Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1
FOTO: GETTY

Vor wenigen Wochen erst ist sie ins Amt
gewählt worden, fast zeitgleich mit Boris
Johnson – aber weil dessen Kür zum Pre-
mierminister Mitte Juli wochenlang die
Schlagzeilen bestimmte, war ihr Start
eher leise gewesen. Was aber auch daran
gelegen haben mag, dass die neue Chefin
der britischen Liberaldemokraten (Lib-
Dems) als ziemlich sichere Bank gegolten
hatte bei der Urwahl ihrer Partei. Diese
war nötig geworden, weil ihr 71-jähriger
Vorgänger freiwillig gegangen war. Vince
Cable hatte die Partei nicht mehr in die
nächsten Wahlen führen wollen; und dass
es bald schon vorgezogene Neuwahlen
geben wird, davon gehen nicht nur die Li-
beraldemokraten aus.
Jo Swinson machte dann bei ihrer An-
trittsrede auch gar keinen Hehl daraus,
dass sie Großes vorhat: Sie spreche hier,
sagte sie euphorisch, „als eine Bewerbe-
rin für das Amt der Regierungschefin des
Vereinigten Königreichs“. Das klingt erst
einmal vermessen; die LibDems haben
nur 14 Abgeordnete im Unterhaus, womit
Swinsons Chancen, von einer Mehrheit
ihrer Kollegen gewählt zu werden, derzeit
verschwindend gering wären. Aber die
39-Jährige ist nicht nur sehr selbstbe-
wusst und bereits eine erfahrene Politike-
rin, sondern sie weiß auch, dass sich die
Dinge in der britischen Politik sehr
schnell ändern können. Die LibDems lie-
gen derzeit in Umfragen bei etwa 20 Pro-
zent; und sollte es zu Neuwahlen kom-
men, rechnet sich Jo Swinson aus, dass sie
in einer Koalitionsregierung, die den Bre-
xit verhindern oder zumindest weiter eng
mit der EU kooperieren will, ganz vorne
mitspielen könnte.
Das sind hochfliegende Pläne. Strittig
ist allerdings derzeit der Weg dorthin.

Eine rechnerische Mehrheit der Abgeord-
neten will Boris Johnson stürzen, sofern
dieser an einem vertragslosen Austritt
aus der EU, an einem harten Brexit fest-
hält. Die Liberaldemokraten rund um
ihre neue Parteichefin sind glühende
Remainer; sie lehnen, genauso wie die
Grünen und die schottische Nationalpar-
tei, den Brexit grundsätzlich ab.
Derzeit wird im Unterhaus hinter den
Kulissen aber erst einmal nur darüber ver-
handelt, wie No Deal verhindert werden
kann; aktueller und realistischer Plan ist
ein Misstrauensvotum, und dann, nach
einem Sturz des Tory-Chefs, eine Über-

