegeleichter?
Nein, ein Spieler muss einfach nur wollen.
Er muss die richtige Einstellung zum Beruf
haben. Professionalität hat nicht nur mit
der täglichen Arbeit zu tun. Wir bekamen
früher hier auch Absagen von Spielern.
Aber ich glaube, von den Absagen aus der
vorigen Saison würde mancher jetzt gerne
die Zeit zurückdrehen.
Ihren besten Spieler aus der Aufstiegssai-
son haben Sie jetzt sogar abgegeben: den
Spielmacher und Torjäger Philipp Kle-
ment. Er steigt mit Paderborn in die Bun-
desliga auf, wechselt aber zum VfB Stutt-
gart zurück in die zweite Liga. Warum?
Der VfB ist ein großer Klub mit einer ganz
anderen Infrastruktur als wir, mit Möglich-
keiten, die wir vielleicht nie erreichen. Wir
sagen den Jungs immer: Wenn Ihr die Mög-
lichkeit habt, einen neuen sportlichen, viel-
leicht besseren Weg zu gehen, dann legen
wir euch keine Steine in den Weg.
Sie haben nicht versucht, Klement zum
Bleiben zu überreden?

Nein. Als klar war, wohin er geht, habe ich
ihm sogar gewünscht, dass er es macht.
Wir können den Jungs doch nicht ständig
erzählen: Kommt zu uns! Entwickelt euch!
Geht den nächsten Schritt! Und dann klam-
mern wir uns an ihnen fest. Wenn unsere
Spieler Angebote bekommen, ist das auch
ein Zeugnis für unsere gute Arbeit.
Noch ein relevanter Mann hat Paderborn
imAufstieg verlassen: Sportdirektor Mar-
kus Krösche zog es zu RB Leipzig. Krösche
hatte ein scharfes Auge für unentdeckte
Perlen. Wie sehr fehlt er Ihnen?
Er war ein großer Initiator unseres Pro-
jekts hier. Als Persönlichkeit fehlt er uns
schon, aber auch er hat sich diesen neuen
Weg erarbeitet und damit verdient.
Von der individuellen Qualität her dürfte
Ihre Mannschaft eigentlich keine Chance
auf den Klassenerhalt haben, aber viel-
leicht von der Mentalität her. Ist die Men-
talität Ihre Schlüsselqualifikation?
Die meisten Talente scheitern an der Men-
talität. In allen Berufen gibt es talentierte
Menschen, die scheitern, weil sie nicht den
schwierigen Weg gehen, sondern den einfa-
chen. Oder weil sie sich ablenken lassen,
oder weil sie nicht daran glauben, was sie
eigentlich alles könnten.
Natürlich orientiert sich eine Mannschaft
am Charakter ihres Trainers. Woraus
speist sich Ihre eigene Mentalität heute?
Ich hatte im Leben ja nicht nur positive Er-
lebnisse. Ich war arbeitslos, ich wurde als
Fußballer irgendwann nicht mehr gewollt,
bei meinem Heimatverein Hansa Rostock
bin ich drei Mal rausgeflogen. Die entschei-
dende Frage ist: Wie geht man mit solchen
Erlebnissen um? Gehst du daran kaputt
oder nimmst du es als Herausforderung an?

Stimmtes, dass Sie bei Ihrer ersten Bewer-
bung zum Fußballlehrer-Lehrgang des
DFB abgelehnt worden sind?
Ja, aber das passiert vielen. Für jeden Lehr-
gang mit 24 Plätzen bewerben sich 90 bis
100 Leute. Das ist also ganz normal. Beim
zweiten Mal hat es geklappt, da waren si-
cher zehn Leute dabei, die beim ersten Mal
auch abgelehnt wurden. Da gilt: nicht auf-
geben, weitermachen! Ich hätte mich auch
ein drittes, viertes Mal beworben, so lange,
bis sie mich genommen hätten.

