Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1
SpielfreudeHiersitze ich in der Werk-
statt des Passionstheaters, ich bin fünf-
zehn. Damals habe ich jede freie Minute
dort verbracht und mich irgendwann
quasi selbst zum Regieassistenten er-
klärt. Was der Spielleiter davon gehalten
hat, weiß ich nicht genau. Ähnlich war es
beim Trachtenverein, in der Kirchen-
gemeinde, bei der Musikkapelle: Diese
Gruppierungen im Dorf haben mich ma-
gisch angezogen. Ich war Vorplattler und
habe Bass gespielt, wir haben für hohe
Feiertage Blumenteppiche geflochten
oder auf dem Kirchenspeicher alte Pro-
zessionsfahnen ausgegraben und her-
gerichtet. Beim Einzug in der Osternacht
habe ich dafür gesorgt, dass es in der
Kirche wirklich stockfinster war, ohne
die Notausgangslichter. Wie ein Zeremo-
nienmeister. Heute, im Rückblick ist mir
klar: Eigentlich habe ich schon immer
inszeniert.

PassionsspieleMeine erste Regie in
Oberammergau, ich war mit 28 der
jüngste Spielleiter dort. Mir war wich-
tig, bestimmte Neuerungen einzufüh-
ren. Etwa dass die Maria von einer
verheirateten Frau dargestellt werden
darf. Bei mir gab es auch den ersten
evangelischen Hauptdarsteller. Ich
fand, die Einschränkungen passen
nicht mehr in unsere Zeit. Entscheidend
ist: Wer kann gut Theater spielen? Aber
im Dorf gab und gibt es Leute, die an
Traditionen festhalten wollen. Ich bin
angeeckt. Es gab eine Unterschriftenlis-
te des Pfarrers gegen mich. Man hat mir
Müll vor die Haustür gekippt. Und ich er-
innere mich an meine allererste Probe,
400 Leute auf der Bühne, das war ein
echtes Kräftemessen. Viele haben mich
abgelehnt. Mir ist da oben ganz heiß
geworden. Aber es ist mir gelungen, mir
Respekt zu verschaffen. Jahre später
gab es ein Bürgerbegehren, das die Kon-
servativen überrascht hat: Das Dorf hat
in der Mehrheit für mich gestimmt. Ich
war nicht sicher, wie es ausgeht. Aber
ich wusste, es gibt viele Junge und auch
Ältere, die offen sind für Veränderung.

Raouf2015, Höhepunkt der sogenann-
ten Flüchtlingskrise. Ich weiß noch, wie
ich mit Albert Ostermaier, dem Dramati-
ker, gesprochen habe, der sagte: Es ist
so toll, wie die Menschen in München
am Hauptbahnhof reagieren, diese un-
heimliche Hilfsbereitschaft. Ich war
skeptisch, ob das lange hält. Und dann
saß, als wir Nabucco geprobt haben im
Festspielhaus, irgendwann dieser junge
Mann im Zuschauerraum. Drei Tage
hintereinander. Am dritten Tag bin ich
hin zu ihm und habe gefragt: Wie heißt
du, wer bist du? Er hat auf die Bühne
gezeigt und gesagt: Schön. Sonst nichts,
nur ‚schön‘. Und seither gehört Raouf zu
unserer Familie dazu. Er kommt aus
Afghanistan, und ich war völlig über-
rascht, als meine 78-jährige Mutter sag-
te, er solle zu ihr ziehen. Es war wichtig,
dass er aus der Flüchtlingseinrichtung
rauskam, weil es dort nur Frust gab und
ständig Konflikte um ihn herum. Jetzt
macht er eine Ausbildung zum Touris-
musfachmann und verkauft Passions-
Tickets. Gestern habe ich ihn nach
München gebracht, weil er dort einen
Intensivkurs in Deutsch besucht. Für
mich ist es schön zu sehen, wie er jeden
Tag mit seinen Aufgaben wächst. Mir
ging es nie darum, politisch Flagge zu
zeigen. Sondern der Raouf war einfach
eines Tages da.

BuhlschaftDas ist in Salzburg mit
Marie Bäumer, beim Jedermann. So,
wie das Foto ausschaut – nach der Pre-
miere, wenn alle erleichtert sind. Bei
den Festspielen auf dem Domplatz zu
inszenieren, war natürlich reizvoll für
mich. Ich habe das ja mehr als zehn
Jahre gemacht. Wobei das Spektakel
schon seine Eigenheiten hat. Allein die
Aufregung um die Buhlschaft, dabei ist
das eine der kleinsten Rollen! Marie hat
sie einmal gespielt, dann war sie wieder
weg. Mit dem Stück von Hofmannsthal
habe ich mich hart getan. Wie erzählt
man eine so moralisierende Geschichte
zeitgemäß? Und auch wenn ich hier ent-
spannt aussehe, Premierenabende sind
eigentlich furchtbar für mich. Ich bin
wahnsinnig aufgeregt. Das Schlimmste
ist: Ich kann nicht eingreifen. Ich bin
zum Zuschauen verdammt, egal, was
sie vorne auf der Bühne machen.