gangsregierung, die Neuwahlen ausruft.
Nur: Wer soll die, auf Zeit, führen?
Jeremy Corbyn, Parteichef von Labour,
findet selbstverständlich, er solle das tun.
Er hat einen entsprechenden Brief an die
anderen Oppositionsparteien geschrie-
ben. Jo Swinson, die schon mit 17 Jahren
ihrer Partei beigetreten und mit 25 als
sehr junge Abgeordnete ins Unterhaus ge-
wählt worden ist, die in der Koalitionsre-
gierung unter David Cameron erst in sei-
nem Stab, später als Unterstaatssekre-
tärin im Arbeitsministerium gearbeitet
hat, kennt Labour – und sie kennt die
Schlangengrube Westminster. Sie sagte
daher anfangs Nein: Corbyn habe schlicht
keine Chance, von Tories gewählt zu wer-
den. Eine Koalition der No-Deal-Verhinde-
rer brauche aber auch Tory-Stimmen,
wenn sie ihr Ziel erreichen wolle. Und sie
behielt recht: Die ersten Tory-Rebellen ha-
ben tatsächlich bereits abgewunken; sie
wollen Corbyn nicht in Downing Street se-
hen.
Jo Swinson ist nicht leicht einzuschüch-
tern. Die studierte Ökonomin ist mit noto-
risch guter Laune ausgestattet, sie ist
schlagfertig, feministisch und kämpfe-
risch. Ihr Plan war gewesen, einen erfahre-
nen Tory wie Kenneth Clarke oder die po-
puläre Labour-Abgeordnete Harriet Har-
man mit der Position eines Übergangspre-
miers zu betrauen. Aber der Druck auf sie
war dann doch zu groß: Mittlerweile sagte
Swinson immerhin zu, mit Labour verhan-
deln zu wollen. Sie weiß, dass der Sozialist
Corbyn für viele Abgeordnete unwählbar
ist. Aber sie sucht weiter eine gemeinsa-
me Lösung. Sie will nicht schuld daran
sein, dass eine Remain-Revolution wo-
möglich scheitert. Wichtig ist für sie, was
danach kommt. cathrin kahlweit

O


ft wird in Rathäusern um jede ein-
zelne Busspur erbittert gestritten.
Zu viele Politiker fürchten noch
immer den Zorn der Autofahrer, denen
Platz weggenommen wird. Doch es hilft
nichts: Weil der Bau neuer U-Bahn- und
Straßenbahnlinien viele Jahre dauert,
entlasten lediglich Busse die Straßen
kurzfristig. Nur mit Busspuren lässt sich
der Linienverkehr so beschleunigen, dass
er auch attraktiv ist. Und nur, wenn viele
Menschen auf den ÖPNV umsteigen,
sinkt die Umweltbelastung nennenswert.
So argumentieren die Verkehrsunterneh-
men seit Jahren. Doch die Städte kom-
men nur langsam den Forderungen nach
mehr Busspuren nach.
Setzt sich nun Bundesverkehrsminis-
ter Andreas Scheuer (CSU) mit seiner Idee
durch, die Spuren auch für Fahrgemein-
schaften und E-Scooter freizugeben, ver-
lören sie ihren Sinn. Die mit nur 20 Kilo-
metern pro Stunde vor sich hinzuckeln-
den E-Scooter würden die Linienbusse
radikal ausbremsen. An Ampeln, an de-
nen Busse Vorrang haben, würden Autos
die Spur blockieren – Fahrgemeinschaf-
ten hin oder her.
Und wofür das Ganze? Für wenige
Pendler, die allein auf dem Roller stehen
oder zu dritt im Auto sitzen, während sich
Dutzende Menschen im Bus darüber är-
gern, dass nichts vorwärts geht und am
Ende dann doch lieber auf das Auto um-
steigen. Eine Verkehrswende gelingt so
nicht. Das geht nur, wenn umweltfreund-
liche und massentaugliche Verkehrsmit-
tel eindeutig Vorrang genießen. Aber dar-
an hat Scheuer offensichtlich kein allzu
großes Interesse. andreas schubert