Sie haben mal gesagt, das Trainersein sei
keine Doktorarbeit. Ganz ehrlich: Die Auf-
gabe ist heute doch so komplex geworden,
dass es fast eine ist, oder?
Deshalb haben wir viele Leute im Team,
die Sachen besser können als ich. Ich wäre
kein besserer Physiotherapeut, kein besse-
rer Busfahrer und kein besserer Rasen-Mä-
her. Und ich setze mich auch nicht vor den
Videoschnitt, weil wir dafür jemanden ha-
ben, der das sehr gut kann.
Trotzdem, Sie waren in Ihrem Leben
schon DDR-Bereitschaftspolizist, KFZ-
Mechaniker, einst Profi und jetzt Trainer


  • das sind ziemlich viele Begabungen.
    Oh, ich glaube, ich habe nur eine wirkliche
    Begabung, und das ist Fußball. Alles ande-
    re waren keine Begabungen, alles andere
    habe ich einfach nur gemacht. Bereit-
    schaftspolizei war um die Wende herum,


da war ich bei Dynamo Schwerin, und Dy-
namo war nun mal der Polizei unterstellt.
So bin ich bei der Polizei gelandet. Das war
nicht mein Ding, man erkennt ja schnell,
ob einem etwas leicht fällt oder nicht. Die
Ausbildung zum KFZ-Mechaniker habe
ich in Aurich gemacht, damit ich einen Ab-
schluss nach westlichem Standard habe.
Ich finde es wichtig, dass man einen Ab-
schluss hat, und wenn ich etwas gemacht
habe, habe ich es auch abgeschlossen.
Fehlt noch was in der Aufzählung?
Meine Frau würde sagen, dass ich ein guter
Beikoch bin. Ich mache in der Küche die Ar-
beiten, die sonst keiner machen will, Kar-
toffeln schälen, schnippeln und so was –
das mache ich sogar gerne. Was zwar jetzt
kein Talent ist, aber schon mal vorkommt:
dass mich Leute, wenn sie mich erst mal
richtig kennengelernt haben, oft anders
einschätzen als auf den ersten Blick.
Wie hat Sie Ihre Kindheit und Jugend in
der DDR geprägt?
Ich betone es immer wieder: Ich habe ger-
ne in der DDR gelebt. Ich bin sehr behütet
aufgewachsen, ich hatte alles, was ich brau-
che. Ich habe mich nie eingesperrt gefühlt.
Natürlich hat man vieles über die DDR erst
im Nachhinein erfahren, damals war ich da-
für zu jung. Aber was mir in der DDR wider-
fahren ist, das war alles positiv. Auch wir
sind mit Dingen kritisch umgegangen.
Und ich habe von meinen Eltern gelernt,
dass man klar und ehrlich sein muss. Das
war ich immer im Leben, und das war nicht
immer zu meinem Vorteil.
Gewissensfrage: Könnten Sie auch einen
großen Klub trainieren, einen, in dem alle
Fußballer als Millionäre gelten?
Ganz ehrlich: Weiß ich nicht. Ich habe mir

