Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1

D


er französische Schriftsteller
Jules Romains hat ein Theater-
stück über das Gesundheitswe-
sen geschrieben, das „Knock
oder Der Triumph der Medizin“ heißt. Dar-
in wird gezeigt, wie mit viel Trara und Ge-
trommel gesunde Menschen in dankbare
Patienten verwandelt werden. Das Stück
ist fast hundert Jahre alt, es ist hierzulan-
de aber nicht sehr bekannt und wird in
Deutschland kaum aufgeführt.
Das liegt an zwei Dingen. Erstens hat
der Alltag im deutschen Gesundheitswe-
sen die Satire eingeholt: Es gibt eine florie-
rende Befindlichkeitsindustrie, die einen
Zustand ohne Beschwerden als suspekt
erscheinen lässt. Zweitens ist der titelge-
bende „Triumph der Medizin“ abgelöst
worden vom Triumph der Betriebswirt-
schaft in der Medizin; der Taschenrechner
ist da wichtiger als das Stethoskop.
Darunter leiden Ärzte und Patienten. In
einer verbetriebswirtschaftlichten Medi-
zin wollen die Betreiber ihre Krankenhäu-
ser so ähnlich führen wie Autowerkstät-
ten: Da werden Teile ausgewechselt, da
wird lackiert und repariert – aber nur so-
lange es sich rechnet; da werden Kranke
sortiert in Cash Cows und Poor Dogs.
Poor Dogs: Das sind Patienten, mit de-
nen eine Klinik kein Geld verdienen kann,
mit denen sie womöglich draufzahlt; dazu
zählen betagte Patienten, solche mit vie-
len Krankheiten, chronisch Kranke; dazu
zählen Patienten, die sich wund gelegen
haben oder Rheumatiker. Cash Cows – al-
so Melkkühe – das sind Patienten mit
Krankheiten, mit denen ein Krankenhaus
satte Gewinne macht, bei denen technisch
aufwendige Maßnahmen erforderlich
sind, beispielsweise Hüft- und Kniege-
lenksoperationen, Nieren- oder Knochen-
marktransplantationen.
Ist die Medizin noch Heilkunde, wenn
die Klinikgeschäftsführung solche Unter-
scheidungen zur Vorgabe macht? Solche
Ökonomisierung der Medizin ist ungut.
Die Medizin ist keine Wirtschaftsbranche
wie jede andere. Für Kranke sind Faktoren
wichtig, die in betriebswirtschaftlichen
Programmen keine oder kaum eine Rolle
spielen: Zeit, Geborgenheit, und (auch
wenn es altmodisch klingt) Barmherzig-
keit. Manchmal besteht ärztliche Kunst
darin abzuwarten und vorerst nichts zu
tun; diese Kunst lässt sich nicht betriebs-
wirtschaftlich optimieren. Der Lebensmo-
dus, auf den das ökonomische System pro-
grammiert ist, ist der des Machens, nicht
des Erleidens. Die Einfühlsamkeit gehört
aber unbedingt ins Gesundheitswesen hin-
ein: also nicht nur diagnostizieren, thera-
pieren, operieren – sondern auch erdul-
den, aushalten, Zeit lassen. Was zählt ei-
gentlich mehr, wenn Krankenhäuser an
der Börse notiert sind: die Bedürfnisse des
Shareholders oder die des Patienten? Wird


in der Folge das Behandlungsspektrum
eingeschränkt, nicht insgesamt, aber für
langwierige, teuere Krankheiten? Wo
bleibt die Daseinsvorsorge, zu der der
Staat verpflichtet ist, wenn das Angebot
der Rentabilität angepasst wird? Wo blei-
ben da Alte und chronische Kranke? Der
Münchner Pflegekritiker Claus Fussek
sagt daher, Pflege und Krankheit sind ei-
gentlich „nicht börsen- und renditefähig“.
Nun muss man nicht so tun, als ob bis
vor Kurzem das Gesundheitswesen nur
von Samaritern bevölkert gewesen sei und
dann eine feindliche Übernahme durch
Leute stattgefunden habe, die mit ihrem
schweren Geldbeutel auf Kranke werfen.
Natürlich ist im Gesundheitswesen immer
auch verdient worden – vielleicht von an-
deren Leuten als heute, vielleicht mit ande-
ren Methoden (siehe das Theaterstück von
Jules Romains) als heute. Aber heute, im
privatisierten Gesundheitssystem, steht
das Geldverdienen unter dem Diktat von
Wachstum, Wettbewerb, Kostensenkung
und Gewinnsteigerung. Die Folgen nagen
am Vertrauen zwischen Arzt und Patient.