D


ie BDS-Bewegung gibt vor, die
Unterdrückung der Palästinen-
ser durch Israel beenden zu wol-
len. Sie macht das allerdings mit Argu-
menten und Methoden, die, so hat der
Bundestag festgestellt, antisemitisch
sind. Die BDS-Anhänger wollen Israel
durch „Boykott, Desinvestitionen und
Sanktionen“ wirtschaftlich ruinieren
und zu einer anderen Politik zwingen.
Die muslimischen US-Parlamentarie-
rinnen Ilhan Omar und Rashida Tlaib
unterstützen die BDS-Bewegung. Das
ist ihr Recht. Tlaibs Familie stammt aus
dem Westjordanland, sie weiß, was die
harte israelische Besatzungs- und Sied-
lungspolitik dort anrichtet. Zum kultu-
rellen und wirtschaftlichen Boykott Isra-
els aufzurufen, weckt zwar Erinnerun-
gen an üble Zeiten, fällt aber unter die
Meinungsfreiheit. Allerdings hat im Ge-
genzug die israelische Regierung das
Recht, einer Person die Einreise zu ver-
weigern, wenn diese sich zu einer antise-
mitischen Bewegung bekennt, die feind-
selige Akte gegen Israel propagiert.
Das heißt nicht, dass das zunächst
verhängte Einreiseverbot gegen Tlaib
und Omar in politischer Hinsicht klug
war. Israels Premier Benjamin Netanja-
hu hat damit vor allem seinem Freund
Donald Trump geholfen, den solche
Eklats stets freuen. Aber auch Tlaib hält
den Streit mit Netanjahu offenbar poli-
tisch für nützlicher als einen Kompro-
miss. Die später von Israel erteilte Er-
laubnis für einen Besuch bei ihrer Groß-
mutter im Westjordanland, bei dem sie
keine Boykotte fordert, schlug sie jeden-
falls aus. hubert wetzel

von lea deuber

E


in Hongkonger Geschäftsmann, Li
Ka-shing, hat am Freitag auf den
Titelseiten von Lokalzeitungen in
Hongkong den Teil eines chinesischen Ge-
dichts veröffentlicht. Es sind die Zeilen ei-
nes Kaisersohns aus der Tang-Dynastie,
der seine Mutter bittet, nicht ihre Kinder
für ihren eigenen Machterhalt zu opfern.
Unklar ist, an welche Seite der Ge-
schäftsmann in dem Konflikt appelliert.
Möglicherweise sind die Demonstranten
gemeint. Die Proteste gegen ein geplan-
tes Auslieferungsabkommen und die
massive Polizeigewalt sind in den vergan-
genen Wochen eskaliert. Ein Großteil der
Hongkonger demonstriert friedlich. Im-
mer mehr Teilnehmer bei den Demons-
trationen sind aber auch gewaltbereit. Je
gewaltsamer die Proteste, desto größer
die Gefahr, die Unterstützung für ihre For-
derungen in der Bevölkerung und im Aus-
land zu verlieren. Bilder der Unruhen
schaden zudem der Stadt. Viele fürchten,
die Krawalle könnten den Standort lang-
fristig schwächen. Die besten Absichten
können die schlimmsten Folgen haben,
heißt es in einer zweiten Anzeige von
Hongkongs reichstem Mann.
Vielleicht fühlt sich aber auch Peking
durch das Gedicht gemeint. Hongkong
war in den vergangenen Jahren für das
Regime unheimlich praktisch. Internatio-
nale Firmen ziehen lieber nach Hong-
kong als nach Festlandchina. Die Partei
ist durch ihren Machthunger daran ge-
scheitert, die Rechtsstaatlichkeit im eige-
nen Land zu stärken. Hongkong ermög-
lichte, die Reformen weiter zu verschlep-
pen. Auch für chinesische Firmen war die
Sonderverwaltungszone damit ein wichti-
ger Standort, um das Vertrauen internati-
onaler Partner zu gewinnen. Würde Pe-
king die Einsatzkräfte, die es bereits an
der Grenze zu Hongkong stationiert hat,

in die chinesische Sonderverwaltungszo-
ne schicken, wäre die Stadt über Nacht
wirtschaftlich tot. Profiteur wäre Singa-
pur. Kosten für China: unkalkulierbar.
Für Peking könnten die Früchte, die
keine weitere Ernte vertragen, wie es in
dem Gedicht heißt, auch die politischen
Maßnahmen der vergangenen Jahre
sein. Systematisch und unter der Oberflä-
che hat es seinen Einfluss in der Stadt aus-
geweitet, den Druck auf Andersdenken-
de erhöht und viele Freiheiten der Hong-
konger eingeschränkt. Ist das Regime zu
ungeduldig und schlägt zu, bevor die
Stadt komplett ausgeblutet und jeglicher
Widerstand gebrochen ist, könnte die
Lage weiter eskalieren. Die aggressiven

