Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1
interview: joachim käppner
und christianmayer

SZ: Frau Zadoff, die halbe Republik
spricht gerade über die Entgleisung des
Schalker Aufsichtsratsvorsitzenden Cle-
mens Tönnies, der sich abfällig über Afri-
kaner geäußert hat. Aber wenn in Mün-
chen ein Rabbiner auf offener Straße an-
gegriffen wird, ist die öffentliche Aufre-
gung deutlich geringer. Woran liegt das?
Mirjam Zadoff: Tönnies hat einen wunden
Punkt getroffen, der viele betrifft. Die
einen, weil sie im Alltag mit rassistischen
und antisemitischen Bemerkungen leben
müssen, andere wiederum, weil sie viel-
leicht ähnlich denken und reden. Aber das
war nicht einfach Altherrengeschwätz, die
Debatte über Rassismus in Deutschland ist
ebenso wichtig und überfällig wie jene
über Antisemitismus. Dass es mitten in
München zu antisemitischen Übergriffen
kommt, ist mehr als ein Warnsignal für un-
sere Gesellschaft.
Sie sind erst 2018 aus den USA nach
Deutschland zurückgekehrt. War es für
Sie schockierend, wie sich das Land entwi-
ckelt hat: der Aufstieg der AfD, Ausländer-
feindlichkeit, Hassorgien im Netz?
Nein, schockiert war ich nicht. Erstens hat-
te ich die deutschen Medien auch in den
USA verfolgt, und zweitens fand ich die
Lage in Deutschland immer noch besser
als in den USA. Aber auch hierzulande hat
sich etwas verschoben, und nicht zum
Guten für die Gesellschaft.
Zum Beispiel trittder Antisemitismus offe-
ner und dreister auf.
Ja, so scheint es. Es gibt diese neue Offen-
heit der Übergriffe, den neuen Ton, die
neue Selbstverständlichkeit der Täter.
Aber vielleicht nehmen wir das Problem,
das schon länger existiert, jetzt erst so rich-
tig ernst. Auch früher war der Antisemitis-
mus in Deutschland massiver, als man das
wahrhaben wollte – etwa während der Be-
schneidungsdebatte 2012. Zuletzt ging es
vor allem um den muslimischen Antisemi-
tismus, aber der Judenhass von ganz
rechts und aus der Mitte geriet aus dem
Blick. Und die Rhetorik des Hasses schlägt
sich irgendwann auch in Taten nieder.
Warum halten Sie die Situation in den USA
für gefährlicher?
Wenn der Präsident und Teile seiner Partei
offen rassistisch reden und ihre Klientel
aufhetzen gegen eine angebliche Invasion
aus dem Süden, eskalieren die Konflikte in
der Gesellschaft. Davon fühlen sich Täter
wie der Mordschütze von El Paso ermutigt,
der möglichst viele Latinos treffen wollte.
Dazu kommt erschwerend das Problem
des Second Amendments und der Waffen-
lobby. Schon in meiner Zeit als Professorin
an der Indiana University Bloomington ha-
be ich die Erfahrung gemacht: Je mehr sich
die Fronten verhärten, desto weniger spre-
chen die Menschen noch miteinander.


Wie wirkt sich das aus?
Die unterschiedlichen Lager benutzen ihre
jeweils eigenen Begriffe, ideologische
Kampfbegriffe. Was dazu führt, dass man
sich auf gar nichts mehr einigen kann und
keine vernünftigen Gespräche mehr mög-
lich sind. Egal, ob es um Themen wie Waf-
fenbesitz, Klimawandel, Abtreibung oder
Rassismus geht: Es geht ein Graben durch
die Gesellschaft, der seit dem Amtsantritt
von Donald Trump noch einmal tiefer,
oder vielleicht auch nur sichtbarer gewor-
den ist.
Wie tief ist dieser Graben in Europa?
Ich bin in Österreich aufgewachsen, einer
Gesellschaft, die teilweise sehr liberal, auf
der anderen Seite des Spektrums aber er-
schreckend nationalistisch eingestellt ist.
Die FPÖ mit Strache und Kickl ist ja kein
neues Phänomen, sondern das Ergebnis ei-
nes langjährigen Prozesses: Das ausländer-
feindliche Volksbegehren „Österreich zu-
erst“ fand bereits 1993 unter Führung von


