Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1
von jonathan fischer

N


ew Orleanians lieben es, die letz-
ten Ruhestätten ihrer Toten zu
besuchen. In afrokaribisch in-
spirierter Tradition schütten
sie Bier auf die Gräber, hinter-
lassen Plastikketten und Schmuck an den
weiß gekalkten Gruften, die als Ensemble
oft an eine exotische Miniaturstadt erin-
nern. Aber auf dem berühmtesten Friedhof
der Stadt, dem St. Louis Cemetery No. 1,
stehen jetzt Verbotsschilder: Gräber mar-
kieren, Gegenstände ablegen unter Strafe
verboten. Neuerdings kann man Touristin-
nen beobachten, die heimlich Lippenstift-
spuren an einer drei Meter hohen Pyramide
hinterlassen, der zukünftigen Grabstätte
von Nicolas Cage.
Ja, Nicolas Cage, der Schauspieler und
Wahl-New-Orleanian. Sein sauberer wei-
ßer Neubau mag so gar nicht zu den
bröckelnden, wettergezeichneten Grä-
bern der Umgebung passen. „Die Gentrifi-
zierung macht nicht mal vor den Toten
halt“, witzelt Chuck Perkins, ein Musiker
und Clubbetreiber. „Seit Katrina werden
die Armen und Schwarzen aus den älteren
Teilen von New Orleans vertrieben. Die
Stadt will sie nicht mehr haben. Lebendig
oder tot.“


Am 29. August 2005 waren infolge des
HurrikansKatrinamehrere Deiche gebro-
chen, 80 Prozent der Stadt wurden überflu-
tet, Hunderttausende obdachlos. Vierzehn
Jahre später sind die Schäden behoben,
zieht der Mississippi-Hafen die Touristen
an, als wäre nichts gewesen: „New Orleans
hat ein Facelifting bekommen“, sagt Chuck
Perkins. Der Mann mit dem Batikhemd
und der polierten Glatze sitzt mit einem
Bier vor seinem Liveclub Cafe Istanbul, nur
ein paar Meilen östlich des Touristenvier-
tels French Quarter. Früher standen hier
nur blätternde Baracken. Jetzt zieht das
einstige Glasscherben- und Drogendealer-
viertel Bywater Yuppie-Kunden aus der
ganzen Stadt an, die eines der frisch gestri-
chenen Yoga-Studios und veganen Cafés
besuchen, im Biomarkt einkaufen oder
nach Esoterik-Büchern wühlen wollen. Vie-
le von ihnen, sagt Perkins, seien Helfer, die
nachKatrinageblieben sind.
Sein eigener Musikclub ist Teil eines
dreistöckigen, rosa gestrichenen „Healing
Centers“ – die Vermieterin, eine weiße
Voodoo-Priesterin, hat es so genannt. Ein
Name, der sich nicht nur auf ihren eigenen
Kräuterladen bezieht, sondern die Hoff-
nung auf einen Neuanfang für eine innen
und außen kaputte Stadt symbolisiert. „Al-
le fluchen in dieser Stadt“, wütet Chuck
Perkins in seinem Songtext „Everybody
Swears“, während „Träume so groß wie
Berge zur Größe kleiner geballter Fäuste
zerhäckselt werden“. So klingt der New-Or-
leans-Blues. Eine Hassliebe, die Perkins
mit vielen der hier lebenden Musiker und
Kulturschaffenden teilt.
Nun aber geht es um das neue New Or-
leans. Und darum, wer von der Renovie-
rung und Ausschmückung der einst so
ranzigen Viertel um das French Quarter pro-
fitieren darf. Und wer dabei auf der Strecke
bleibt. Schon seit Generationen lastet der
Fluch der Armut auf dieser Stadt.Katrina
machte für alle Welt sichtbar, was viele New
Orleanians längst wussten: dass der ameri-
kanische Traum sie außen vor gelassen hat.
Und doch bezaubert dieser mythische
Ort nicht nur Touristen: Wo sonst spielt
sich so viel vibrierendes Leben, so viel
genuine Folk-Tradition auf den Straßen
ab? Wo sonst können 16-Jährige mit
Gold Grillz jede Zeile von Louis Armstrong
zitieren? In einer Walmart-Nation sticht
der Mississippi-Hafen als Ansammlung
von Straßenmärkten, Gewürzläden, Kaf-
feeröstereien, Eisständen und – fast am
wichtigsten – lokalen Dancehalls heraus.
Mit ihrer Melange aus afrikanischer, spani-
scher, französischer und karibischer Kul-
tur nahm die Stadt die polyglotte Entwick-
lung der Einwanderernation Amerikas vor-
aus. Rechte Ideologen mögen gerade das
Miteinander von Religionen und Ethnien
zum Problem hochkochen. New Orleans
aber lieferte stets den Gegenbeweis: dass
man, allem Rassismus zum Trotz, über Kü-
che, Musik und Tanz zusammenkommt.
„Wir waren mit Maskenbällen und Bordell-
Orchestern schon multikulturell und so-