Angriffe auf die Grundrechte der Bevölke-
rung sind Mitgrund für die Proteste in
der Stadt. Eine militärische Lösung dürf-
te wirtschaftliche Sanktionen nach sich
ziehen. Vielleicht liest Peking aus den Zei-
len einen Aufruf zu mehr Geduld.
Neben dem rätselhaften Aufruf des
Hongkonger Tycoons wäre längst auch
ein klares Auftreten der deutschen Wirt-
schaft in der Stadt nötig. Weder die wach-
senden Eingriffe noch die Massenprotes-
te mit bis zu zwei Millionen Teilnehmern
haben bisher zu einem Umdenken ge-
führt. Erst nachdem der Flugverkehr
durch die Proteste für zwei Tage einge-
schränkt war, rang man sich diese Woche
zu einem halben Statement durch. Im
Hintergrund verbieten deutsche Firmen
ihren Mitarbeitern, an den Protesten teil-
zunehmen. Jedes Wort wird abgewogen,
die Bundesregierung um leise Töne ange-
fleht. Auch an solche schnöde Gier kön-
nen sich Lis Worte richten.

von ferdos forudastan

I


st das Glas halb voll oder halb leer? Zei-
gen die aktuellen Kandidaturen um
den SPD-Vorsitz, welches personelle
Potenzial in dieser Partei am Rande des
Abgrunds doch noch steckt? Oder macht
der plötzliche, zum Teil auch überraschen-
de Ansturm zunehmend prominenter Ge-
nossen auf die Spitze deutlich, dass die So-
zialdemokraten einfach nicht wissen, was
sie wollen? Vor allem: Ist die Bereitschaft
von Olaf Scholz, sich nun doch um den Vor-
sitz zu bewerben, die gute Tat eines Partei-
soldaten? Oder Ausdruck der Sorge eines
ehrgeizigen Politikers, nach dem absehba-
ren Ende der großen Koalition und dem
Verlust des eigenen Ministeramts in der
Bedeutungslosigkeit zu verschwinden?
Wahrscheinlich von allem etwas. Das
Kandidatenkarussell war erst zäh angelau-
fen, dann zuweilen fast stehen geblieben
und hatte zuletzt den Blick immer öfter
auf einen peinlichen Umstand gelenkt:
dass die infrage kommenden führenden
Genossen das höchste Amt in der SPD
offenbar für zu unattraktiv hielten, um
sich darum zu bewerben. Anders ausge-
drückt: dass das Verantwortungsgefühl
für ihre nahezu am Boden liegende Partei
nicht groß genug war, um diesen zugege-
benermaßen riskanten Schritt zu gehen.
Mag sein, dass der eine oder die andere in
der SPD nun unter dem Druck der öffentli-
chen Kritik an den Sozialdemokraten und
ihrem Findungsprozess für die künftige
Führung reagiert haben. Oder dass man-
cher nur deswegen den Finger hebt, um
andere Genossen zu verhindern. Aber
ganz gleich, was das Motiv hinter den Be-
werbungen ist – Hauptsache das quälen-
de Warten auf halbwegs prominente
und/oder ranghohe Aspiranten zieht sich
nicht noch länger hin.
Der prominenteste, ranghöchste unter
ihnen, Olaf Scholz, kann nun für sich in

Anspruch nehmen, dass seine Bereit-
schaft zur Kandidatur ein wenig Druck
von der Partei nimmt, dass ihr Vorsitz nun
nicht ganz so nach saurem Bier riecht wie
bisher. Zwar lässt sich gegen das Signal
des Vizekanzlers und Bundesfinanzminis-
ters einwenden, dass es nicht allzu viel
Strahlkraft hat: weil es spät kommt; weil
Scholz und sein Umfeld offenbar Wert auf
den Eindruck legen, dass nicht Lust und
Leidenschaft ihn drängen, sondern grau-
es Pflichtgefühl; weil er selbst noch vor ei-
nigen Wochen ausgeschlossen hatte, für
den Parteivorsitz zu kandidieren – und
das mit dem für einen Politiker mit höchs-
ten Ambitionen schwachen Argument, die-
se Aufgabe sei neben seinem Amt in der