diese Frage schon öfter gestellt, das gebe
ich offen zu. Und wenn ich mit Kollegen
spreche, die bereits in größeren Vereinen
trainiert haben, finde ich es interessant zu
hören, was dort offenbar manchmal von
den Spielern so kommt. Schwierig.
Einmal aus Paderborner Perspektive be-
trachtet: Wie verfolgen Sie in einem Klub,
der naturgemäß aufs Kleingeld achten
muss, das Millionengeschacher auf dem
Transfermarkt?
Es ist aufgebauscht, aber es gehört mittler-
weile dazu. Auch ich komme als Trainer
vielleicht eines Tages in die Situation,
einen Spieler für zehn Millionen holen zu
können, und dann werde ich mich be-
stimmt nicht hinstellen und sagen: So et-
was sollten wir nicht tun! Das wäre verlo-
gen. Das Geschäft gibt solche Summen im
Moment her. Ich muss es nicht gut finden,
aber es gehört dazu. Ich finde auch im Stra-
ßenverkehr nicht alles gut und halte mich
trotzdem immer an die Regeln.
Wäre es falsch, das kleine Paderborn als
die Insel im Haifischbecken zu sehen?
Ja, denn wir nehmen ja auch kleineren
Klubs Spieler weg. Wir sind auch ein Profi-
verein. Wenn wir die Chance hätten, uns ei-
nen Stürmer für mehrere Millionen zu kau-
fen, würden wir es bestimmt tun.
Zum Ligastart geht es für Paderborn nach
Leverkusen. Der Klub besitzt eigentlich
nur Millionenkicker und hat noch ein
paar dazugeholt. Wie lautet der Befehl des
Trainers Baumgart? Volle Attacke?
Wir können den Schwanz einziehen und
möglicherweise verlieren. Oder volle Atta-
cke spielen und möglicherweise verlieren.
Drei Mal dürfen Sie raten, was wir versu-
chen werden.

„Ich mache in der Küche, was
keinermachen will: Kartoffeln
schälen, schnippeln – so was!“

„Mir wird viel zu viel darüber
gesprochen, was nicht geht.
Wir sagen Spielern, was geht.“

Berlin –Ein bisschen, sagt Olaf Forner, er-
innere ihn die Stimmung rund um seinen
Verein an die Zeit des Mauerfalls.
Dies ist eine Gedankenbrücke, die in
Berlin gerade nicht nur von Forner began-
gen wird: Von der Öffnung der DDR-Gren-
ze am 9. November 1989 einerseits bis zum
erstmaligen Aufstieg des 1. FC Union Ber-
lin andererseits. Streng historisch sicher
wackelig, diese Brücke, aber es stimmt ja
doch, was der Union-Fan in einem Café in
Berlin-Mitte meint. Denn nach jenem epo-
chalen Tag wurde im In- und Ausland nur
noch selten mit so viel Sympathie nach Ber-
lin geschaut wie am Abend des 23. Mai


  1. An jenem Abend, an dem sich Union
    in der Relegation gegen den VfB Stuttgart
    behauptete und zum 56. Mitglied der Bun-
    desliga-Geschichte wurde. Das Erstliga-
    Debüt findet am Sonntag statt, gleich das
    Ost-Derby, gegen RB Leipzig.
    „Gefühlt hat die ganze Republik gratu-
    liert“, sagt auch Unions Manager Oliver
    Ruhnert. Und dass die Köpenicker so viel
    Zuneigung erfahren haben, liegt auch an
    Menschen wie Forner, der selbstredend
    wieder dabei sein wird gegen Leipzig.


Forner wird im Fanforum Unions „der
Tazunioner“ genannt, ein Wortkomposi-
tum, in dem sein Dasein gerinnt. Abends
zieht er im Union-Trikot durch Berliner
Kneipen und verkauft dietazund andere
Zeitungen der Stadt; Unioner ist er „24/7“,
wie man in England sagen würde. 24 Stun-
den, sieben Tage die Woche. Und er ist
nicht nur Fan: Er koordiniert die Logistik