Vertrauen? Die Art und Weise, wie
jüngst die Bertelsmann-Stiftung ihre Stu-
die über eine Radikalreform des Kranken-
hauswesens in die Gesellschaft knallte,
war ein ungutes Exempel. Sie war vertrau-
enszerstörend und angstmachend. Sie
war ohne Sensibilität, ohne Empathie und
ohne regionale Differenzierung. Die Stu-
die forderte, weit mehr als die Hälfte aller
Krankenhäuser zuzusperren und stattdes-
sen auf Großkliniken zu setzen – ganz im
Interesse von Giganten wie der Rhön-Kli-
nikum AG, in deren Aufsichtsrat Liz Mohn
sitzt, die stellvertretende Vorstandsvorsit-
zende der Bertelsmann-Stiftung.
Die „Krankenhausbettendichte“ sei in
Deutschland viel zu hoch: Das Gesund-
heitswesen, so die Studie, kranke an sei-
nen Krankenhäusern. Das ist falsch. Es
krankt vor allem daran, dass das System

der Fallpauschalen, nach dem die Abrech-
nung stationärer Krankenhausleistungen
erfolgt, die Gesundheitsversorgung mone-
tarisiert hat: Operative Leistungen sind lu-
krativ, konservative Behandlungen nicht;
das „sich Kümmern“ wird kaum hono-
riert. Gesundheit hat aber auch mit der
Psyche zu tun: mit Vertrauen, Ängsten,
Lebensunsicherheiten.
Für den heimatlichen Wunsch der Men-
schen, ein Krankenhaus möglichst nahe
zu wissen, hatte die Studie keinen Sinn –
obwohl in einer älter werdenden Gesell-
schaft die Krankheiten, die damit einher-
gehen, auch in kleinen Kliniken gut behan-
delt werden können. Der Wunsch von An-
gehörigen, ihre Kranken ohne langwierige
Fahrerei besuchen zu können, wurde mit
kalter Sprache abgetan: Es gelte halt
dann, hieß es, „Konzepte von Zubringer-
diensten für Angehörige“ zu entwickeln.
Auf solche Dienste möchte man aber bitte
nicht angewiesen sein. Krankenhäuser
schließen, um die niedergelassenen Ärzte
zu stärken? Frank Montgomery, der Ehren-
präsident der Bundesärztekammer, hält
diese Forderung für „blanken Unsinn“: In
jenen Regionen, wo die Not der Kranken-
häuser am größten ist, gebe es auch zu
wenige niedergelassene Ärzte.
Kaiser Joseph II., ein Sohn der Kaiserin
Maria Theresia, hat im Foyer der im Jahr
1784 in Wien neu errichteten Frauenklinik
eine Tafel mit folgender Inschrift anbrin-
gen lassen: „In diesem Haus sollen die Pati-
enten geheilt und getröstet werden.“ Sol-
che Tafeln braucht es auch 235 Jahre spä-
ter. Die Würde des Menschen ist unantast-
bar. Nirgendwo aber wird man so viel ange-
tastet und abgetastet wie im Krankenhaus
und beim Arzt. Wir brauchen daher den
Geist und das Denken, das in diesen Wor-
ten steckt: „In diesem Haus sollen die Pati-
enten geheilt und getröstet werden.“