Jörg Haider statt. Ich erinnere mich lebhaft
an die Auseinandersetzung mit antisemiti-
schen, frauenfeindlichen, rassistischen,
nationalistischen Burschenschaftlern wäh-
rend meiner Studienzeit in Wien. Migran-
tenfeindlichkeit und Geschichtsvergessen-
heit gehen da bis heute Hand in Hand.
Es gibt auch Menschen, die sich dem entge-
genstellen. Wie ist denn Ihre Definition
von Mut?
Neu beginnen, bekanntes Terrain verlas-
sen. Wenn man sich wehrt gegen Manipula-
tion und Ungerechtigkeit, auch und gera-
de, wenn sie anderen passiert, hat das mit
Mut zu tun. Ich finde, auch die Schüler, die
heute auf die Straße gehen, um für die Kli-
marettung zu demonstrieren, sind auf ihre
Art mutig. Sie trauen sich zu sagen: Ich
ignoriere den Druck, egal, was Eltern, Fa-
milien, Lehrer, Politiker davon halten.

Und was ist mit den Politikern, die teilwei-
se Hass und Hetze ausgesetzt sind?
Ja, natürlich gehört Mut dazu, gerade bei
Lokalpolitikern. Bei aller Kritik an den
Mängeln und Fehlern im Einzelnen: Dass
Angela Merkel 2015 Hunderttausende
Flüchtlinge ins Land aufnehmen ließ, war
schon mutig. Die Entscheidung war ja von
Beginn an sehr unpopulär. Ich finde auch
die vier Abgeordneten der Demokraten in
den USA mutig, junge Frauen, die sich ge-
gen Trump gestellt haben und von ihm be-
schimpft wurden, mit der Aufforderung,
sie sollten „nach Hause“ gehen – in die Län-
der, aus denen einst ihre Vorfahren kamen.
Eine Ungeheuerlichkeit, sie sind ja ameri-
kanische Staatsbürgerinnen.
Wie muss sich das NS-Dokumentations-
zentrum künftig positionieren? Sie sind ja
längst mehr als ein reiner Gedenkort, der
eine vergangene Epoche beleuchtet.
Das stimmt. Das Haus wurde nach einer
langen Vorgeschichte 2015 eröffnet, in ei-
nem wichtigen Moment: Da schaute die
ganze Welt auf Deutschland, wo Asylsu-
chende mit Empathie und Hilfsbereit-
schaft aufgenommen wurden. Doch bald
darauf wurden die Ängste der Menschen
instrumentalisiert, um eine Politik der Aus-
grenzung zu etablieren. Damals wurde mir
wie vielen anderen bewusst: Unsere ganz
besondere deutsche Erinnerungskultur,
die Lehren zog aus Nationalsozialismus
und Holocaust, ist längst nicht so selbstver-
ständlich, wie wir geglaubt hatten.
Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Wir müssen die Gegenwart immer mitden-
ken, wenn wir über die Vergangenheit spre-
chen. Letztes Jahr haben wir hier über die
Konferenz von Évian 1938 gesprochen, die
auf Initiative des amerikanischen Präsi-
denten Franklin D. Roosevelt zustande
kam. Am Ende sagten die Vertreter der
32 anwesenden Staaten mehrheitlich: Tut
uns leid für die verfolgten Juden in
Deutschland, aber wir können und wollen
sie nicht aufnehmen. Lehrreich für die
Gegenwart ist auch die Geschichte des Pas-
sagierschiffsSt. Louis, das 1939 mit lauter
jüdischen Flüchtlingen an Bord über die
Meere irrte und am Ende in den USA abge-
wiesen wurde.
Das erinnert Sie an heute – an die Men-
schen, die in Booten übers Mittelmeer
kommen?
Es ist nicht genau dasselbe, aber natürlich
können wir als Historiker nicht sagen: Das
eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
Wenn das so wäre, können wir auch nicht
den Anspruch formulieren, aus der Ge-
schichte gelernt zu haben. Wir haben kürz-
lich für eine Ausstellung künstlerische Ar-
beiten aus den Neunzigern angeschaut,
und da erinnert man sich plötzlich daran,
was da alles los war: Die rassistischen Aus-
schreitungen von Hoyerswerda 1991, der
Brandanschlag durch Rechtsextreme 1992
in Mölln, bei dem drei türkische Frauen
starben, der Brandanschlag von Solingen
1993 mit fünf Opfern, die Anschläge auf
Heinz Galinskis Grab und so weiter.