phisticated“, sagt Perkins, „als die meisten
amerikanischen Städte noch nicht einmal
eine Friseurladen-Combo hatten.“ Klar,
dass kein anderer Ort als Wiege des Jazz
und Rock’n’ Roll infrage kam. Der Prozess
der Aneignung, des Synkretizismus und
der Neuerfindung hält die Stadt bis heute
am Laufen: „Wir sind das demokratische
schwarze Herz Amerikas. Wer hier lebt,
kennt allerdings auch die Risse und Brü-
che hinter der Partyfassade.“

Die Risse und Brüche: Das seien, sagt
Chuck Perkins, etwa die Liveclubs, die ihre
Musiker zumeist miserabel bezahlen, da-
mit sie Klischees für Touristen aufführen.
Und die Mietpreise, die sich etwa in Bywa-
ter seitKatrinaverdoppelt hätten. Oder
die gutsituierten Zuzügler, die sich Häuser
in traditionell schwarzen Vierteln wie Tre-
me kauften, um sich dann an den vielen
Straßenparaden und Bars mit ihrer nächtli-
chen lauten Musik zu stören. Dabei seien
es gerade diese verarmten Nachbarschaf-
ten, die seit jeher die wichtigsten Musiker
und Künstler hervorgebracht hätten. Die
das Netzwerk einer Überlebenskultur am
Leben hielten. Die Stadt aber investiere lie-
ber in Casinos, neue Hotels und disneyfi-
zierte Jazz-Themenparks als in erschwing-
liche Wohnungen. Wer bleibe dann noch
vor Ort, um die Traditionen weiterzuge-
ben? Perkins schlägt die Bierdose auf den
Tisch: „Kann man sich New Orleans ohne
die Umzüge der Brassbands und den Stra-
ßenjazz überhaupt vorstellen?“
Gerade hat Donald Trump den Wahl-
kreis des schwarzen demokratischen Abge-

ordneten Elijah Cummings in Baltimore
als „widerliches, von Ratten und Nagetie-
ren befallenes Drecksloch“ beschimpft –
vielen New Orleanians kommt das nur all-
zu bekannt vor. „Die Rache Gottes“, höhn-
ten nachKatrinachristlich-fundamenta-
listische Prediger über die „Lasterhöhle“
New Orleans. Und einige republikanische
Abgeordnete diskutierten gar, ob man die
Stadt – eine demokratisch wählende Insel
inmitten des erzkonservativen Louisiana


  • überhaupt wieder aufbauen sollte.
    Wie Baltimore hat New Orleans ein Ge-
    waltproblem. Hier wird man mit dreimal
    höherer Wahrscheinlichkeit Opfer eines


Gewaltverbrechens als im Rest der Verei-
nigten Staaten. Nirgends landen so viele
Menschen im Gefängnis wie in Louisiana,
nirgends ist die Armut erschreckender.
Und wenn der Tourismus das große Zug-
pferd dieser Stadt darstellt, dann fließt der
Profit vor allem an eine kleine exklusive
Elite. Die Statistiken sprechen für sich: Ob-
wohl fast zwei Drittel der Einwohner Afro-
amerikaner sind, gehören ihnen nur weni-
ge Geschäfte in New Orleans. Von den rund
acht Milliarden Touristendollar, die in der
Stadt jährlich umgesetzt werden, profitie-
ren vor allem alte weiße Männer. Im
French Quarter etwa sind gerade mal vier