Die Italiener haben in ihrer republikani-
schen Geschichte, also seit 1946, schon 65
Regierungen erlebt, die nun stürzende ein-
geschlossen. Doch nur wenige von ihnen,
nämlich 18, sind nach Parlamentswahlen
geboren. Alle anderen waren Ausgeburten
von Regierungskrisen, größeren und klei-
neren, mitten in einer Legislaturperiode.
Die italienische Presse begleitet diese
Phasen allerhöchster Hektik und nicht
minder beträchtlicher Theatralik immer
mit viel Lust. In den großen Zeitungen
breitet sich die Berichterstattung zur Kri-
se in diesen Tagen über sechs, acht, zehn
Seiten aus, die Kommentare nicht einge-
rechnet.
Bis zuletzt scheint mal wieder alles
möglich zu sein, und für alles gibt es viele
Namen. Der Politjargon ist in Italien so üp-
pig wie wohl nirgendwo sonst auf der
Welt. Eine allfällige Übergangsregierung
bis zu vorzeitigen Neuwahlen zum Bei-
spiel kann ein „Governo di scopo“ sein,
ein „Zweckkabinett“ also, eines mit kurz
bemessenem Mandat und genauer Ziel-
vorgabe aus der Hand des Staatspräsiden-
ten. Ungefähr das Gleiche ist ein „Garan-
tiekabinett“, ein „Governo del presiden-
te“, ein „institutionelles Kabinett“ und
eine „Regierung für die Wahlen“. Der
schönste Begriff dafür ist aber „Governo
balneare“, wörtlich: eine Baderegierung.
Gemeint ist das als Metapher: Diese Über-
gangsregierung soll nur so kurz wie eine
Sommerpause am Meer bestehen.


Die linksliberale römische ZeitungLa
Repubblicahat einen „Kompass der Kri-
se“ eingerichtet. Der zeigt ständig an, wie
groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass es
bald Neuwahlen gibt, wie es der Chef der
rechten Lega und Innenminister Matteo
Salvini gerne hätte. Salvini hat die Krise
ausgelöst, weil er sich einen ordentlichen
Wahlsieg ausrechnet. Im Moment zeigt
die Nadel aber klar nach links: keine Neu-
wahlen. Das rührt daher, dass nun eine
neue Koalition aus Cinque Stelle und dem
sozialdemokratischen Partito Democrati-
co möglich wird. Doch wären diese Partei-
en auch fähig, ihre Differenzen zu
überwinden und sich auf ein Programm
zu einigen?
Bei derRepubblicagehen die Meinun-
gen innerhalb der Redaktion auseinan-
der. Massimo Giannini, einer ihrer wich-
tigsten Kommentatoren, nennt es ein „Di-
lemma der Kröte“. „Der Partito Democrati-
co soll es doch ruhig versuchen, die Kröte
zu küssen“, schreibt er. Doch müsse die
Partei abwägen, ob ihr das mittelfristig
nicht schade. Mit etwas Mut, findet Gian-


nini, würde die Linke nämlich erkennen,
dass es in Italien noch immer ein Volk ge-
be, das sich bei Wahlen mobilisieren lasse.
Gemeint ist: gegen Salvinis Rechte.

Im bürgerlichen MailänderCorriere del-
la Serafragt sich Massimo Franco unter-
dessen, was Salvini wohl geritten haben
könnte, mitten im Sommerurlaub mit sei-
nen Bündnispartnern zu brechen. „Das
Manöver war nicht gerade meisterhaft“,
schreibt er. Salvini habe mit seiner „Dreis-
tigkeit“ das Parlament brüskiert und da-
bei dessen interne Dynamik unterschätzt.
Seitdem er gemerkt habe, dass die Stö-
rung der Sommerruhe vor allem ihm
selbst schade, wirke er zunehmend ver-
zweifelt. Dieselbe Zeitung schreibt, dass
die Nummer zwei der Lega, Giancarlo
Giorgetti, gegen diese Krise im Sommer
war. Salvini habe alles alleine beschlos-
sen, sagte Giorgetti demnach.
In der ZeitungIl Fatto Quotidianoaus
dem ideologischen Garten der Cinque Stel-
le beschreibt Chefredakteur Marco Tra-
vaglio die Lage mit ähnlicher Verwunde-
rung. „Der Coup ist Salvini elendig miss-
glückt.“ Der Mann, der für sich „alle Voll-
machten“ reklamiere, habe die Kontrolle
über die Krise nach wenigen Tagen völlig
verloren. „Im Parlament, so lehrt es uns
die Verfassung, gewinnt der, der eine
Mehrheit hat. Salvini aber ist in der Min-
derheit.“