Bundesregierung nicht zu schaffen; weil
Scholz bei vielen Genossen recht unbe-
liebt ist; weil er, der schon so lange zur
Führung der SPD gehört, für das Gegen-
teil von Erneuerung steht, nach der so vie-
le Genossen sich heftig sehnen; weil ihm –
zumindest bis Freitagnachmittag – eine
Frau an der Seite fehlt, mit der er die von
großen Teilen der Partei favorisierte Dop-
pelspitze bilden könnte.
Trotz dem verleiht Scholz’ zu erwarten-
der Schritt der SPD etwas mehr Schwung
als die anderen Kandidaturen. Und er
wirft noch stärker als bisher die Frage auf,
wie es mit der großen Koalition weiter-
geht. Als Anhänger von Schwarz-Rot steht
Scholz, anders als wohl die meisten seiner
Konkurrenten, für einen Verbleib in dem
in der SPD weithin ungeliebten Bündnis.
Und vielleicht beflügelt ja auch die an den
Kandidaten entlang geführte Auseinan-
dersetzung ums Drinbleiben oder Rausge-
hen die zuletzt so müde SPD ein wenig.

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P


olitische Wahlen können
schnell zu einer emotionalen
Angelegenheit werden. Dann
geht es um Gefühle wie Vertrau-
en und Zufriedenheit. Wenn
genügend Menschen unzufrieden sind,
wird eine demokratische Regierung abge-
wählt und die Stimmung bessert sich
meist. Jedenfalls bis zum nächsten Mal.
In Russland funktioniert dieses Ventil
nicht. Weil es dort wenig demokratisch zu-
geht, bleiben den Menschen ihre Unzufrie-
denheit und ihr Misstrauen. Abstimmun-
gen sind gelenkt, Opposition wird ledig-
lich imitiert. Eine Alternative zu Wladimir
Putin würde nie geduldet, darf nicht mal
im Kleinen heranwachsen. Diese Schran-
ken machen die Wahl zum Moskauer
Stadtparlament gerade zu einer beson-
ders emotionalen Angelegenheit.
Dabei ist das Motiv, das Tausende sams-
tags auf die Straße treibt, ein altes: der
Wunsch mitzuentscheiden. Die Reaktion
des Kreml ist stets dieselbe, mehr Druck.
So weit ist, was in Moskau geschieht,
nichts Neues. 60 000 Demonstranten wie
am vergangenen Samstag
gefährden das Regime
nicht. Doch die Stimmung
setzt sich fest und wird
stärker. Manche sprechen
von einem Wendepunkt.
Nur, Wende wohin?
Vor sieben Jahren ha-
ben schon einmal hundert-
tausend Menschen in Mos-
kau gefordert, eine echte
Wahl zu bekommen. Da-
mals wurde Putin zum
dritten Mal Präsident. Die-
jenigen, die mehr Freiheit
wollten, strafte er mit grö-
ßerer Unfreiheit ab. Die
Regierung schuf repressi-
vere Gesetze. Die Bereit-
schaft, sich zu wehren, ver-
schwand dadurch nicht,
sie tauchte nur unter. Und
sie taucht wieder auf,
wenn die Menschen gegen
die Rentenform, eine Müll-
deponie, eine korrupte
Justiz oder für ein freies In-
ternet demonstrieren. Auch die jüngsten
Regionalwahlen waren eine Art Gegen-
wehr gegen das System: Mehrere Kreml-
Kandidaten verloren überraschend.
Die Forderungen der Demonstranten
unterscheiden sich zwar, doch bei Protes-
ten wirkt immer die Frustration mit, nicht
gefragt worden zu sein. Keine Alternative
zu haben zur heutigen Politik. Jahr um
Jahr können sich die Menschen im Schnitt
weniger leisten für ihr Geld. Was in jeder
Gesellschaft Unmut auslöst, erhöht auch
in Russland die Protestbereitschaft.
Wahr ist zwar auch, dass eine deutliche
Mehrheit zu Hause bleibt und von Protes-
ten höchstens am Rande aus dem Staats-
fernsehen erfährt. Wenn die Menschen
entscheiden sollen, ob sie mit Putin einver-
standen sind, sagen etwa zwei Drittel der
Befragten Ja. Das klingt nach viel, ist aber
deutlich weniger als noch vor zwei Jahren.
Stellt man die Frage danach, welchem Poli-
tiker die Leute vertrauen, nennen nur
noch 40 Prozent den Präsidenten. Doch
fällt ihnen auch niemand anderer ein,
dem sie ihr Vertrauen schenken.
Diese Zahlen sind wichtig, weil das Re-
gime den Anschein erwecken möchte, de-
mokratisch legitimiert zu sein. Die Protes-
te in Moskau lassen vermuten, dass das
schwieriger werden wird. Egal, ob es ums
Bezirksparlament geht oder um die Wahl


