Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1
interview: thomas kirchner
und rainerstadler

In vielen Ländern der Welt sind in den ver-
gangenen Jahren Männer an die Macht
gekommen, die – vorsichtig ausgedrückt –
ein paar Verhaltensauffälligkeiten zeigen;
zuletzt Boris Johnson in Großbritannien.
Oft heißt es über sie, es handele sich um
Narzissten. In der Wählerschaft erwarten
die einen geradezu Erlösung von ihnen,
andere wiederum fürchten sie.


SZ: Was ist das eigentlich – ein Narzisst?
Claas-Hinrich Lammers: Erst mal ein häu-
fig gebrauchter Begriff, der aber im Grun-
de nicht hinreichend definiert ist. Er wird
zumeist für Menschen verwendet, die sehr
eingebildet und arrogant sind. Aber da
stellt sich sofort die Frage: Warum brauche
ich dann den Begriff des Narzissmus, war-
um kann ich nicht sagen: Dieser Mensch
ist arrogant? Der eigentliche Begriff des
Narzissmus ist viel umfassender, da hierzu
auch eine Empathiearmut gehört.
Also die Unfähigkeit und der Unwille, sich
für andere Menschen zu interessieren
und sich in diese einzufühlen.
Genau. Der Begriff stammt ursprünglich
aus der Psychiatrie und bezeichnet Men-
schen, welche aufgrund der sehr starken
Ausprägung ihrer narzisstischen Persön-
lichkeitseigenschaften erhebliche Proble-
me im Leben haben. Seine Bedeutung hat
sich aber verändert, weil ihn die Sozialpsy-
chologen – also die Psychologen, die sich
nicht mit Krankheit beschäftigen, sondern
mit den normalen Persönlichkeitszügen
von Menschen – für sich entdeckt haben.
Sie haben darunter verschiedene Eigen-
schaften normaler und gesunder Men-
schen subsumiert, zum Beispiel Führungs-
wille, Eitelkeit, Wunsch nach Aufmerksam-
keit, positives Selbstbild, Anspruchshal-
tung. Und dazu haben sie eine Skala ent-
worfen, mithilfe derer sie dann die indivi-
duelle Ausprägung dieser Eigenschaften
messen können. Die Aussage der Psycholo-
gen war also: Jeder gesunde Mensch hat
narzisstische Eigenschaften, der eine
mehr, der andere weniger.
Bei welchem Wert auf der Skala wird aus
der Eigenschaft eine Störung?
Es gibt keine feste Markierung, so wie
beim Fieber. Deshalb sprechen Psychiater
erst dann von einer Persönlichkeitsstö-
rung, wenn die Ausprägung der jeweiligen
Eigenschaften und Verhaltensweisen sehr
stark ist und der Betroffene auch darunter
leidet.
Gemäß Letzterem wären selbst Donald
Trump und Boris Johnson keine Narziss-
ten. Andererseits: Niemand weiß doch, ob
sie nicht doch unter ihrer Persönlichkeit
leiden?
Ich würde bei Trump ganz klar sagen: Ja,
der verhält sich wie ein Narzisst aus dem
Lehrbuch, aber man kann ihm keine nar-
zisstische Persönlichkeitsstörung unter-
stellen, bei ihm also keine Störung oder