Im liberalen BlattIl Foglio, das früher
der Familie Berlusconi gehörte, schreibt
Claudio Cerasa: „Die neue Machtbalance
im Parlament verleitet zur Annahme, dass
Salvini sich ganz alleine in eine unfassba-
re Falle verstrickt hat und nicht mehr
weiß, wie er sich daraus befreien soll.“
Tatsächlich? Oder hat Salvini vielleicht
am Ende alle düpiert, nur merkt es nie-
mand? Es braucht im italienischen Politbe-
trieb nie viel, und die Balance gerät wieder
außer Rand und Band. DieRepubblica
braucht dann nur den Kompass neu auszu-
richten.

Heribert Prantl ist
Kolumnistund Autor der
Süddeutschen Zeitung.

Oliver Meiler berichtet für
dieSZaus Italien.

Tante Inges Fotoalben stehen nun on-
line: Familienfeste, Urlaubsreisen, Kaf-
feeklatsch. Ihr ganzes Leben hatte die
Hobbyfotografin aus Aschaffenburg
mit der Kleinbild-Kamera begleitet. So
kamen mehr als 16 000 Aufnahmen zu-
sammen. Als Ingeborg Lohs Neffe Kars-
ten die Papierabzüge im Nachlass fand,
entschied er, sie auf Instagram und
Twitter zu veröffentlichen.
Heutzutage sind 16 000 Fotos keine
bemerkenswerte Zahl. Gerade jetzt zur
Urlaubszeit füllen sich die Speicherkar-
ten von Handys und Kameras schneller,
als man posieren kann. Wer das später
einmal alles betrachten soll, erscheint
längst nicht mehr wichtig. Und kaum je-
mand wird die Diaabende mit den
schönsten Urlaubsmotiven vermissen.
Entscheidend ist inzwischen die Geste
des Festhaltens, nicht das Aufgezeichne-
te selbst. Immerhin, für eines sind sol-
che Bilder nützlich: Direkt aus dem
Strandkorb oder vom Gipfel verschickt,
ersetzen sie jene Postkarten, die man
früher noch kurz vor dem Rückflug has-
tig schrieb. Selbst wer zu Hause sitzt,
reist heute mit den fotografierenden
Freunden fast in Echtzeit um die Welt.
Auch Tante Inge war gern unterwegs.
Ganz nebenbei erzählen ihre Aufnah-
men eine kleine Kulturgeschichte der
Bundesrepublik auf Reisen: zuerst nach
Italien, später auch zu exotischeren Zie-
len. Man kann solche Einblicke indis-
kret finden. Spätestens bei zweitem Hin-
sehen aber wird klar, wie wertvoll die
Aufzeichnungen des Alltäglichen sind.
Es ist eine beiläufige Erinnerung daran,
mit dem Inhalt der eigenen Speicherkar-
ten sorgsamer umzugehen. Jene fragi-
len Archive enthalten digitale Postkar-
ten, die an eine spätere Zeit adressiert
sind. Es lohnt sich, diese Nachrichten zu
bewahren.

Steffen Siegel ist Professor für Theorie und Ge-
schichte der Fotografie in Essen.

DEFGH Nr. 189, Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019 HF2 MEINUNG 5


HURZLMEIER-RUDI.DE

Tante Inges


Urlaubsbilder


Das Fotografieren hat sich
verändert, seit alle es
immerzu tun. Darin liegt eine
Chance: Der Alltag bleibt
in Erinnerung

VON
STEFFENSIEGEL

Kranke Häuser


Soll dieHälfte der Kliniken geschlossen werden, um so
angeblich die Gesundheitsversorgung zu verbessern?
Diese Forderung ist plump und falsch: Sie macht Angst

VON HERIBERT PRANTL


MEINE PRESSESCHAU


Italien erwartet die Baderegierung


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der Betriebswirtschaft gehorcht,
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