der Staatsduma in zwei Jahren, es werden
immer mehr Wähler nach echten Alterna-
tiven rufen. Damit fordern sie etwas, das
Putin ihnen auf keinen Fall geben will.
Der Kreml regiert nervöser als früher.
Eine schier absurde Zahl an Sicherheits-
kräften stellt sich in Moskau friedlich Pro-
testierenden entgegen. Manche nennen
die Beamten „Kosmonauten“, wegen ihrer
schweren Helme. In ihren Rüstungen se-
hen sie in der Moskauer Fußgängerzone
aus wie fremde Wesen. An drei Protestwo-
chenenden haben sie 2500 Menschen ab-
geführt, die meisten sind bald wieder frei-
gelassen worden. 14 Protestlern drohen
mehrere Jahre Haft, etwa weil sie mit ei-
nem Papierbecher oder einer Konserven-
dose nach den Kosmonauten geworfen ha-
ben sollen. Alle Kräfte des Systems – Poli-
zei, Nationalgarde, Gerichte, das Außen-
ministerium, das von westlicher Einmi-
schung spricht, sogar Universitätsdirekto-
ren, die ihre Studenten vor dem Demons-
trieren warnen – wollen zeigen, dass sie ih-
ren Beitrag leisten, die Ordnung wieder-
herzustellen. Es wäre ein beinahe lächerli-
ches Schauspiel, wären
die Folgen für die Inhaf-
tierten nicht so ernst.
Für Putin beginnt, an-
ders als 2012, keine neue
Regierungsphase. Statt-
dessen endet 2024 seine
letzte Amtszeit als Präsi-
dent, falls er die Verfas-
sung nicht ändert. Was da-
nach kommt? Niemand
wagt es, laut zu fragen.
Der Kreml will in dieser
Phase keine Überraschun-
gen riskieren, selbst wenn
es um die Wahl eines eher
unbedeutenden Stadtpar-
laments geht.
Dass die Moskauer den
Kreml mit ihrem Protest
überrascht haben, lastet
er der Stadtregierung an.
Der Kontrollverlust
schwächt die politischen
Institutionen, Bürger-
meister, Stadtparlament,
Wahlkommission. Sie ha-
ben zu plump versucht, das Wahlergebnis
zu manipulieren. Ihr Versagen stärkt die
Sicherheitsbehörden, welche die Stadt
wieder unter Kontrolle bringen sollen. Da-
mit könnten Kräfte Auftrieb bekommen,
die sich fragen, wozu der Machtapparat
überhaupt noch demokratische Wahlen in-
szeniert. Selbst auf Moskaus renovierten
Straßen zerbröckelt der schöne Schein
von Rechtsstaatlichkeit. Das ist die
schlechte Nachricht.
Die gute ist, dass auch die Zivilgesell-
schaft seit 2012 stärker wurde. Es erwuch-
sen Organisationen wie OWD-Info, an die
sich Festgenommene wenden können,
oder Agora, eine Gruppe von Menschen-
rechtsanwälten. Es gibt neue Netzwerke,
über die sich Berichte über Verstöße der
Behörden rasch verbreiten. Und es gibt
eine neue Generation von Oppositionspoli-
tikern, die in lokalen Wahlkreisen um Ver-
trauen werben und auch gewinnen, wenn
sie antreten dürfen. Sie gehen einen Weg,
den Putin nie gegangen ist, bevor er vor
20 Jahren erstmals Premier wurde.
Die Proteste haben diese frischen Politi-
ker prominent gemacht. Bisher werden
beide von einem Gefühl getragen, das
kein anderes Ventil findet. Jetzt müssen
sie politische Forderungen stellen, die
nicht nur wünschenswert, sondern viel-
leicht sogar durchsetzbar sind.

