Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1

W


as ist schlimmer als ver-
lieren? Siegen. Tatsächlich
sieht die Stadt in Südwest-
falen ja aus, als ob sich ein
paar Baumärkte zum Wei-
nen in die Berge verzogen hätten, wie böse
Zungen behaupten. Die Schmähkritik
trifft den im kommunalen Ernst als „Ober-
zentrum“ bezeichneten Ort jedoch vermut-
lich nur deshalb mit solcher Wucht, weil
gewinnen nun mal nicht sehr populär ist in
diesem Land. Die Sympathien gelten eher
den drolligen Verlierern, den liebenswer-
ten Losern, den Tunichtguten und Hans-
guck-in-die-Lufts, oder wenigstens jenen,
die allenfalls lässig und gleichsam neben-
bei ihre Erfolge einstreichen.
Gewinnern darf man also nicht auf den
ersten Blick anmerken, dass sie erfolgreich
sind. Es sei denn, dass sie gleich-
zeitig einen Beitrag für das
große Ganze leisten. Natürlich
werden „unsere“ Olympiasie-
ger bewundert und gefeiert,
was vor allem daran liegt, dass
damit auch Deutschland vorn
im Medaillenspiegel steht.
Trotzdem gilt auch für diese na-
tionalen Stellvertreter, dass die
Erfolgreichen eher akzeptiert
werden, wenn sie sich in aller
Bescheidenheit zeigen.
Warum also wird hierzulan-
de so verdruckst mit Erfolg,
Leistung und Siegen umgegan-
gen? Gewinnen, unbedingt der
Erste sein wollen, hat schnell
den Hautgout des Angestreng-
ten und Angeberischen. Es
riecht entweder penetrant
nach Schweiß – oder aber nach
Protz und kleinkrämerischer
Prahlerei, wie bei dem über-
artikulierenden Trigema-Schwaben aus
der Werbung, dessen Affe immerhin
Hochdeutsch konnte.
Ganz anders verhält es sich mit dem
Stolz auf die eigenen Leistungen (oder die
seiner Liebsten) in den USA. Dort prangt
am Auto mancher Eltern ein Aufkleber, der
davon kündet, dass der Nachwuchs als Bes-
ter an der High School abgeschnitten hat,
und Papi erzählt gerne beim ersten Bier,
dass er 180 000 Dollar im Jahr „macht“.
Von den Familienkutschen in Deutschland
ist hingegen abzulesen, dass auch „Anna
und Leon an Bord“ sind, und Vati lässt sich
nach dem vierten Bier entlocken, dass er


zwar „nicht schlecht“ verdient, sich das
aber auch redlich erarbeitet hat.
„Es war ein langer, weiter Weg“, heißt es
in der FC-Bayern-Hymne mit dem erfri-
schend unbescheidenen Titel „Forever
Number One“. Aber klar, „wir wollten mehr
von Anfang an“, verrät die nächste Lied-
zeile das betriebseigene Erfolgsgeheimnis.
Ohne die vorherige Anrufung der protes-
tantischen Leistungsethik kann man sich
nicht mal ruhigen Gewissens im Mia-san-
mia-Gefühl des Rekordmeisters aalen.
„Natürlich hat Siegen- und Gewinnen-
wollen auch hier einen hohen Stellenwert“,
sagt Dieter Frey, Sozialpsychologe an der
Ludwig-Maximilians-Universität Mün-
chen und langjähriger Leiter der Bayeri-
schen Eliteakademie. „Deutschland ge-
hört zu jenen Ländern, in denen das Leis-
tungsprinzip eine große Rolle
spielt und der Konkurrenz-
kampf in Schulen, Universitäten
und Firmen groß ist.“ Erfolg gel-
te demnach besonders dann als
wichtig, wenn er dabei hilft, in
der Karriere voranzukommen.
„Aber schon von klein auf lernen
wir in Deutschland, wohl mehr
als in anderen Ländern: Sei kein
Angeber! Prahle nicht mit dei-
nen Erfolgen!“
Viele Menschen, die in Schule
oder Wissenschaft besondere
Leistungen erbringen, würden
deshalb in der Gruppe auffällig
bescheiden sein, weil sie be-
fürchteten, sonst von weniger
erfolgreichen Gruppenmitglie-
dern ausgeschlossen und nicht
mehr als Teil der Gruppe wahrge-
nommen zu werden. Es geht in
der Darstellung des Erfolgs
immer auch um Zugehörigkeit,
sowie die Angst, ausgegrenzt zu werden. In
der Praxis führt das manchmal in grotes-
ker Überkompensation zu unglaubwürdi-
gen Demutsgesten, Stichwort falsche Be-
scheidenheit, etwa wenn deutsche Schau-
spieler sich artig für Preise bedanken, statt
vor Freude die Sau rauszulassen.
Wie eine Gesellschaft mit Erfolg um-
geht, ist von Land zu Land unterschiedlich
und noch dazu milieuspezifisch, das haben
Soziologen oft beobachtet. In der Schweiz
ist es beispielsweise verpönt, seinen Reich-
tum offensiv zu zeigen. Gediegener Wohl-
stand gilt meist als selbstverständlich, und
man würde rapide an gesellschaftlichem