Für Ihre Arbeit als Ausstellungsmacherin,
aber auch als Historikerin spielt die Ar-
beit mit Zeitzeugen eine wichtige Rolle,
damitsolche Ereignisse eben nicht verges-
senwerden. Wer von diesenMenschen hat
Sie am meisten beeindruckt?
Unvergesslich war die Begegnung mit Re-
nee Goddard, die Tochter des deutsch-jüdi-
schen Trotzkisten Werner Scholem, über
den ich eine Biografie geschrieben habe.
Sie war sein zweites Kind. Vater und Mut-
ter waren in der Weimarer Republik sehr
aktiv in der frühen KPD. Renee lebte bei
den proletarischen Großeltern mütterli-
cherseits in Hannover; sie hat mir erzählt,
dass sie ihre Eltern gar nicht richtig kann-
te, sie waren immer damit beschäftigt, die
Revolution zu schaffen. Die Großeltern wa-
ren nicht jüdisch, dort war das Kind dann
nach 1933 zunächst mal sicher. Sie wurde
zur Tarnung sogar in die Hitlerjugend ge-
steckt und stand einmal im weißen Kleid
am Bahnhof, um Adolf Hitler zu begrüßen.

Wie hat sie die Nazizeit überlebt?
Auf abenteuerliche Weise. Renee kam
noch als Kind nach England – mit Hilfe ei-
nes SA-Mannes, der ihrer Mutter und ihr
zur Ausreise verhalf. Ihr Vater wurde 1940
im Konzentrationslager ermordet.
Ein Nazi hat sie gerettet?
Ja, so kann man es sagen, er war ein
Freund der Mutter. Oder eine Affäre, das
weiß man nicht genau. Der Mann, er trug
den wunderbaren Namen Heinz Hacke-
beil, hat die kleine Renate Scholem, wie sie
damals noch hieß, nach England gebracht,
um sie zu retten, während ihr Vater als pro-
minenter Kommunist in Einzelhaft saß.
Wie erfährt man solche Lebensgeschich-
ten, auch von Menschen, die eher ver-

schlossen sind und noch nie darüber ge-
sprochen haben?
Renee Goddard saß in der kleinen Küche
unserer Schwabinger Altbauwohnung und
hat drei Tage lang geredet. Über ihr ganzes
Leben. Was an ihr so spannend war: dass
sie noch als alte Frau beim Erzählen immer
wieder in die Kinderrolle geriet. Über das
kleine Mädchen war ja Ungeheures herein-
gebrochen.
Warum hat es so lange gedauert, oft Jahr-
zehnte, bis solche Menschen erzählt ha-
ben, was ihnen widerfahren ist?
Für die meisten dieser Zeitzeugen war es
extrem schwierig zu erzählen, was in
Auschwitz oder Buchenwald geschehen
war; viele hatten gegenüber jenen, die
nicht überlebt hatten, eine Art schlechtes
Gewissen –survivor’s guilt. In Deutsch-
land hat die Geschichtswissenschaft, die
stark auf Täterquellen fixiert war, die Zeit-
zeugen erst seit den Neunzigerjahren ange-
messen wahrgenommen. Den Überleben-
den wurde zuvor, etwa von Martin Broszat,
vorgeworfen, „geschichtsvergröbernde Er-
innerungen“ in die Welt zu setzen.
Die letzten Zeitzeugen, die den Nationalso-
zialismus noch bewusst erlebt haben, sind
heute sehr alt. Was passiert, wenn nie-
mand mehr von ihnen da ist?
Das ist noch gar nicht absehbar. Natürlich
haben wir die vielen Interviews, ein un-
glaublicher Schatz, wir können sogar Holo-
gramme von Zeitzeugen erstellen und Fil-
me zeigen, aber es ist nicht dasselbe. Es
wird gerade die Aufgabe der Museen sein,
hier innovative Wege zu gehen, etwa mit
künstlerischen und literarischen Werken
von Überlebenden zu arbeiten.
Sie erinnern im NS-Dokuzentrum an die
Jahre von 1933 bis 1945. Ist da überhaupt
Platz für die Probleme der Gegenwart?
Ja, natürlich! Das Thema Rechtsextremis-
mus ist ja schon länger ein Schwerpunkt
des Hauses. Das Interesse ist groß, man
merkt das auch an den steigenden Besu-
cherzahlen. Wir haben unser Programm
erweitert, um auch für ein junges Publi-

kum interessant zu sein: Rassismus, Anti-
semitismus im deutschen Rap, im Comic
oder im Fußball.
Dass Gymnasiasten ins NS-Dokuzentrum
kommen, ist ja nicht ungewöhnlich. Aber
wie erreicht man die anderen, die weniger
privilegierten Jugendlichen?
Wir hatten zum Beispiel eine Kooperation
mit einer Münchner Berufsschule, deren
Schüler für uns Arbeiten angefertigt ha-
ben. Die meisten leben in einem postmi-
grantischen Umfeld, einige sind als Flücht-
linge gekommen. Die Berufsschulen sind
nicht unser Stammpublikum, denn es gibt
dort kaum Geschichtsunterricht. Die Arbei-
ten der Schüler beschäftigten sich, ausge-
hend von der NS-Geschichte, mit den Sor-
gen und Ängsten, die sie selbst haben. All-
tagsrassismus, wachsende Armut, Gewalt
gegen Frauen in ihren Heimatländern.
Trotzdem bleibt das Problem, dass Ju-
gendliche schnell abschalten, wenn es um
die NS-Zeit geht.
Wir probieren neue Formate aus, kürzlich
hatten wir hier einen Insta-Walk im ehema-

