Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1

W


as tragen Stilvorbilder im Som-
mer? Ganz sicher keine Bikinis
auf Booten im Mittelmeer. Auf
denen schippern sie zwar rum, aber
eben nicht zum Vergnügen, sondern
zum Beispiel um bei der Rettung schiff-
brüchiger Flüchtlinge zu helfen. Deshalb
saß auch Carola Rackete, die ehemalige
Kapitänin der in Italien festsitzenden
Seawatch 3, vor einigen Tagen in einer
Talkshow und enttäuschte das Publi-
kum damit, dort nicht allzu emotional
zu werden. Sondern mit Fakten und
Statistiken ihre Entscheidung zu unter-
streichen: Leben retten, wo Leben in
Gefahr sind. Stilistisch gesehen ist diese
nüchterne Tränentrockenheit natürlich
ein Wagnis. Denn um eine Botschaft ans
Volk zu bringen, muss man sie heutzuta-
ge eigentlich unbedingt emotional aufla-
den. Noch besser: gleich mit ein biss-
chen Pathos zur eigenen Marke werden.
Modelabels wissen das und drucken
heute deshalb regelmäßig gesellschafts-
politische Bonmots auf T-Shirts, um so
zu tun, als seien sie nah am Geschehen.
Wenn man wirklich an das glaubt, was
man so tut, ist die Sache aber natürlich
noch viel authentischer: Haare waschen,
das Shirt der „Extinction Rebellion“-Be-
wegung anziehen, die sich mit Mitteln
des zivilen Ungehorsams gegen das Aus-
sterben von Tieren und Pflanzen einset-
zen möchte, und ab geht’s vor die Kame-
ra. Racketes Outfit ist gewiss kein Show-
granaten-Look, wirkt aber doch, weil es
unterstreicht, was ihr eigentlich wichtig
ist. Halten wir fest: Die Mode ist tot, und
auf dem Sofa von Dunja Hayali saß eine
wunderschöne Frau. Was trägt man
diesen Sommer? Gesunden Menschen-
verstand. julia werner


Auf Krawall:


Der Minister


von gerhard matzig

E


in etwas voluminöses und schät-
zungsweise mittelaltes Paar,
nicht allzu befremdlich in den
wohlgenährten USA, aber jeden-
falls doch eher der Kompakt-
klasse zuzurechnen, steht vor der mut-
maßlich spektakulärsten Treppenanlage
der Welt. Er trägt ein rotes Shirt, sie ein
graues – und dazu eine Tasche mit dem
Aufdruck „Mind Body“. Beide tragen einen
verhalten fröhlichen, möglicherweise
auch eher besorgten Ausdruck im Gesicht,
den man vielleicht so deuten könnte: „Hey,
und da sollen wir jetzt wirklich hoch, ist
das euer verdammter Ernst?“
Der Mann, der dieses Bild trotzdem auf
Instagram gepostet hat (zum Zeitpunkt
dieser Niederschrift mit relativ enttäu-
schenden sieben Herzen ausgezeichnet)
nennt sich „pablorios670“. Die Treppen-
skulptur in Manhattan, New York, heißt da-
gegen „The Vessel“, Gefäß. Auf Instagram
ist die begehbare, vom Briten Thomas
Heatherwick entworfene Monumental-
skulptur schon zum Selfie-Star geworden:
Rund 175000 Posts können nicht irren.
Im März wurde die gigantische Stahl-
konstruktion inmitten des mit einem gu-
ten Dutzend Hochhäusern beplanten Are-
als namens „Hudson Yards“ am Westrand
von Manhattan eröffnet. Seither erinnert
die Anlage, die in knapp 50 Metern Höhe ei-
nen Instagram-tauglichen Ausblick ver-
spricht, an die von M.C. Escher als opti-
sche Täuschungen organisierten Treppen
des Irrewerdens. Andererseits finden eini-
ge Kommentatoren in den sozialen Netz-
werken auch, dass das Ding an eine sehr
große Ananas, einen sehr großen Abfallei-
mer oder möglicherweise auch an eine
sehr große Schnapsidee erinnert. Wenn,
dann funktioniert sie aber erstaunlich gut:
In New York gehört die Ananastreppe
schon zu den neuen Wahrzeichen.
Vielleicht toppt die Escher-Ananas
noch nicht die erste Liga, also Freiheitssta-
tue, Brooklyn Bridge, Times Square, Empi-
re State Building oder Central Park: Doch
etliche Touristen aus aller Welt kommen
zu den Hudson Yards, um die Vertikaldis-
tanz von etwa einer Meile treppenkeu-
chend zu überwinden, einerseits also im
Zeichen der sportiven Verfittung, die – ei-
gentlich keine schlechte Idee – der soft-
drinkhaften Verfettung entgegentritt. An-
dererseits dient das Gebilde vor allem da-
zu, dem Selfie zu einer zeitgemäß verblüf-
fenden Hintergrundoptik zu verhelfen.