RomIm Mai habe ich dort einen Vortrag
gehalten auf einer Tagung über „Jesus
and the Pharisees“. Es ging um die
Darstellung der Pharisäer in Musik und
Theater. Schon verrückt, um mich herum
Theologiestudenten und -professoren
aus aller Welt, ich war als Einziger kein
Professor. Hier bin ich mit zwei Jesuiten
auf einem Aussichtspunkt, wir waren
gemeinsam unterwegs, haben im Ghetto
in wunderbaren koscheren Restaurants
gegessen. Rom als Schmelztiegel, das hat
mich fasziniert. Und dass der Geldauto-
mat im Vatikan in der Weltkirchenspra-
che programmiert ist: auf Lateinisch.

WirtshausDas war im Fasching zur Kin-
dergartenzeit, ich schätze, dass ich unge-
fähr fünf bin. Ich bin der mit der hohen
Mütze. Der Hintergrund ist: Bei uns zu
Hause ist immer klar gewesen, dass ich
Koch werde, so wie schon mein Vater und
mein Großvater. Mein Weg war vorge-
zeichnet. Dass ich eine Lehre mache, im
Hotel Post in Wallgau, und die Gaststätte
meiner Eltern in Oberammergau über-
nehme. Und so hat man mich dann halt
auch im Fasching angezogen, als Koch.
Aber für mich war mit fünfzehn, sech-
zehn klar, dass es mich woanders hin-
treibt. Nämlich zum Theater. Gestört hat
mich nicht das Wirtshaus, im Gegenteil,
ich kann mir noch heute vorstellen, eine
Gaststätte zu führen. Nur die Küche hat
mich nicht interessiert. Sondern die Men-
schen. Ich habe wahnsinnig gern gekell-

nert, als Bub habe ich bei jeder Vereinsver-
anstaltung ausgeholfen, da war man mit-
tendrin. Oder am Stammtisch dabeisitzen
und zuhören: Die Klänge von damals
habe ich noch heute im Ohr. Bis hin zu
bestimmten Wörtern, die ich nicht ver-
standen habe, aber hochinteressant fand.
‚Prälat‘ zum Beispiel. Oder ‚Antisemitis-
mus‘. Es ging in den Dorfgesprächen
natürlich oft um das Passionsspiel.
Der schlimmste Monat war der Novem-
ber, wenn unser Wirtshaus und das Hotel
geschlossen waren. Eine fürchterlich
fade Zeit. Keine Gäste, keine Erbs aus
Stuttgart, nicht die Stammkunden mit
dem Adoptivsohn aus Frankfurt. Ich
kannte jede dieser Familien, manche
hatten ihren ganz eigenen Geruch. Das
Kommen und Gehen, unser offenes
Haus, das hat mir gefallen.

FOTOALBUM


IntegrationSchon überraschend, oder?
Ich bei der CSU. Da ging es um Gesell-
schaft und Integration, auf Einladung
des Abgeordneten Markus Blume, der
am Pult steht. Und der Herr Kurz aus Ös-
terreich war noch Integrationsminister.
Der Soziologe Armin Nassehi war dabei
und eine junge Frau, die erklärte, man
müsse sich als Fremde anstrengen und
integrieren. Bei meinen Beiträgen war
ziemlich was los im Saal. Ich habe die
Überzeugung geäußert, dass katholi-
sche, evangelische und muslimische
Kinder gemeinsam Religionsunterricht
haben müssen, um viel übereinander zu
lernen. Unmöglich! Geht doch nicht! Ich
habe gedacht: Schüler getrennt unterrich-
ten, das ist ein Konzept aus dem letzten
Jahrhundert – in welcher Welt lebt ihr?

HELL’S KITCHEN (XXXI)


GlückUnsere Baustelle, in München ent-
stehtam Viehhof ein neues Volkstheater.
Darauf bin ich wirklich stolz. Als ich das
Haus übernommen habe, war es pleite.
Der Stadtrat war skeptisch, ob es dieses
Theater braucht. Dass wir die Bühne
nach vorne gebracht haben und sie sogar
einen Neubau bekommt, macht mich to-
tal glücklich. Meine Beziehung zu Mün-
chen? Ich hab mal gesagt: München ist
ein Vorort von Oberammergau, da sind
wir als Kinder zum Hosen kaufen hinge-
fahren. Im Ernst, München hat für mich
immer dazugehört, seit ich die Sehnsucht
kenne, rauszukommen aus der Enge.