ligen Parteiviertel der NSDAP, da hieß es
dann nicht wie sonst immer: Mobiltelefo-
ne weg, sondern Handys raus. Man konnte
auf Twitter und Instagram Fotos posten.
Das sind kleine Dinge, aber wir sollten auf
die Lebenswelt der Jugendlichen einge-
hen. Für manche junge Leute ist es inzwi-
schen schon ein mutiger Schritt, zu uns zu
kommen.
Warum?
Geschichte ist „uncool“, manchmal gibt es
vielleicht auch inhaltliche Vorbehalte und
die Sorge: In so einem Haus wird über deut-
sche Schuld gepredigt. Da gibt es bei vielen
eine gewisse Scheu, übrigens auch bei den
Erwachsenen. Dabei geht es uns gar nicht
um Bevormundung, sondern um eigen-
ständiges Denken, um Diskussion, um Er-
mutigung.
AlsSie vor 16 Monaten Ihren Posten antra-
ten, war ja vieles schon vorgeformt und
fertig in dem Kubus am Königsplatz. Was
wollen Sie konzeptionell verändern?
Wir suchen die Zusammenarbeit mit inter-
nationalen Einrichtungen, die von ihren
Regierungen zusehends unter Druck ge-
setzt werden – Archive und Museen in Po-
len zum Beispiel. Thematisch wollen wir
künftig zum Beispiel die Geschichte der
Mitläufer erzählen und die Frage stellen,
warum jemand kollaboriert mit einem Un-
terdrückungssystem oder eben nicht. War-
um zieht einer in die arisierte Wohnung,
warum bereichert er sich an den Gegen-
ständen, die jüdischen Deutschen genom-
men wurden? An dieser Frage sieht man,
wer den Mut hat nachzufragen, Nein zu sa-
gen, und sich vielleicht sogar zum Wider-
stand gegen das Regime zu entscheiden.
Was bedeutet das für uns heute?
Im NS-Dokuzentrum zeigen wir, was pas-
sieren kann, wenn eine Demokratie stirbt
und eine Diktatur entsteht, wenn Solidari-
tät umschlägt in Neid, Hass und Ausgren-
zung. Wer autoritäre, populistische Partei-
en und Anführer wählt, sollte sich darüber
klar sein: Das ist kein Spiel, das hat immer
Konsequenzen – für alle.

Mirjam Zadoff, geboren 1974 in Inns-
bruck, studierte Geschichte und Judais-
tik an der Universität Wien und promo-
vierte in München. Sie lehrte als Privat-
dozentin am Institut für Jüdische Ge-
schichte und Kultur der Ludwig-Maxi-
milians-Universität in München. Von
2014 bis 2018 war sie Professorin an
der Indiana University in Bloomington,
USA. Für ihre Biografie „Der rote Hiob.
Das Leben des Werner Scholem“ er-
hielt sie 2014 den Fraenkel Prize in Con-
temporary History. Im Mai 2018 trat Za-
doff als neue Direktorin des NS-Doku-
mentationszentrums München die
Nachfolge von Winfried Nerdinger an.
Sie ist mit dem Historiker Noam Zadoff
verheiratet.

„Wir müssen die Gegenwart
mitdenken,wenn wir über die
Vergangenheit sprechen.“

„Im NS-Dokuzentrum zeigen
wir,was passieren kann,
wenn eine Demokratie stirbt.“

FOTO: NATALIE NEOMI ISSER

„Die Rhetorik des Hasses
schlägtsich irgendwann auch
in Taten nieder.“

MIRJAM ZADOFF


ÜBER


MUT


56 GESELLSCHAFT DAS INTERVIEW Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019, Nr. 189 DEFGH


Ein greller Sommertag, ohne


Sonnenbrille ist es kaum auszuhalten.


Mirjam Zadoff, die Direktorin des


NS-Dokuzentrums am Münchner


Königsplatz, steigt mit der Leiter auf


den verwitterten Sockel des


„Ehrentempels“, ein Relikt der Nazizeit.


Sie blinzelt und ruft lachend:


„Hoffentlich macht mir das so schnell


keiner nach.“


Zur Person

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