Läden in schwarzer Hand. Viele Afroameri-
kaner arbeiten dagegen für Mindestlöhne
in den großen Hotels. Es hängt also durch-
aus davon ab, auf welcher Seite man steht,
um die Stadt als Goldgrube oder moderne
Plantage wahrzunehmen.
Sean Cummings, Hotelbesitzer und
Großinvestor, gehört zu den Gewinnern
des neuen New Orleans. Ziegelmauer-
werk, riesige Glasfenster und karges De-
sign prägen sein Loft in Bywater. Es ist Teil
eines dreistöckigen Ware House aus dem
Jahr 1892, das einst die größte Reismühle
der Vereinigten Staaten war und heute als
Leuchtturmprojekt für die Revitalisierung
von Bywater gilt. „Sie können sich gar
nicht vorstellen, wie das noch vor 15 Jah-
ren aussah“, sagt Cummings. Mit seiner
zerschlissenen Jeans wirkt er kaum wie ei-
ner der reichsten Männern der Stadt. „In
der Ruine hausten Obdachlose und Jun-
kies, die Wände waren vollgeschmiert.“
Auf eines der Graffiti – er hat es für viel
Geld konservieren lassen – ist er aber
stolz: Banksy sprühte hier 2008 zwei Uni-
formierte, die durch ein Fenster Elektroge-
räte plündern. Ein Hipster-Eldorado sei
hier am Entstehen: Die örtliche Akademie
für Nachwuchsmusiker, Nocca, liegt gleich
um die Ecke, und Cummings hat mehrere
Blocks der Nachbarschaft renoviert: „Die
Stadtverwaltung hat uns vorgegeben, ei-
nen Teil der Wohnungen für Sozialfälle be-
reitzustellen. Die Armen sollen sich von
der Mittelklasse mitziehen lassen, denn
nur so locken wir auch neue Geschäfte und
Touristen an.“ Die Kriminalität sei deut-
lich gesunken, das Durchschnittshaus-
haltseinkommen gestiegen, die Schulen
seien besser geworden. Dass für einige der
alten Bewohner dennoch kein Platz bleibt,
bestreitet er nicht. Der Markt könne nur de-
nen helfen, die sich selbst helfen.

Es ist nicht das erste Mal, dass New Orle-
ans um seine Seele ringt: Schon im 19. Jahr-
hundert gab es Bestrebungen, die Stadt zu
„säubern“ und so Investoren anzulocken:
etwa in den 1890erJahren, als man das Rot-
lichtgewerbe mit seinen zwielichtigen
Bars und Musikkneipen in einen Bezirk
nördlich des French Quarter verbannte. In
diesem Storyville sollten bald wild impro-
visierte Klänge erschallen, denen der Ruch
der Unmoral anhaftete: Jazz. Oder 1917, als
bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein
amerikanisches Militärcamp in der Stadt
eröffnete: Um die als „skandalös“ erachte-
ten sexuellen Kontakte zwischen Schwarz
und Weiß zu unterbinden, wurde eine
strikte Rassentrennung durchgesetzt und
Storyville abgerissen.

