Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1
Man könnte meinen, im Sommer wür-
de nochmehr Wasser fließen als sonst,
weil die Menschen mehr trinken, ihre
Füße in vollen Wannen abkühlen. Vom
Beginn der Sommerferien an drehen
sich die Nummern auf den Zählern
aber nicht mehr so schnell, weil so viele
Menschen raus fahren oder mit dem
Flugzeug abheben. An einem Tag rau-
schen sonst 300 Millionen Liter Wasser
durch die Rohre der Stadt, in diesen
Wochen sind es etwa zehn Prozent
weniger.

Die Nacht legt sich über die Stadt. Die
Menschensitzen am Fluss. Mit Gitar-
ren, mit Bier, mit Pommes. Wenn sie in
ihre Häuser zurückkehren, werden sie
die Gitarren mitnehmen, aber nicht
immer ihren Müll. Wenn nach einem
warmen Wochenende die Straßenreini-
gung mit der Arbeit beginnt, sammeln
die Männer entlang der Isar ungefähr
vier Tonnen Abfall ein.

Wenn man in der eigenen Stadt einmal
Tourist sein möchte, sollte man sich
um zwölf Uhr auf den Marienplatz
stellen. Blick nach oben, Kamera raus.
Glockenspiel. Im vergangenen August
reisten 738883 Menschen nach Mün-
chen, nur etwa zwei Prozent würden
zur gleichen Zeit auf den Marienplatz
passen. Er müsste 36 Mal so groß sein,
damit sich alle versammeln könnten.

Schon des Namens wegen beißt
man die Zähne ein bisschen mehr zu-
sammen, wenn man in den Eisbach
im Englischen Garten springt statt in
die Isar. Dabei ist das Wasser das Glei-
che, der Bach ist ein Nebenarm des
Flusses. Nur weil die Strömung im
Eisbach stärker ist als in der Isar, er-
wärmt sich das Wasser nicht so
schnell, und deshalb unterscheidet
sich die Temperatur manchmal,
wenn auch in der Regel minimal. Am
Donnerstag fror man im Eisbach
bei 15,9 Grad, und die Isar war nur
0,4 Grad wärmer.

Der Herr über das Becken ist manch-
mal leicht zu übersehen. Er wartet am
Rand auf seinen Einsatz und beobach-
tet. Wenn ein Gast an einer verbotenen
Stelle ins Wasser springt, ist ein schril-
les Pfeifen zu hören, nur in Notfällen
springt auch er ins Wasser. Meistens ist
es ein Herr, denn in Münchens Bädern
arbeiten 80 Rettungsschwimmer – und
nur 20 Prozent davon sind Frauen.

Der Sommer fühlt sich in diesem Jahr
an wie ein Besuch in der Sauna. Heiß,
kalt, heiß, kalt. Auf den Straßen sieht
man sowohl dünne Kleider als auch
Herbstmäntel, die einen tragen Flip-
flops, die anderen schwere Stiefel. Am


  1. Juli waren letztere auf jeden Fall
    nicht zu empfehlen, am bislang heißes-
    ten Tag der vergangenen Wochen. Die
    Stadt schwitzte bei 35,3 Grad.


Wenn man #sommerinmünchen auf Instagram sucht, findet man Tausend verschie-
dene Sommer. Mehr als 4900 Fotos. Von Tangotänzern am Königsplatz, Yogamatten
vor der Alten Pinakothek, einer Schwimminsel aus Plastik, einem nackten Mann am
Eisstand und einer großen Maschine der Münchner Feuerwehr zum Entlüften. Lei-
der ist die nicht für Büros, sondern für U-Bahnhöfe gedacht.

Manche mögen über die Elektroroller
schimpfen, doch wenn die nasse Bade-
hose am Sitz festklebt, fühlt sich das
Leben schon sehr leicht an. Zumindest
bis zum Flaucher – dann erscheint auf
der Karte eine rote Linie. Ende der Park-
zone. Man muss 1,3 Kilometer weiter-
fahren, um den Emmyroller wieder
abstellen zu dürfen, so groß ist die Lü-
cke zwischen den zwei Zonen.

Die Stadtwerke haben in diesem Som-
mer bislang 440 000 Kilowattstunden
Sonnenstrom in München produziert,
von Anfang Juni bis Anfang August.
Das ist nicht viel, wenn man sich über-
legt, dass die Stadt in einem Jahr sie-
ben Milliarden Kilowattstunden ver-
braucht – bleibt zu hoffen, dass in den
anderen Solarparks der Stadtwerke
häufig die Sonne scheint.

Wenn es am Abend noch heiß ist, be-
kommt man im Kino die besten Plätze,
doch weil Sommer und dunkle Räume
nicht ganz so gut zusammenpassen,
kann man stattdessen zum Beispiel in
den Westpark gehen. 97 Nächte lang
werden dort Filme gezeigt, im Gegen-
satz zum Kino muss man besonders an
heißen Tagen allerdings früh da sein,
um noch einen Platz zu bekommen.

Wenn man einen Sprecher des Flugha-
fens fragt, ob sich die Flugscham in
München bemerkbar mache, hört man
nur: ein Lachen. Alleine in der ersten
Ferienwoche sind knapp 6000 Flugzeu-
ge gestartet. Die meisten Maschinen
landeten in Italien, Spanien oder Frank-
reich. Alles Strecken, die man auch mit
dem Auto oder dem Zug schaffen könn-
te, zumindest mit viel Zeit.