Ansehen verlieren, würden Luxusgüter
oder andere Hinweise auf das Vermögen
zur Schau gestellt. Religionssoziologisch
lässt sich die Zurückhaltung mit den stren-
gen Lehren der Herren Calvin und Zwingli
erklären, die auch Regionen Süddeutsch-
lands im Griff von Lustverzicht und Selbst-
beherrschung haben. Aus pragmatischer
Sicht verhindert das eidgenössische Under-
statement Neidkampagnen – und beugt
vielleicht auch Einbruchsdelikten vor.
Es ist aufschlussreich, welche Stereo-
type und Kategorien diese Geisteshaltung
der Leistungsverschleierung hervorge-
bracht hat. Das Klischee des Strebers
beispielsweise zeigt den erfolgreichen
Schüler ausschließlich als Negativfigur,
gegen den schon mal aggressiv vorgegan-
gen wird, wenn er sich seltsam gebärdet.
Er mag gute Noten in Serie
einheimsen, dafür ist er aber
notorisch unsportlich, meist
Brillenträger und in der Klasse
unbeliebt, sodass er das nahelie-
gende Mobbingopfer wird. Kör-
perkraft ist nach dieser Lesart
wichtiger als kognitive Brillanz.
Die Traditionslinien dieser
Haltung lassen sich verstreut in
der Kulturgeschichte finden.
Der auf den Hügeln des Glücks
beheimatete Goethe, dem alles
zu gelingen schien und der
selbst Krisen und Komplikatio-
nen in eine Erfolgsgeschichte
oder wenigstens einen Bestsel-
ler umzudeuten wusste, ist vie-
len Lesern suspekt. Sie sympa-
thisieren eher mit dem ständig
hadernden und kränkelnden
Schiller, der seinen faulenden
Apfel in der Schublade als
Mahnmal der Vergänglichkeit
pflegte und sich angeblich am modrigen
Geruch des Obstes berauschte. Goethe in-
des kurierte sich von seiner Höhenangst,
indem er sich während seiner Straßburger
Zeit aus einem ungesicherten Fenster im
Turm des Münsters hinauslehnte, wie er in
„Dichtung und Wahrheit“ prahlt.
Und gilt nicht auch der leicht melan-
cholisch wirkende Lionel Messi, der immer
ausschaut, als würde er nach dem Weg
fragen müssen, als weitaus sympathischer
im Vergleich zu Cristiano Ronaldo, seinem
ähnlich erfolgreichen Widerpart, dessen
Posen und unwirkliche Paraden die halbe
Welt fassungslos machen (oder heimlich