des Verkaufs des Stadionheftes, komman-
diert die dreißig bis vierzig Mann, die an
Spieltagen versuchen, 3500 bis 4000 Ex-
emplare unter die Leute zu bringen. For-
ner verkauft aber auch Eintrittskarten, di-
rigiert einen vom Klub kontrollierten Wie-
derverkauf nicht genutzter Karten, eine
Maßnahme gegen den Schwarzmarkt.
Jeder kann sich mit ihm über Facebook
verabreden, zweieinhalb Stunden vor
Spielbeginn trifft man ihn dann auf den
Gleisen des S-Bahnhofs Köpenick, zehn Mi-
nuten Fußweg von der Alten Försterei ent-
fernt. Dort steht er immer. In den kommen-
den Wochen, ahnt Forner, dürfte die An-
zahl der Tickets, die er wiederverkaufen
kann, weniger werden als zu Zweitligazei-
ten. Denn die Vorfreude auf die Bundesliga
ist zu groß, als dass jemand, der den Verein
liebt, auf einen Besuch im Stadion verzich-
ten wollte. Schon gar nicht jemand wie For-
ner, der „Ossi aus ’ner Westfamilie“.
Geboren wurde er 1965, seine Eltern leb-
ten im Osten, verdingten sich aber bis zum
Mauerbau 1961 im Westen. In ihrem Wohn-
zimmer, sagt Forner, lief nie Ostfernsehen,
„außer wennWilli Schwabes Rumpelkam-
merkam und alte Schinken zeigte“. Fußbal-
lerisch sozialisiert wurde er über die ARD-
Sportschau und ihre Berichte über den Ber-
liner Verein auf der anderen Mauerseite:
Hertha BSC. Hertha war seine erste Liebe,
die er bis heute nicht vergessen hat. Dass
er dann doch bei Union landete, dem DDR-
Pokalsieger von 1968, lag an der Aura des
Dissidententums, die Union umwehte:
„Da gibt es einen Verein, der nix mit dem
Staat zu tun hat“, hatte ihm ein Freund ge-
sagt. „Die Mauer muss weg!“, riefen die
Fans bei Freistößen, eine Provokation.
Und sie lernten schon damals zu impro-
visieren, mehr als andere. Forner sagt,

dass er dabei war, als die Fans zu Beginn
der Achtzigerjahre auf der Waldseite des
Stadions einen Wall aufschütteten, auf
dem längst die Tribüne steht, die die treu-
esten Fans beherbergt. Später, nach der
Wende, waren es wieder die Union-Fans,
die sich gegen den Exitus wandten, als das
Geld knapp wurde: Sie spendeten Blut, um
mit den Erlösen aus dem Aderlass die klam-
men Kassen des Klubs zu entlasten. Oder
sie verdingten sich unentgeltlich als Bauar-
beiter und Handwerker, um das Stadion zu

renovieren. Damals hätten Menschen aus
unterschiedlichen Verhältnissen Hand in
Hand gearbeitet; Menschen, die unter nor-
malen Umständen nie miteinander zu tun
gehabt hätten, sagt Forner, ließen Freund-
schaften entstehen, die es anders nie gege-
ben hätte. Und die seit Jahren bei jedem
Heimspiel erneuert werden, die ein familiä-
res Gefühl fortleben lassen.
Und nun sind sie in der Bundesliga ange-
kommen, und treffen auf RB Leipzig. Aus-
gerechnet Leipzig. Das Kommerzprodukt

par excellence, ein aus dem Boden ge-
stampftes Fußballunternehmen zum Ruh-
me eines milliardenschweren Limonaden-
herstellers aus Österreich. In den vergange-
nen Tagen kreisten die Debatten um den
„Stimmungsboykott“, den die Union-Ul-
tras angekündigt haben, in den ersten fünf-
zehn Minuten der neuen Bundesliga-Zug-
hörigkeit soll Grabesstille herrschen, sol-
len die Fanschals nicht in den Himmel ge-
reckt werden. „Natürlich wollen wir eine
gute Stimmung haben, aber die Fans wol-
len ein Zeichen setzen, und das müssen wir
akzeptieren“, sagte Trainer Urs Fischer,
ein Schweizer, am Freitag.
Werte, sagen die Fans, sind wichtiger
als Punkte. Nicht nur die Ultras des „Wuhle-
syndikat“, sondern vor allem jene, die in
der Fan- und Mitgliederabteilung „Fuma“
sind und einen Sitz im Aufsichtsrat Union
besitzen. Auch die Stiftung „Schulter an
Schulter“ ist dabei, die Unionern mit „Han-
dicap“ den Stadionbesuch ermöglicht, sei-
en diese nun Obdachlose oder Behinderte.
Die Ängste, dass derlei vom Sog der
Kommerzialisierung usurpiert wird, neh-
men die Verantwortlichen bei Union durch-
aus wahr. Präsident Dirk Zingler, der am
Sonntag mit dem Schal antreten will, den
ihm seine Oma strickte, versprach nach
dem Aufstieg, dass sich nichts ändern wer-
de: „Dann müssten wir uns ja ändern.“
Doch man tue niemandem einen Gefallen,
wenn man sich selbst den Heiligenschein
aufsetze. Oder von außen aufsetzen lasse.
„Also, wir sind nicht wirklich so viel anders
als andere Profivereine“, sagte er demRBB.
Denn natürlich funktioniert Union nach
den Gegebenheiten des Geschäfts, das der
Profifußball ja auch ist. Und der dafür
sorgt, dass der Klub mitten in den existen-
ziellen Debatten über horrende Mieten in