Der Jazz aber ließ sich nicht mehr auf-
halten, nicht vom Umbau des French Quar-
ter zum Freizeitpark nach dem Versiegen
des Ölbooms in den Achtzigerjahren, nicht
durch Polizeigewalt oder Korruption –
sein rebellischer Spirit und schmutziger
Funk wurde in den schwarzen Nachbar-
schaften informell weitergegeben. Zuletzt
kamen weltweit gefeierte Acts wie Trombo-
ne Shorty, Christian Scott, dieRebirthund
dieHot 8 Brass Bandaus dieser Straßen-
schule. Musiker, für die der Jazz mehr be-
deutet als bequeme Dinner-Unterhaltung.
Für sie war diese Musik der Arschtritt, der
sie vor der Kleinkriminellen-Karriere be-
wahrt hat, der sie überleben ließ, der sie
selbst dann begleitete, als etwa Trombone
Shorty seinen ermordeten Bruder zu Gra-
be trug, während der Vater Trompete blies
und die Mutter auf dem Sargdeckel tanzte.
Posaunen riffen, trunkene Trompeten
jubeln, während Tuba und Becken einen
Hip-Hop-Beat pumpen. Die Parade des
Single Ladies Social Aid & Pleasure Club
ist schon die dritte, die sich an diesem Wo-
chenende ihren Weg durch die Rampart
Street bahnt. Der Brass Band und den La-
dys mit ihren Schirmen und Perücken
folgt die sogenannte Second Line: Ein Pulk
von Passanten, die auf mitgebrachte Töp-
fe trommeln, über Autos tanzen, sich be-
saufen, mit Wildfremden verbrüdern –
und hoffen, dass es dieses Mal nicht wie-
der in einer Schießerei ausartet.
Bennie Pete, Bandleader der Hot 8
Brass Band, stellt seine Tuba für einen
Schluck Bier ab und erzählt: „Nirgendwo
anders kann man so arm sein und sich
gleichzeitig so reich fühlen wie in New Orle-
ans. Du brauchst dazu kein Geld. Wenn du
einer Second Line folgst, bist du selbst zu
jemandem geworden, der die Kultur am Le-
ben erhält.“ Pete ist ein Berg von einem
Mann. Sein Blick aber wirkt müde. Bis zu
drei Gigs am Tag spiele seine Band. Auf Pa-
raden, Schulfeiern, in Clubs – und bei Beer-
digungen für Jugendliche. „Diese Jung-
gestorbenen hatten keine Chance zu le-
ben.“ In den letzten 22 Jahren habe es min-
destens tausend solcher „Jazzbegräbnis-
se“ gegeben.
Die Hot 8 Brass Band erlangte auch da-
durch traurige Berühmtheit. Vier Bandmit-
glieder hat sie bereits verloren – erschos-
sen unter ungeklärten Umständen, teilwei-
se durch Polizisten. Er denke die ganze
Zeit daran aufzuhören, sagt Pete. Aber
dann gebe es diese Dinge, die man an New
Orleans lieben müsse: „Jeder in deiner
Nachbarschaft wird dir jederzeit etwas zu
essen anbieten oder ein Bett in seinem
Haus. Da ist so viel Liebe. Wir haben kein
Geld, um mit unseren Problemen zum
Psychiater zu gehen. Aber wir haben die
Musik.“
Überall auf der Welt werde auf Begräb-
nissen getrauert. In New Orleans dagegen
feiere man auch die guten Zeiten, die man
mit dem Verstorbenen verbracht habe.
„Wir tanzen auf ihn. Das ist ein Lebensstil.
Weil wir von vorneherein akzeptieren,
dass der Tod zu unserem Leben gehört.“
Dann schnallt sich der Bandleader der
Hot 8 wieder seine Tuba um. Bläst einen
gewaltigen Basslauf an. Die Tänzer strö-
men aus den benachbarten Kneipen, fol-
gen ihm mit lautem Gejohle. Nichts fängt
den Swing, den Schmerz und die Selbstbe-
hauptung dieser Stadt besser ein als eine
Second Line.
Wer sich an dem Radau störe, sagt Pete,
habe New Orleans nicht verstanden: „Wir
müssen heute feiern. Weil wir morgen
schon tot sein können.“

Freitagabend in Jerusalem: Vor einem Res-
taurant im Stadtteil Nahalat Shiva mar-
schieren ein Dutzend Männer in schwar-
zen Anzügen, weißen Hemden und mit
breitkrempigen Hüten auf: Sie fangen an
zu singen – laut und falsch. Es ist kein Ge-
sang, der erfreuen, sondern die Gäste von
der Terrasse vertreiben soll. Die meisten re-
agieren genervt, genießen weiter die israe-
lische Küche. Nach fünfzehn Minuten zie-
hen die Männer, Verwünschungen aussto-
ßend, wieder ab. Es waren auch schon
mehr als hundert, die vor dem Restaurant
ihre Störaktion durchgezogen hatten. An-
dere Lokale wurden mit Steinen beworfen.
Immer mehr Restaurantbetreiber in Je-
rusalem schließen ihre Lokale am Schab-
bat, weil sie diese Auseinandersetzungen
satthaben. Die Charedim, wie sie auch be-
zeichnet werden, wollen durchsetzen, dass
am Schabbat Ruhe herrscht – am liebsten
im ganzen Land. Dass am jüdischen Ruhe-
tag, der mit Sonnenuntergang am Freitag
beginnt und bis Sonnenuntergang am
Samstag dauert, in Israel keine öffentli-
chen Verkehrsmittel fahren, haben sie
schon durchgesetzt. Es gibt auch nur weni-