Regen in Oberammergau,Christian Stückllässt die Tür seines Büros trotzdem offen stehen. Ist auch


besser so, der Chef der Passionsspiele und Intendant des Münchner Volkstheaters raucht eine Zigarette


nach der anderen. Einmal schauen bärtige Männer vorbei, Laiendarsteller der Festspiele 2020.


„Griaß eich“, ruft Stückl und vertröstet sie auf später. Er erzählt zwei Stunden lang und fast ohne Pause


protokolle: anne goebel

RATTELSCHNECK


von christian zaschke

Wenn ich in Amerika auf Reisen bin,
gibt eszwei Regeln. Regel Nummer
eins: Ich gehe zu einem örtlichen Fri-
seur, ganz gleich, wie der Laden aus-
sieht und ob ich wirklich einen Haar-
schnitt brauche. Ich bin sicher, dass es
exzellente Friseure in den USA gibt, es
gibt hier ja prinzipiell alles in herausra-
gend und in mies. Mit nahezu unfehlba-
rem Gespür finde ich jedoch die mie-
sen Friseure, und ich glaube, im Ernst,
dass das gut für mein Karma ist.
Reiseregel Nummer zwei: Immer,
wenn ich einen Schuhputzer sehe,
lasse ich mir die Schuhe putzen. Impli-
zit führt Regel Nummer zwei natürlich
zu Regel Nummer drei, die da lautet,
dass ich nicht in Turnschuhen reisen
kann, weil ich dann nicht zum Schuh-
putzer könnte. Zum Schuhputzer zu
gehen, gehört aber zu den tollsten Din-
gen, die man auf Reisen tun kann, das
ist sogar noch einen Tick besser fürs
Karma, als zum Friseur zu gehen.


In Montgomery, Alabama, putzte
mir ein Mann die Schuhe, der neben
einer Bürste und einem vom Schmutz
bretthart gewordenen Poliertuch aus-
schließlich Spucke und Wasser benutz-
te. Das sei ein Rezept seiner Mutter,
sagte er. In Las Vegas, Nevada, putzte
mir eine Frau die Schuhe, die acht ver-
schiedene Cremes und Polituren auf-
trug. Ich gab ihr ein monströses Trink-
geld, denn wenn man in Las Vegas mit
frisch geputzten Schuhen am Black-
jack-Tisch sitzt und dafür ein monströ-
ses Trinkgeld rübergeschoben hat,
kann man nicht verlieren. Alte Regel.
In Las Cruces, New Mexico, zog mir
der Schuhputzer neue Schnürsenkel in
die Schuhe und sagte: Geht aufs Haus.
In Flagstaff, Arizona, bot mir der
Schuhputzer ein Glas Whiskey an (es
war zehn Uhr morgens, ich lehnte ab).
In Austin, Texas, kam ich am Stand
eines Schuhputzers vorbei, der Musik
vonThe Grateful Deadin einer Laut-
stärke spielte, die vermutlich in Hous-
ton, ebenfalls Texas, zu Beschwerden
führte. Die Schlange am Stand war so
lang, dass ich schweren Herzens in
ungeputzten Schuhen weiterlief.
Hier in Hell’s Kitchen heißt mein
Friseur Robert, und ich habe immer
noch nicht herausgefunden, ob er beim
Schneiden zittert, weil er noch nicht
genug getrunken hat oder schon zu
viel. In dieser Woche war es so
schlimm, dass ich sofort wieder gehen
wollte. Aber dann schaute Robert auf
meine Schuhe, und er sah, dass ich als
einziger Bewohner von Hell’s Kitchen
Lederschuhe trage. „Wir haben einen
neuen Service“, sagte er, „zum Haar-
schnitt gibt’s das Schuhputzen dazu.“
Ich setzte mich in den Frisierstuhl,
Robert übergab meine Schuhe an einen
Kollegen und begann, zitternd zu
schneiden. Als er fertig war, das Ergeb-
nis wie immer verheerend, brachte
sein Kollege die blank gewienerten
Schuhe. Robert war irrsinnig stolz. Ich
bedankte mich, gab ein monströses
Trinkgeld und trat aus dem Laden auf
die 9th Avenue, von Kopf bis Fuß exakt
der Mann, der ich sein wollte.


Haarputzer


Der Friseur heißt Robert,
und erzittert. Aber er bietet
einen besonderen Service

FOTOS: PRIVAT (5), CSU, JOHANNES SIMON / GETTY IMAGES, VOLKSTHEATER MÜNCHEN, DPA

50 GESELLSCHAFT Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019, Nr. 189 DEFGH

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