In einer ikonischen bis narzisstisch-ge-
störten Ära der Aufmerksamkeitsökono-
mie, da zwar doch nicht, wie Warhol glaub-
te, jeder seine 15 Minuten Ruhm, aber im-
merhin mindestens einige Likes erhält,
wird The Vessel zum Gefäß unterschiedli-
cher Beweggründe. Derartige Spektakel-
Architekturen, die alles andere als sinnfrei
telegen um die Blicke der Welt konkurrie-
ren und im Wettbewerb einer verstädter-
ten Ära auch ganz schlicht um Besucher-
zahlen buhlen, werden die bislang bekann-
te Welt der etablierten Wahrzeichen zu-
mindest auffrischen. Wenn nicht ablösen.
Kein Wunder also, dass es immer mehr da-
von gibt.
In Dubai fungiert der tollkühne, arg zer-
brechlich wirkende „Dubai Frame“ als ar-
chitektonisches Ausrufezeichen, er stei-
gert das Selbstwertgefühl der Millionen-
stadt am Persischen Golf (die auch schon
das höchste Bauwerk der Welt besitzt). Der
Frame ist ein von Fernando Donis entwor-
fener „Rahmen“, englisch: frame, der sich
aus zwei extrem schlanken, jeweils 150 Me-
ter hohen Türmen zusammensetzt, die un-
ten durch ein Basisgebäude und oben
durch eine gut 90 Meter lange Brücke ver-
bunden sind.
Anfang 2018 wurde das Gebilde eröff-
net. Eigentlich sieht es aus wie ein großer,
leerer Bilderrahmen, der noch auf ein von
der hobbymäßig aquarellierenden, wenn
nicht gar dilettierenden Tante gestiftetes
Gruselwerk wartet. Der Rahmen ist sehr,
sagen wir, ornamental-barock und entsetz-
lich geraten. Der Effekt ist dennoch ver-

blüffend, weshalb auch der Rahmen von
Dubai zu den Instagram-Größen unserer
Epoche zählt. Übrigens ist es ermüdend:
Ob Frame oder Vessel, die Selfies zeigen
immer das Gleiche: tiefe Ausschnitte,
Waschbrett- bis Waschbärbäuche, Duckfa-
ceschnuten, akrobatische Verrenkungen,
angesagte Sneaker und sehr viele erigierte
Daumen, die suggerieren: Ich bin auch
hier und saugut drauf. Häufig wird das
dann so kommentiert: OMG – Oh my God.
Der, also Gott selbst, durch den Rahmen
entweder das moderne Dubai rund um
den 828 Meter hohen Burj Khalifa betrach-
ten kann oder wahlweise, aus der anderen
Richtung, auch das alte Dubai mit dem
Stadtteil Deira in den Blick nimmt. Deira
ist das historische Handelszentrum am Du-
bai Creek. Wer sich traut, kann aber auch
weder nach rechts noch nach links schau-
en, sondern einfach angstschlotternd
nach unten starren. Und beten, dass der
Glasfußboden hält, was die Ingenieure
und der TÜV behaupten.

Weil der Wettbewerb um immer aufse-
henerregende Städtebau-Gadgets so sehr
Fahrt aufnimmt, ist es eigentlich ein klei-
nes Wunder, dass sich London der Tulpe
verweigert. Vielleicht ist dies aber auch ein
Hoffnungszeichen, dass die Briten, wie
man schon länger argwöhnt, doch noch
nicht ganz gaga sind. BoJo hin, Brexit her.
Im Juli gab es die jedenfalls vorläufige Ab-
sage für das von Norman Foster entworfe-
ne Gebäude namens „Tulip Tower“. Dieser
Tulpenturm war gedacht als 305 Meter ho-
he Mischung aus Aussichtsturm und Rie-
senrad, also als reine Touristenattraktion.
Statt Büros oder Wohnungen waren eine
Bar und ein Restaurant mit 360-Grad-Pan-
oramablick über die Stadt geplant. Lon-
dons Bürgermeister Sadiq Khan hat aller-
dings sein Veto gegen die Pläne der 305 Me-
ter hohen Geschmacksentgleisung eines
offenbar auch schon etwas angejahrten Ex-
Stararchitekten eingelegt. Khan ließ mit-
teilen, dass der Bau die Londoner Skyline
ruinieren würde und zudem von begrenz-
tem Nutzen wäre für die Londoner. Und au-
ßerdem: „Es fehlen Fahrradplätze.“ Das
Ausspielen von Fahrradplätzen gegen Star-
Architektur ist natürlich boshaft. Aber
auch herrlich souverän.
Sehenswürdigkeiten sind ohne Zweifel
wichtig für Städte. Was wäre München oh-
ne Hofbräuhaus und Olympiastadion, was
wäre Hamburg ohne Michel und Elbphil-
harmonie, was wäre Berlin ohne Reichs-
tagskuppel (übrigens von Norman Foster
sehr schön entworfen) und Museumsinsel,
was wäre Paris ohne Eiffelturm? Die Ge-
schichte des Eiffelturms lässt einen im Be-
denken gegen Spektakuläres auch etwas
innehalten: Als der stählerne Turm seiner-
zeit, also Ende des 19. Jahrhunderts errich-
tet wurde, war der Bau eine Frechheit. Die
meisten Pariser wetterten gegen das spek-
takuläre Gebäude, das Paris ruiniere. Heu-
te ist der Turm des Gustave Eiffel, von
dem man lange nicht wusste, wozu er
eigentlich gut sein soll, ein unschätzbares
Wahrzeichen nicht nur von Paris, sondern
in der Welt.
Aber: Es drängt sich angesichts der oft
zirkusreifen Schau-mich-an-Bauten der
urbanen Neuzeit, ob Tulpe, Ananas oder
Rahmen, die eine Entsprechung im ländli-
chen Raum haben (gläserne Ausgucke
über tiefen Schluchten und dergleichen
mehr), der Eindruck auf, dass wir zwar im-
mer weniger identifikatorisch wirksame,
charakteristische Stadtfiguren ausbilden,
aber dafür mit pompösen Kraftanstren-
gungen im öffentlichen Raum versöhnt
werden sollen. Das heißt: Die Städte wer-
den immer hässlicher und verwechselba-
rer in ihrem Einerlei der trostlosen Zweck-
bauarchitektur. Und dafür stellt man uns
dann Treppen, Rahmen und Tulpen zum
Staunen hin. Statt Reiterstandbilde und
Brunnen wie im 19. Jahrhundert.
Das ist schlau: Wer die Ananas von Man-
hattan einmal erkraxelt hat, ist schlicht zu
müde, um gegen den Städtebau von heute
zu protestieren. Es reicht dann nur noch
für ein todtrauriges Selfie: Schaut, ich war
da – wo auch immer dieses „da“ sein mag.