verzücken, was außer verliebten Mädchen
aber kaum jemand zugibt)?
In der Mentalitäts- und Geistesgeschich-
te sind die Spuren ebenfalls nicht zu über-
sehen. Der Untertanengeist, den nicht nur
Heinrich Mann beschrieb, war der Grund-
ton des Kaiserreichs. Und zur faschisti-
schen Ideologie gehörte es, dass keiner aus
dem Kollektiv der Volksgemeinschaft
herausragen sollte, sondern in der Masse
aufgehen. Zwar wähnten sich die Nazis als
Arier allen anderen überlegen, ihre Insze-
nierungen – etwa auf dem Reichspartei-
tagsgelände – zeigten aber, dass sich der
Einzelne in die Gruppe einzufügen hatte.
In den Siebzigerjahren, dem sozialdemo-
kratischen Jahrzehnt, galt Elitenförde-
rung als bäh und Schwelgen in Luxus wur-
de allenfalls als exotisches Verhalten auf
Onassis-Yachten und in Gunter-
Sachs-Anekdoten bestaunt.
Während es die Evolution mit
manchen Strebern gut meinte
und sie sich zu Nerds ausdiffe-
renzierten, sofern sie Informa-
tik oder Physik belegt hatten, so-
dass ihnen immerhin ein Start-
up zugetraut wurde, gibt es mit
der Sozialfigur des Aufsteigers
bis heute wenig Erbarmen. Frü-
her wurde er als Glücksritter be-
zeichnet, heute zeigt er sich im
Aggregatzustand des Parvenüs.
Von ihm ist nichts Dauerhaftes
zu erwarten, er hinterlässt ei-
nen unseriösen Eindruck und
sein Erfolg wirkt so flüchtig wie
sein Auftreten stillos.
Richard „Mörtel“ Lugner hat
diesen Typus jahrelang zuverläs-
sig bedient, und Donald Trump
irritiert auch deswegen viele
Old-School-Europäer, weil es da-
mit jemand zum mächtigsten Politiker der
Welt gebracht hat, der den Gestus des Em-
porkömmlings ebenso wenig abstreifen
kann wie seine schlechten Manieren. Man
rieche ihm den Schweiß des Aufstiegs
immer noch an, hat der französische
Soziologe Pierre Bourdieu, der großartige
Chronist der „Feinen Unterschiede“, einst
über den Aufsteiger geschrieben. In der
Gesellschaft der schon immer Reichen und
Berühmten kann er den Habitus seiner
Herkunft nie ganz verleugnen und fällt
deshalb unangenehm auf, so wie Gerhard
Schröder auch nach seiner Kanzlerschaft
weiter das Dröhnen und Bollern pflegt.

Mit einer Fünf in Mathe zu kokettieren,
wie es in manchen intellektuellen Kreisen
en vogue ist, offenbart ähnliche Muster.
Einerseits zeigt der gegenwärtige Status ja,
dass man es trotzdem geschafft hat. Zu-
dem ist einem der Rückhalt derer gewiss,
die sich von der Mathe-Fünf karrieretech-
nisch nie erholt haben. Der Slogan „Gute
Mädchen kommen in den Himmel, böse
überallhin“, folgt vergleichbaren Mustern,
nach dem Motto: Misserfolg und Fehler
könnten mir auch passieren. Zudem wird
die Leistungsverweigerung aufgewertet,
weil sie als lässig gilt. Storys vom Scheitern
sind meist die unterhaltsameren Geschich-
ten. Die Fünf in Mathe, immer hinten im
Bus gesessen, wild und gefährlich, solche
Attribute runden das Selbstbild einer
verwegenen Existenz ab.
Das heißt im Subtext aber
auch – einer von uns, auf dem
Boden geblieben, nicht abgeho-
ben. „Erfolg ist immer eine Be-
drohung für die weniger erfolg-
reichen Gruppenmitglieder, die
dann versuchen, ihre Gruppen-
identität zu wahren, indem sie
den Erfolgreichen das Leben
schwer machen“, sagt Sozial-
psychologe Frey.
Parallel dazu lässt sich beob-
achten, dass es in Deutschland
kaum eine Praxis von Lob und
Anerkennung gibt. Auch hier
zeigt sich wieder: bloß nicht auf-
fallen. Mit genialen Spinnern,
Entdeckern und Erfindern
werden hingegen Begriffe ver-
bunden wie Nörgler, Besserwis-
ser, Sturkopf. „Darin zeigt sich
die Ambivalenz gegenüber Spit-
zenleistungen“, sagt Frey. „Aller-
dings muss man zwischen der
Binnengruppe und Personen außerhalb
unterscheiden. In der Familie oder im
Team des Siegers wird der Erfolg natürlich
gefeiert und bejubelt. Wir reden vor allem
über Neid außerhalb der Binnengruppe.
Und da ist Deutschland eine Neidgesell-
schaft, in welcher der Erfolg der Einzelnen,
die damit auch einen Beitrag zum Erfolg
der Gesamtgesellschaft leisten, zu wenig
gewürdigt wird.“
In den USA, wo die wirtschaftsliberale
Kultur stärker verankert ist, gilt hingegen:
Jeder ist seines Glückes Schmied. Diese
Einstellung hat ebenso wie etliche Pionier-
leistungen, inklusive der Eroberung des