Krankheit diagnostizieren, da wir nicht
wissen, ob er dabei auch leidet. Schließlich
ist er nicht zuletzt dank seiner narzissti-
schen Eigenschaften extrem erfolgreich.
Bei Boris Johnson sehe ich eher histrioni-
sche Züge. Aber da sind die Übergänge
zum Narzissmus fließend.
Was sind histrionische Züge?
Menschen, die viel Aufmerksamkeit und
Bewunderung von anderen Menschen
brauchen und sich deshalb ständig vor die-
sen produzieren müssen. Im Gegensatz zu
Narzissten werten sie andere Menschen
nicht so extrem ab, beuten sie nicht aus, ha-
ben auch keinen Mangel an Mitgefühl.
Wenn die Begriffe so schwammig sind,
welchen Wert hat es dann, sich in der De-
batte über Politik damit zu beschäftigen?
Na ja, bei Trump hat man schon gemerkt:
Man kommt nicht umhin, sich anzuschau-
en, was für ein Mensch das eigentlich ist.
Es ist so offensichtlich, dass sein Narziss-
mus das politische Handeln prägt. Wie im-
pulsiv er agiert, wie schnell er gekränkt re-
agiert, wie er lügt und andere Menschen
wie Gegenstände nach Lust und Laune be-
handelt! Es gilt zwar unter den amerikani-
schen Psychiatern die Regel, dass sie nicht
per Ferndiagnose einen psychiatrischen
Befund bei Politikern äußern dürfen. Aber
damit haben einige amerikanische Kolle-
gen bewusst gebrochen, weil sie feststellen
mussten: Trump hat ein Limit überschrit-
ten, das können wir nicht mehr ignorieren.
Boris Johnson nähert sich meiner Mei-
nung nach dieser Grenze auch bedenklich.
Und auch sein politisches Handeln ist ohne
das Wissen um seine Persönlichkeit oft
unverständlich.
Auch Gerhard Schröder oder Joschka
Fischer wurde Narzissmus nachgesagt.
Ab wann wird die Persönlichkeit eines
Politikers problematisch?

Münsteraner Psychologen haben in Stu-
dien festgestellt, dass Narzissmus häufig
kein Problem darstellt, solange es nur um
Selbstidealisierung geht. Also um das Stre-
ben, der Beste, Größte und Erfolgreichste
zu sein. Problematisch wird es, wenn diese
Menschen dazu noch in Konkurrenz zu an-
deren Menschen treten und es einfach
nicht ertragen, dass die vielleicht auch mal
Erfolg haben. Dann verhalten sie sich oft
aggressiv, abwertend und ausbeuterisch.
Ob dies bei Schröder oder Fischer der Fall
war, kann ich natürlich nicht beurteilen.
Das könnte erklären, warum Trump offen-
sichtlich nur Leute um sich schart, die ihm
nach dem Mund reden.
Narzisstische Menschen tun sich mit Kri-
tik sehr schwer. Sie deuten das als persönli-
chen Angriff, den sie sofort mit Vergeltung
beantworten. Deswegen kann es solche
Menschen enorm stärken, wenn sie nur
Mitarbeiter um sich haben, die ihnen im-
mer nach dem Mund reden. Damit be-
kommt das eigene Handeln viel mehr
Durchschlagskraft.
Wie anziehend wirkt Narzissmus auf die
Wähler?
Darüber habe ich neulich mit einem Kolle-
gen diskutiert. Er hatte die Hoffnung, dass
die Wähler bei uns etwas schlauer wären.

Schließlich kommen eher unspektakuläre
Politiker wie Angela Merkel oder der Ham-
burger Erste Bürgermeister Peter Tschent-
scher auf hohe Umfragewerte. Aber ein
Trump kann natürlich extrem polarisieren
und spalten. Denn die Hälfte der Men-
schen interessiert ihn überhaupt nicht. Er
bedient, in Zeiten komplexer Probleme

und Unsicherheiten, den Wunsch vieler
Menschen nach Klarheit und machtvoller
Führung. Narzissten sind klassische Ma-
cher. Sie wollen führen und etwas bewe-
gen, und das kann sehr anziehend für ande-
re Menschen sein.
Heißt das umgekehrt, wenn man sich die
quälende Diskussion um die Neubeset-

zung des Parteivorsitzes der SPD verge-
genwärtigt: Etwas mehr Narzissmus könn-
te den Sozialdemokraten nicht schaden?
Das wäre eine typische Reaktion auf eine
unsichere Lage: dass man sagt, da muss
endlich eine starke Hand her. Wahrschein-
lich hatten viele US-Wähler genau diesen
Reflex, als sie Trump gewählt haben.