ge Geschäfte, die mit einer Ausnahmege-
nehmigung geöffnet haben dürfen.
Viele ultraorthodoxe Juden kämpfen
nicht nur dafür, dass sie nach ihren eige-
nen Regeln leben können, sondern sie wol-
len auch den anderen ihren strengen Le-
bensstil aufzwingen. Die Charedim sind ei-
ne stark wachsende Bevölkerungsgruppe,

sieben Kinder gebärt eine ultraorthodoxe
Jüdin im Durchschnitt. Sie machen inzwi-
schen mehr als eine Million der neun Milli-
onen Einwohner aus. Ihre streng religiö-
sen Männer wollen sich nur dem Thorastu-
dium widmen und nicht zum Militär-
dienst. Ihre Kinder sollen nach eigenen, re-
ligiösen Vorstellungen erzogen werden.
Viele lehnen sogar den Staat Israel ab, weil
ihrer Ansicht nach nur der Messias einen
jüdischen Staat errichten darf.
Wer als Jude streng religiös leben will,
hat es nicht einfach: Es gilt nicht nur die Ha-

lacha, das gesetzliche System des Juden-
tums, zu beachten. Das umfasst schon 613
Gebote. Allein am Schabbat sind 39 Tätig-
keiten verboten. So darf man am Schabbat
weder kochen noch arbeiten oder Auto fah-
ren. Zusätzlich gibt es noch die Weisungen
der Rabbiner für den Alltag, denen ultraor-
thodoxe Juden Folge zu leisten haben. Sie
dürfen nur sogenannte koschere Handys
benutzen, die keinen Zugang zum Internet
haben und von denen nur bestimmte, von
Rabbinern freigegebene Nummern ge-
wählt werden können. Es gibt auch Vor-
schriften für die Tierhaltung: Mehr als ein
Dutzend Rabbiner in Elad, einer Stadt na-
he Tel Aviv, haben im Juni ein Edikt erlas-
sen: Das Halten von Hunden sei „ver-
flucht“.
Pünktlich zur Ferienzeit haben Rabbi-
ner außerdem Baderegeln aufgestellt, die
wie Sicherheitsanweisungen klingen:
„Stellen Sie sicher, dass der Pool ordent-
lich von einem Zaun in der Höhe von min-
destens 1,10 Metern umgeben ist und über
ein Tor verfügt, das nicht von Kindern ge-
öffnet werden kann.“ Strände ohne Bade-
meister dürften nicht benutzt werden

„und selbstverständlich keine, die nicht
von Rabbinern freigegeben wurden“.
Das geht manchen streng religiösen Ju-
den aber immer noch nicht weit genug. Sie
halten Badevergnügen für Frauen generell
für moralisch nicht vertretbar – selbst
wenn dies auf einem Strandabschnitt oder
in einem Schwimmbad geschieht, wo nur
Frauen Zutritt haben. In Bnei Brak, einer
vor allem von Ultraorthodoxen bewohnten
Stadt nahe Tel Aviv, hängen in diesem Som-
mer Plakate, auf denen Frauen und Mäd-
chen aufgefordert werden, Strände zu ver-
meiden. Denn selbst an Badestellen, die
nach Geschlechtern getrennt sind, gebe es
„Männer, die sich vergnügen“, wird ge-
warnt. Auch ein Schal über dem Badean-
zug „löst das Problem nicht, denn ein nas-
ser Badeanzug klebt am Körper und keine
gottesfürchtige Frau würde sich so in der
Öffentlichkeit sehen lassen“.
Vergangenen Sommer kursierte ein Vi-
deo im Netz, das zeigt, wie ultraorthodoxe
Männer Frauen durch die Straßen von Bet
Schemesch jagen. Die Frauen hatten es ge-
wagt, in Shorts und mit Spaghettiträger-
Shirts bekleidet vor die Haustür zu treten.