Für leidenschaftliche Auto-
fahrer, die im Urlaub gern
ein paar Tausend Kilometer
zurücklegen, ist dieser Zug
nichts. Menschen aber, die
nicht so sehr am eigenen Lenkrad hän-
gen, bietet er durchaus eine Alternative.
Der Autoreisezug nimmt Auto, Motorrad
oder Camper Huckepack, während deren
Besitzer den Speisesaal und danach den
Schlafwagen nutzen können. Der Zug zur
Zeit also, sollte man meinen, ein Garant
für optimale Travel-Eat-Sleep-Balance
auf dem Weg in den Urlaub, beworben
schon 1930 von der Deutschen Reichs-
bahn als „Auto-Gepäck-Verkehr“. Nur:
Der Kunde sieht’s anders. Weil die Nach-
frage seit Jahren zurückging, stellte die
Deutsche Bahn den Service 2017 ein. Die
Österreichischen Bundesbahnen und pri-
vate Anbieter wie Train4you oder Bahn-
TouristikExpress sprangen ein. Denen
zufolge nutzen heute vor allem Familien
das Angebot und Besitzer von Oldtimern,
die sich so lange Wege zu ihren Treffen
sparen. Die Streckenführung ist über-
schaubar: Die Züge fahren ab Hamburg
und Düsseldorf wahlweise nach Lörrach,
Villach, Verona, Innsbruck. Die meisten
passieren München, wo nun ausgerech-
net der dort lang ersehnte Ausbau der
S-Bahn Probleme macht. Am Ostbahn-
hof, wo die Verladestation liegt, wird der
Platz knapp. Die Zukunft des Autoreise-
zugs ist also mal wieder ungewiss. mai

4 MEINUNG HF3 Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019, Nr. 189 DEFGH


BUSSE

Ausgebremst


ISRAEL

Kalkuliert


HONGKONG

Kinder der Revolution


Wasfehlt: Klare
Stellungnahmen deutscher
Unternehmen zu den Protesten

SPD

Ein Lebenszeichen


Auf die Busspur ausgewichen sz-zeichnung: luismurschetz

RUSSLAND


Kampf um Kontrolle


von silke bigalke


AKTUELLES LEXIKON


Autoreisezug


PROFIL


Jo


Swinson


Liberalebritische
Politikerin mit
großen Plänen

Scholz ist kein Traumkandidat,
doch seine Bewerbung für den
Vorsitz tut der Partei gut

Die Demonstranten
in Moskau treibt
der Wunsch an,
endlich
mitzuentscheiden.
Doch das möchte
Putin keinesfalls
gewähren. Der
schöne Schein der
Rechtsstaatlichkeit
zerbröckelt
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