Finden die Wähler Trump so anziehend,
weil auch die Gesellschaft narzisstischer
geworden ist?
Es gab in Amerika eine Studie, die genau
das behauptete. Man hat Eingangstests
von Studenten, die auch Fragen zur Persön-
lichkeit umfassen, miteinander vergli-
chen: Wie hat sich das in den vergangenen
30 Jahren entwickelt? Und kam zu dem Er-
gebnis, dass es eine Steigerung gab. Die
Studie ließ sich allerdings durch Folgestu-
dien nicht bestätigen. Man hat sich die Zu-
nahme schließlich mit dem Anstieg des
Narzissmus bei Frauen erklärt. Wenn man
sich aber fragt, was sich bei Frauen seit
1970 geändert hat, dann ist es schlichtweg
die Emanzipation. Mit einem problemati-
schen Narzissmus hat das aus meiner Sicht
jedenfalls nichts zu tun, wenn Frauen heu-
te viel selbstbewusster, erfolgsorientierter
und anspruchsvoller auftreten als früher.
Ist Narzissmus überwiegend ein männli-
ches Phänomen?

Wenn man narzisstische Persönlichkeits-
störung untersucht, ergibt sich ein Verhält-
nis von zwei Drittel Männern und einem
Drittel Frauen. Das hängt sicher mit kultu-
rellen Einflüssen und Rollenmodellen zu-
sammen. Frauen scheinen häufiger eine
Art verdeckten Narzissmus aufzuweisen:
Menschen, die beim ersten Kontakt eher
unsicher und zurückhaltend erscheinen.
Je näher man ihnen kommt, umso mehr
fällt auf, wie sehr sie von ihrer eigenen Grö-
ße eingenommen sind und wie wenig Mit-
gefühl sie mit anderen Menschen haben.
Ein Kollege von Ihnen bemerkte, dass Nar-
zissmus heute genau so oft diagnostiziert
werde wie vor hundert Jahren „Hysterie“
bei Frauen. Würden Sie zustimmen?
Das ist ein sehr interessanter Vergleich.
Hysterie war Ende des 19. Jahrhunderts
die Diagnose von psychischen Erkrankun-
gen schlechthin. Wenn man Spezialisten
der Psychiatrie damals gesagt hätte, in ein
paar Jahren wird es diese Diagnose gar
nicht mehr geben, hätte das keiner ernst ge-
nommen. Trotzdem wurde der Begriff ab-
geschafft, weil er schwammig war, zu viele
verschiedene psychische Konflikte umfass-
te und damit wenig aussagekräftig war.
Ist Narzissmus per se negativ?
Nicht, wenn es sich um gesundes Streben
nach Selbstwert handelt. Untersuchungen
haben gezeigt: Menschen, die eine etwas
stärkere Ausprägung narzisstischer Per-
sönlichkeitsmerkmale aufweisen, die
selbstbewusster und durchsetzungsfähi-
ger sind, sind oftmals psychisch gesünder.
Entscheidend ist, ob man anderen Men-
schen dennoch respektvoll und mit Ver-
ständnis und Wertschätzung begegnet.
Gilt das auch für die Politik?
Natürlich. Ein Bundeskanzler muss ganz
klar die Züge haben, die man als narziss-
tisch bezeichnen würde. Das ist im Grunde
genommen die Voraussetzung, um diesen
Beruf ausüben zu können. Was die alles ein-
stecken müssen! Stellen Sie sich vor, Sie sit-
zen im Bundestag, und ein Redner nach
dem anderen erklärt Ihnen, dass Sie ein Idi-
ot sind. Das halten Sie nicht aus, wenn Sie
ein übermäßig sensibler Mensch sind.

Die erste Busfahrspur
in Deutschlandwurde
am 1. September 1968
in Wiesbaden eröffnet.

Die Erleuchteten


Der Psychiatrie-Professor Claas-Hinrich Lammers zur Frage, warum viele Wähler
Narzissten mögen und warum es in einem Spitzenamt ohne Narzissmus nicht geht

Berlin– Verkehrsminister Andreas Scheu-
er (CSU) gerät wegen der geplatzten Pkw-
Maut immer stärker unter Druck. Interne
Dokumente nähren Zweifel an der Version
des Bundesverkehrsministeriums, dass
der Bund den Vertrag mit den Maut-Be-
treibern aus mehreren Gründen kündi-
gen kann und damit Schadenersatzforde-
rungen entgeht. Prüfer des Bundesver-
kehrsministeriums sahen noch Ende Mai
2019 keine Gründe, die für eine Kündi-
gung der Verträge mit den Betreiberfir-
men des umstrittenen Mautprojektes
sprachen. Das geht aus vertraulichen Do-
kumenten hervor, die dem WDR und der
Süddeutschen Zeitungvorliegen.
Die als „Ausländermaut“ bekannt ge-
wordene Abgabe war ein Prestigeprojekt
der CSU und ist seit der ersten Vorstellung
im Wahlkampf 2013 hoch umstritten. Mit
der Maut sollten besonders ausländische
Nutzer belastet werden. Der Europäische
Gerichtshof (EuGH) hatte sie Mitte Juni
2019 schließlich gekippt, weil er sie als eu-
roparechtswidrig einstufte. Die Maut soll-
te vor allem Ausländer treffen. Deutsche
sollten sie auch zahlen, aber über die Steu-
er entsprechend entlastet werden.