Erst kurz zuvor waren in dieser Stadt na-
he Jerusalem, wo rund die Hälfte der Bevöl-
kerung Ultraorthodoxe sind, Schilder abge-
nommen worden, auf denen Frauen Vor-
schriften erteilt wurden: wie sie sich zu
kleiden haben und wo sie nicht gehen oder
stehen dürfen. Vier Jahre lang kämpften
fünf mutige orthodoxe Frauen dagegen.

Nach einem Spruch des Obersten Gerichts
mussten die Schilder entfernt werden –
was wütende Demonstranten tagelang ver-
hinderten. Bereits 2011 hatten Richter klar-
gestellt, dass Frauen nicht gezwungen wer-
den dürfen, in Bussen nur die hinteren Plät-
ze einzunehmen. Allerdings ließen sie ein
Schlupfloch offen, auf „freiwilliger Basis“
dürfe eine Geschlechtertrennung in öffent-
lichen Verkehrsmitteln erfolgen.
Geschlechtertrennungen gibt es immer
häufiger in Israel – sei es bei der Armee, an
Universitäten oder bei Veranstaltungen.

Vergangenen Sonntag untersagte ein Ge-
richt ein Konzert in einer öffentlichen Hal-
le in Afula. Die Organisatoren hatten die
Aufteilung des Zuschauerraums nach Ge-
schlechtern vorbereitet. Die nächste Ge-
richtsinstanz hob das Urteil auf, das Kon-
zert fand dann vor einem Publikum statt,
das nach Geschlechtern getrennt wurde.
Die erste Gerichtsentscheidung zum
Konzert in Afula wurde zum Politikum:
Der religiöse Transportminister Bezalel
Smotrich von der Partei Vereinigte Rechte
attackierte Premierminister Benjamin Ne-
tanjahu, weil er gegen die Gerichtsent-
scheidung nicht eingeschritten ist. Auch
die beiden ultraorthodoxen Regierungs-
parteien Schas und Vereinigtes Thora-Ju-
dentum kritisierten den Premierminister
scharf. Smotrich kündigte an, nach der Par-
lamentswahl am 17. September nur in eine
Regierung einzutreten, „wenn Geschlech-
tertrennung bei öffentlichen Veranstaltun-
gen erlaubt wird“. Sein Ziel: Ein „jüdischer
Gottesstaat“. Und so wird die Wahl auch
ein Votum darüber, ob der Einfluss der Ul-
traorthodoxen in Israel weiter zunimmt.
alexandra föderl-schmid

Nirgends landen so viele


Menschenim Gefängnis


wie in Louisiana


Nur ganz wenige Geschäfte
im French Quarter
sind in schwarzer Hand

„Jeder in deiner Nachbarschaft
wird dir jederzeit etwas
zu essen anbieten.“

Gebote und Verbote


In Israel gewinnen Ultraorthodoxe stark an Einfluss. Zu ihren Forderungenzählen die Einführung der Geschlechtertrennung und Kleiderregeln für Frauen


Der Transportminister
würde gerne einen „jüdischen
Gottesstaat“ errichten

New Orleans Blues


14 Jahre nach „Katrina“ ist die Stadt am Mississippi schicker und sauberer als je zuvor.


Vor allem die Musiker und Künstler müssen nun ums Überleben kämpfen


DEFGH Nr. 189, Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019 GESELLSCHAFT 51


Es gibt neuerdings Plakate, mit
denen Frauen dazu aufgefordert
werden, Badestrände zu meiden

Glücklicher Anlass: Die Preservation Brass Band
bei einer Hochzeitsprozession im French Quarter (oben).
Unten: Die Mother In Law Lounge im
Stadtviertel Treme zählt zu den beliebten Musikclubs.
FOTOS: PATRICK FRILET / HEMIS / DDP, JONATHAN FISCHER
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