Westens, viel zur dynamischen Entwick-
lung des Landes beigetragen. Die unge-
brochene Fortschrittssaga geht allerdings
damit einher, dass dem Einzelnen in der
amerikanischen Gesellschaft mehr Härten
zugemutet werden, was sich in der dürfti-
gen sozialen Absicherung zeigt – während
in Deutschland zwar kaum jemand den
Kopf aus dem Kollektiv zu strecken wagt,
man aber noch immer weitgehend von der
Solidargemeinschaft aufgefangen wird.
In den vergangenen Jahren sind die
Trennlinien unschärfer geworden, die Er-
folgsorientierung hat auch in Deutschland
zugenommen. Jeder ist eine Ich-AG und
soll Unternehmer seiner selbst werden.
Vielleicht ist das einer der Gründe, warum
heutzutage bei Jugendfußballturnieren
jedem Ersatzspieler des Letztplatzierten
eine Medaille um den Hals
gehängt wird oder er einen Mini-
Pokal in die Höhe recken darf;
frenetisch bejubelt von der El-
ternschar. Früher hätte es allen-
falls einen Pokal für die Sieger
gegeben. Wohlgemerkt einen
für die ganze Mannschaft –
nicht für jeden. Symbolische
Gratifikationen sollen, ähnlich
der in Mode gekommenen Wahl
zum Mitarbeiter des Monats,
verschleiern, dass der Wett-
bewerb rauer geworden ist und
welchen Preis die neue Leis-
tungsethik kostet.
Die bewährten Muster, mit
Leistung und Erfolg umzuge-
hen, sind jedoch selbst Abgren-
zungsversuche alter Milieus aus
den Resten des Bürgertums und
den Siegelbewahrern der ver-
blassenden Hochkultur. Längst
ist es ja unter Rappern und in
manchen Migrantenszenen populär, sich
deviant zu verhalten und mit Goldketten
und fetten Autos zu protzen. Auch in Cas-
ting-, Realityshow- und Charity-Formaten
wird ungeniert der Wohlstand rausge-
kehrt, was Phänomene wie die Kardashi-
ans oder die Geissens hervorbringt.
Deren Gehabe als geschmacklos und
obszön zu schelten, zeigt wiederum die Ab-
stiegsängste einer verunsicherten Mittel-
schicht, die sich nach unten abgrenzt und
damit noch einen milieuspezifischen Sieg
erringen will. Natürlich soll das diskret,
aber im Gestus kultureller Überlegenheit
geschehen – auf keinen Fall protzen.

Überlebenstraining: Wie schon
sieben Monate alte Kinder lernen,
über Wasser zu bleiben  Seite 52

Von klein
auf lernen
die Kinder,
bloß nicht
mit dem
ersten
Platz zu
prahlen

Erfolg ist
immer
auch eine
Bedrohung
für jene,
die nicht
so viel
können

In der Schwebe
FOTO: JULIA ROTHHAAS

Die Musikstadt New Orleans ist das
schwarze Herz Amerikas. Nun aber
droht der Ausverkauf  Seite 51 Vor hundert Jahren führte das härteste
Radrennender Geschichte an den Schlachtfeldern
des Ersten Weltkriegs vorbei  Seite 55

DEFGH Nr. 189, Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019 49


GESELLSCHAFT


Erster!


Erfolg zur Schau


zu stellen, ist verpönt.


Den Verlierern fliegen


die Herzen zu,


die Sieger haben gefälligst


bescheiden zu sein.


Von unserem


seltsamen Verhältnis


zur Leistung


von werner bartens


In den USA
gilt: Jeder
ist seines
Glückes
Schmied.
Wer siegt,
darf auch
jubeln

Auf der Kippe
FOTO: DPA

Auf der Strecke


„Die Rhetorik des Hasses schlägt sich
auch inTaten nieder“: Historikerin
Mirjam Zadoff im Interview  Seite 56

Antisemitismus


FOTO: NATALIE NEOMI ISSER

Dabei sein ist alles: Es gibt heute viele Pokale im Jugendfußball – nicht nur für die Sieger. FOTO: MAURITIUS IMAGES
Free download pdf