CSU-Verkehrsminister Scheuer hatte
die Verträge unmittelbar nach dem Urteil
aufgekündigt, angeblich auch, weil es laut
seinem Ministerium erhebliche Mängel
an der sogenannten Feinplanungsdoku-
mentation gab. Dazu zählt die Dokumen-
tation von Fortschritten beim Aufbau der
Maut. Hintergrund ist offenbar, dass Scha-
denersatz an die Betreiber droht, hätte der
Bund allein infolge des EuGH-Urteils ge-
kündigt. Durch den Verweis darauf, dass
das Projekt nicht wie geplant vorankam,
versucht das Bundesverkehrsministeri-
um offenbar nun, diesen Kosten zu entge-
hen. Insider gehen davon aus, dass die Be-
treiber mindestens 700 Millionen Euro
fordern könnten.
Doch die Dokumente zeigen ein ande-
res Bild. Noch kurz vor den Vertragskündi-

gungen sahen die Prüfer im Ministerium
keine unüberbrückbaren Probleme. Das
geht aus einem als Verschlusssache einge-
stuften Statusbericht aus dem Bundesver-
kehrsministerium von Ende Mai 2019 her-
vor, der dem WDR und der SZ vorliegt. Das
Dokument listet detailliert den Planungs-
stand in unterschiedlichen Bereichen des
Infrastrukturprojektes auf und stellt mög-
liche Risiken in einem Ampelsystem dar.

Häufig zeigt die Ampel in dem Statusbe-
richt Grün, an einigen Stellen auch Oran-
ge. Eine rote Ampel findet sich allerdings
an keiner Stelle. „Das Gesamtprojekt liegt
insgesamt noch im Plan“, heißt es.
Auch aus einer E-Mail eines externen
Gutachters an das Kraftfahrtbundesamt
und das Bundesverkehrsministerium, die
WDR und SZ vorliegt, geht hervor, dass
die externen Prüfer keine unlösbaren Pro-
bleme sahen. Zwar sei laut dem Prüfer „ei-
ne Anzahl von 42 Defiziten der Schwere 2
aufgeführt, die kurzfristig behoben wer-
den sollten“, aber im gleichen Satz heißt es
auch: „Wir konnten kein kritisches Defizit
identifizieren, das gegen eine Fortsetzung
des Projektes nach Plan spräche.“
Oppositionspolitiker kritisieren seit
Langem den aus ihrer Sicht überstürzten
Vertragsabschluss. Der verkehrspoliti-
sche Sprecher der FDP-Bundestagsfrakti-
on Oliver Luksic sagte am Freitag: „Es ist
offensichtlich, dass Minister Scheuer nun
verzweifelt den Betreibern eine Schlecht-
leistung vorwirft, damit der Bund nicht
300 Millionen Euro oder mehr Schadener-
satz zahlen muss. Stephan Kühn, ver-
kehrspolitischer Sprecher der Grünen,
sagte: „Ich gehe nach Lektüre wichtiger
Akten davon aus, dass der Kündigungs-
grund 'Schlechtleistung' vorgeschoben
ist. Es gab keine unüberwindbaren Proble-
me.“ Das Ministerium selbst weist die Vor-
würfe dagegen zurück. Die Kündigung
der Verträge sei berechtigt gewesen, sagte
ein Sprecher.
markus balser, martin kaul

„Stellen Sie sich vor, Sie sitzen
im Bundestag, und ein Redner
nach dem anderen erklärt
Ihnen, dass Sie ein Idiot sind.“

München– Es ist ein ganzes Paket an Maß-
nahmen, das Bundesverkehrsminister An-
dreas Scheuer am kommenden Montag
auf den Weg bringen möchte. Mit zahlrei-
chen Änderungen und Neuerungen in der
Straßenverkehrsordnung (StVO) will er
„unsere Straßen noch sicherer, klima-
freundlicher und gerechter“ machen, wie
der CSU-Politiker sagt. Einiges davon ist
arg umstritten. Hier die wichtigsten Fra-
gen und Antworten zum Thema.