„Aroundtown“ einen Immobilienunterneh-
mer als Trikotsponsor ins Boot holte.
Denn Union ist auch das: Ein Profiklub
mit Bedarf an Einnahmen, jetzt erst recht.
Es dürfte kaum einen Klub in Europa ge-
ben, der sich so intensiv auf dem Spieler-
markt umgetan hat wie Union in diesem
Sommer; im Kicker-Sonderheft sind
18neue Spieler aufgelistet, zu den namhaf-
testen zählen erfahrene Bundesligaprofis
wie Christian Gentner, Neven Subotic oder
Anthony Ujah. „Ich habe schon bei mei-
nem Amtsantritt 2018 gesagt: Den Kader

weiterzuentwickeln, wird mindestens drei
Transferperioden dauern. Jetzt sind wir in
der dritten Transferperiode. Anders ge-
sagt: Ich hätte auch am Kader gearbeitet,
wären wir in der zweiten Liga geblieben“,
sagt Geschäftsführer Oliver Ruhnert, 46.
Er holte nur Spieler, die auch wieder mit
runter in die zweite Liga gehen würden,
falls die erste Liga ein Intermezzo bleibt.
Denn das gehört auch zum Selbstver-
ständnis von Union: dass es keine Garantie
für eine dauerhafte Bundesligazugehörig-
keit gibt. Verteidigen werden sie die schon,
mit den Lebenden, mit den Toten. Das Sta-
dion wird ausverkauft sein, klar. Doch
500Union-Fans haben Bilder von verstor-
benen Freunden und Angehörigen auf Pla-
kate drucken lassen, die Unions Aufstieg
verpasst haben, und wollen sie am Sonn-
tag in die Höhe halten. Zwei Worte sind
dort zu lesen, in weißen Buchstaben, auf ro-
tem Grund, den Vereinsfarben. Sie lauten:
„Endlich dabei“. javier cáceres

Geholt wurden Spieler, die
mit in die zweite Liga gehen,
falls der Klassenerhalt misslingt

„Der kürzeste Weg


ist der beste“


Trainer Steffen Baumgart über den Aufstieg
des Underdogs SC Paderborn, sein Bekenntnis
zum Attacke-Fußball – und die Frage,
welche Spieler für das Projekt geeignet sind

Eine Viertelstunde Grabesstille


Union Berlin begeistert sich am erstmaligen Einstieg in die Bundesliga, startet aber mit einem Stimmungsboykott diverser Fangruppen ins Ost-Derbygegen RB Leipzig und in die Saison


„Die Mauer muss weg!“, riefen
die Fans einst bei Freistößen –
eine Provokation

„Gemeinsam mit Leuten, die auch daran geglaubt haben“: Paderborn-Trainer Steffen Baumgart feiert mit seiner Familie den Aufstieg. FOTO: THOMAS EISENHUTH/GETTY

DEFGH Nr. 189, Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019 HF2 SPORT 39


Ein Meer in Rot: Das Stadion „An der Alten Försterei“ an jenem Abend im Mai, an
dem derErstliga-Aufstieg von Union besiegelt wurde. FOTO: HANSCHKE/REUTERS
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