D


er Bilderdienst der Deutschen
Presse-Agentur sah sich letzte
Woche zu folgender Berichti-
gung veranlasst:Bei den gesendeten
Bildern „Salvini im Urlaub“ ist die Über-
schrift nicht korrekt. Salvini befindet
sich nicht im Urlaub, sondern auf Som-
mertour als Chef der rechten Lega.Dieser
Fehler ist verzeihlich. Denn die Wonne
mit der der mutmaßlich nächste Minis-
terpräsident Italiens Sandburgen baute,
im seichten Wasser ebensolche Parolen
verteilte und seinen nackten Männer-
bauch für Selfies mit Bikini-Damen zur
Verfügung stellte, hätte jeder Spitzenpo-
litiker Europas wohl lieber als Urlaub
deklariert. Nicht so Herr Salvini, der die
„Das Boot ist voll!“-These selbst im prall-
vollen Kajak untermauerte und seine
Körperlichkeit offenkundig genoss.
„Platz da, ich bin der Landvogt!“ sagte
Bud Spencer einst, wenn er an die Theke
trat, und genau mit diesem breiten
Selbstverständnis rumpelte der Minister
dort entlang, womit er in den letzten
Monaten Politik machte: an den Strän-
den Italiens. Man bedenke nur, was los
wäre, wenn eine Frau mit ähnlichem
Amt und Umfang auf diese freizügige
Art Wahlkampf gemacht hätte – Salvini
wäre vermutlich der Erste gewesen, der
hämische Bemerkungen verstreut hätte.
Nein, das ist sehr männliches Getue und
eines, das nur durch ein übermäßig
geschwollenes Selbstbild zu erklären ist.
Gibt’s auch noch modische Details zu
erwähnen? Nun, das große Holzkreuz,
das oben auf Salvinis Brust aufliegt, ist
vermutlich als stilistisches Accessoire zu
verstehen. Ein Bekenntnis zu christli-
cher Nächstenliebe kann es ja eher nicht
sein. max scharnigg


Auf Kurs: Die


Kapitänin


FOTO: DPA (2)

LADIES & GENTLEMEN


Das ist


doch die


Höhe


In Dubai und New York


entsteht gerade eine teure


Spektakel-Architektur,


die nur noch Kulisse


sein soll. Eine Polemik


Auch der Eiffelturm
in Paris galt mal als
architektonische Frechheit

DEFGH Nr. 189, Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019 57


STIL


Der „Dubai Frame“ ist ein
ornamental-barocker Rahmen.
Und ein bisschen entsetzlich

Vom „Dubai Frame“ aus sieht man auf der einen Seite
die moderne Großstadt (mit dem 828 Meter hohen Burj Khalifa),
auf der anderen Seite steht das alte Dubai. Mitte: „The Vessel“
ist ein aus 154 Treppen bestehendes Bau- und Schauwerk in
Manhattan. Der 1889 eröffnete Eiffelturm war damals das
höchste Gebäude der Welt. Rechts unten: So sollte das „Tulip“ in
London aussehen, das jetzt doch nicht gebaut wird.
FOTOS: MAURITIUS (3), PICTURE ALLIANCE

Am besten direkt aus der Schale
schlürfen: Warum Nordsee-Austern
immer beliebter werden  Seite 60

Sommerfrische

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