Was plant der Minister?
Scheuers Entwurf sieht unter anderem
härtere Strafen vor, etwa für Autofahrer,
die keine Rettungsgasse bilden. Sie sollen
künftig ein Bußgeld von bis zu 320 Euro
zahlen, außerdem droht ein Monat Fahr-
verbot. Wer unerlaubt in zweiter Reihe
parkt oder auf Geh- und Radwegen, soll
statt 15 Euro künftig bis zu 100 Euro zah-
len. Außerdem sollen die vor Kurzem ein-
geführten Elektrotretroller auch auf Bus-
spuren fahren dürfen. Um den motorisier-
ten Individualverkehr zu verringern, sieht
der Vorschlag außerdem die Freigabe von
Busspuren für Pkws oder Krafträder mit
Beiwagen vor, sofern diese mit mindes-
tens drei Personen besetzt sind.


War vieles davon nicht schon bekannt?
Zum Teil ja. Insbesondere Neuerungen
rund ums Radfahren hatte Scheuer be-
reits vor Wochen vorgestellt; so soll unter
anderem Autofahrern beim Überholen
von Fußgängern, Radfahrern oder E-Tret-
rollern künftig per Gesetz ein Mindestab-
stand von 1,5 bis zwei Metern vorgeschrie-
ben werden. Den „grünen Pfeil“ beim
Rechtsabbiegen soll es künftig auch spezi-
ell für Radfahrer geben. Ebenfalls bereits
vorgestellt hatte Scheuer einen Passus, wo-
nach Kommunen künftig spezielle
Carsharing-Parkplätze „rechtssicher“ aus-
weisen können, wie es heißt. Neu in dem
Paket des Ministers ist, dass das Ab-
schalten von Notbremsassistenzsystemen
durch den Fahrer ab einer Geschwindig-
keit von mehr als 30 Kilometer pro Stunde
verboten werden soll. Wer gegen die neue
Vorschrift verstößt, muss mit einem Buß-
geld in Höhe von 100 Euro rechnen und be-
kommt einen Punkt in Flensburg.


Wie fallen die Reaktionen aus?
Unterschiedlich. Ein Sprecher der Deut-
schen Verkehrswacht begrüßte es, dass
„das Problem Rettungsgasse weiter ange-
gangen wird“. Die Freigabe von Busspuren
für andere Verkehrsteilnehmer hingegen
stößt auf heftige Kritik. „Busspuren sollen
dem öffentlichen Personennahverkehr so-
wie den jetzt schon bestehenden Ausnah-
men wie Fahrrädern, Taxis oder Kranken-
wagen vorbehalten bleiben“, sagte Berlins
Verkehrssenatorin Regine Günther (Grü-
ne). Ähnlich sieht es der Landesverband
Bayerischer Omnibusbetreiber (LBO). Bus-
spuren seien „dazu gedacht, dass Busse
nicht im Stau stehen und die Fahrgäste zü-
gig und pünktlich ans Ziel kommen“, sagt
Geschäftsführer Stephan Rabl. Sollten die
Spuren künftig in großer Zahl von Pkws
und E-Rollern befahren werden, „führt
das zwangsläufig zu längeren Fahrzeiten
im Nahverkehr und damit einer geringe-
ren Attraktivität dieser umweltfreundli-
chen Alternative“.

Was steht nicht in Scheuers Novelle?
Im Januar 2018 hatten sich Fachleute auf
dem Verkehrsgerichtstag in Goslar für
eine „spürbare Anhebung“ der Bußgelder
bei „sicherheitsrelevanten Verstößen“ aus-
gesprochen – also insbesondere beiGe-
schwindigkeitsübertretungen, Abstands-

oder Überholvergehen. Nur so könne der
„zunehmenden Aggression im Straßenver-
kehr“ begegnet werden, findet Stefan
Heimlich, Vorstand des Auto Club Europa
(ACE). Doch in den bislang bekannt gewor-
denen Teilen von Scheuers Entwurf findet
sich nichts in diese Richtung. Die Verkehrs-
wacht sprach sich deshalb für eine grund-
legende Reform aus: Dazu sollten „Maß-
nahmen und Bußgelder unter Verkehrssi-
cherheitsaspekten wissenschaftlich ausge-
wertet und priorisiert werden“, erklärte
ein Sprecher.

Wie ist es um die Sicherheit auf deut-
schen Straßen generell bestellt?
Eher unbefriedigend. 2018 kamen laut Sta-
tistischem Bundesamt 3275 Menschen bei
Verkehrsunfällen ums Leben, drei Prozent
mehr als ein Jahr zuvor. Die Zahl der Ver-
letzten stieg um 1,5 Prozent auf 396 000.
Dabei hatte sich die damalige Bundesregie-
rung zu Beginn des Jahrzehnts noch vorge-
nommen, bis 2020 die Zahl der Verkehrsto-
ten um 40 Prozent zu senken, das wären
dann etwa 2400 Todesopfer im kommen-
den Jahr. Schon jetzt sei absehbar, dass
„wir dieses Ziel krachend verfehlen wer-
den“, sagt Rainer Wendt, der Chef der Deut-
schen Polizeigewerkschaft. Und der ADAC
fordert: „Die Verkehrssicherheitsarbeit be-
nötigt dringend neue Impulse.“ Hilfreich
wäre aus Sicht des Deutschen Verkehrssi-
cherheitsrats (DVR) zum Beispiel eine Ab-
senkung der Höchstgeschwindigkeit auf
schmalen Landstraßen von 100 auf 80 Ki-
lometer pro Stunde. Polizeigewerkschaf-
ten und Unfallforscher fordern zudem
mehr Personal für die Verkehrsüberwa-
chung, um mehr Kontrollen durchführen
und die von Scheuer geplanten höheren
Bußgelder, sofern sie kommen, auch ein-
treiben zu können.

Wie sieht Scheuers Zeitplan aus?
Der Minister will seine Pläne am Montag
seinen Kollegen in der Bundesregierung
vorlegen, außerdem erhalten Verbände
die Möglichkeit, sich dazu zu äußern. Bun-
destag sowie Bundesrat müssen der
Reform zustimmen. Geht es nach dem Mi-
nister, sollen die Änderungen noch 2019 in
Kraft treten.marco völklein  Seite 4

„Es kann solche Menschen
enorm stärken, wenn sie nur
Mitarbeiter um sich haben, die
ihnen nach dem Mund reden.“

Akten gegen Scheuer


Verkehrsminister gerät im Maut-Debakel in Erklärungsnot


Nahverkehr

Vorfahrt für die Umwelt


Verkehrsministerium will Busspuren für E-Tretroller und Pkws mit mehreren Insassen öffnen


Wegen schlechter Leistungen
konnte der Betreiber-Vertrag
wohl nicht gekündigt werden

Claas-Hinrich Lammers,
57,ist Chefarzt in der
Klinik Nord-Ochsenzoll in
Hamburg. Er befasst sich
seit Langem mit Persön-
lichkeitsstörungen. Im
Herbst erscheint sein
Buch „Bin ich ein Nar-
zisst?“ bei Klett-Cotta.
FOTO: TINA DEMETRIADES

Die Betreiber könnten
700 Millionen Euro
Schadenersatz fordern

6 POLITIK HF2 Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019, Nr. 189 DEFGH


„Wie schnell er gekränkt reagiert, wie er lügt und andere Menschen
nach Lust und Laune behandelt!“: Das ist in der Wahrnehmung des Fachmanns Lammers
Donald Trump, hier zu sehen bei einem Frühstück in Brüssel.FOTO: BRENDAN SMIALOWSKI/AFP

Die Freigabe von Busspuren für weitere Fahrzeuge würde zu starken Verzögerun-
genimöffentlichen Nahverkehr führen, kritisieren Fachleute. FOTO: ARNO BURGI/DPA
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