Barkeeper in München mischen wohl
keinen Aperitif so oft zusammen wie
diesen: Zwei Teile Aperol, drei Teile
Prosecco und einen Teil Soda. Wie viele
Liter Aperol Spritz im Sommer getrun-
ken werden, lässt sich leider nicht her-
ausfinden, das Aperol Festival am Eng-
lischen Garten Anfang August könnte
den Verbrauch aber nochmals gestei-
gert haben.

Wie viele der 81 Eiscafés in der Stadt
nach italienischen Orten benannt sind,
ist nicht erfasst, aber auffällig ist, dass
es sich mit den Eisdielen in München
ähnlich verhält wie mit Friseuren. Es
eröffnen so viele Läden, dass man sich
fragt, ob es nicht bald mehr Läden gibt
als Kunden – wobei man selbst bei
schnellem Haarwuchs wohl häufiger
eine Eisdiele braucht als ein Friseurge-
schäft. Vor zehn Jahren verkauften
gerade einmal 33 Eiscafés in der Stadt,
so viele zumindest hatten das im Han-
delsregister oder in ihrem Gewerbe-
schein angegeben. Dazu zählen auch
Cafés, die neben eigenem Eis noch
andere Waren verkaufen.

Der Sommer ist die Zeit des Wartens.
Man wartet auf kalte Getränke am
Reichenbachkiosk, auf kalte Getränke
am Milchhäusl. Manchmal wartet man
aber auch auf ein kaltes Becken am
Ende einer Rutsche. Im Prinzregenten-
bad schießt man dann 50 Meter hinab,
im Ungererbad 57 Meter. Im Michaeli-
bad und im Westbad sind es sogar 64
Meter. Sieben Sommerbäder in der
Stadt haben eine Rutsche, nur das
Maria Einsiedel kommt ohne aus.

Vielleicht erinnert sich der eine oder
andere noch, was er am 30. Juni dieses
Jahres gemacht hat. Es war ein Sonn-
tag. Ein heißer Sonntag. Tausende
Menschen drückten sich durch die
Drehkreuze im Westbad, im Ungerer-
bad, im Michaelibad und ließen sich im
Maria Einsiedel durch den Kanal trei-
ben. Im Dantebad lagen mehr als 9000
Menschen auf den Wiesen, mutmaß-
lich zu verschiedenen Zeiten, wobei
sich nicht sagen lässt, wie viele zur
selben Zeit da waren, weil am Ausgang
niemand kontrolliert. Nimmt man die
Zahlen aus allen Bädern zusammen, ist
dagegen sicher, dass sich an diesem
Tag knapp vier Prozent aller Münchner
ins Schwimmbad aufgemacht haben.

Man sieht manchen Kapitänen an, wie
anstrengend die Fahrt war, wenn sie in
ihren Schlauchbooten in den Hafen der
Stadt einlaufen. Die Köpfe lehnen auf
dem heißen Gummi, im Beiboot leere
Bierflaschen. Neunmal musste die
Feuerwehr in den vergangenen zwei
Monaten zur Münchner Isar ausrü-
cken, um Menschen aus dem Fluss zu
retten – einmal auch ein Schlauchboot.

Auch im Dunkeln fühlt sich die Stadt nach Sommer an. Auf dem Weg nach Hause, vor-
bei an den Tischen vor den Restaurants, an Gesprächen bei kaltem Wein, an Bars mit
vollen Aschenbechern. Vorbei am Fluss, vorbei an Füßen im Wasser, an nassen Badeho-
sen über Balkonen. Zu keiner anderen Jahreszeit kann München so sehr zeigen, warum
es sich noch immer lohnt in dieser Stadt zu leben, aller Nachteile zum Trotz. Wahr-
scheinlich behaupten viele Städte von sich, dass sie Sommerstädte seien, Berlin zum
Beispiel oder Frankfurt, aber dort begegnet einem auf dem Weg zur Arbeit selten je-
mand mit Surfbrett unter dem Arm, noch dazu mit großer Selbstverständlichkeit. Die
Bewohnerinnen und Bewohner Münchens verstehen sich hervorragend darauf, den
Sommer zu zelebrieren, und der beste Beleg dafür ist vielleicht, dass man sich heute an
Deck eines alten Ausflugsdampfers vom Ammersee trifft. Die Abende mitten in der
Stadt sollen sich anfühlen wie ein Ausflug zum See. Der Schriftsteller Horst Krüger
schrieb 1969 über einen „dieser unverschämt schönen und glücklichen Sommeraben-
de, wie es sie eben nur in München gibt“. „Diese Münchner Art, so locker, so leicht, so
vollkommen ohne Knirschen in den Gelenken – mich verstört das.“ Er habe Angst vor
so viel Glück. Vielleicht ist das der einzige Nachteil des Münchner Sommers, er fühlt
sich so unheimlich leicht an, dass man nicht glauben mag, dass diese Sommer immer
so weitergehen wie die vergangenen fünfzig Jahre. Und, doch, sogar einen zweiten
Nachteil gibt es noch: Man will kaum mehr wegfahren, aus der Stadt am Fluss.
texte: pia ratzesberger

Der


Sommer


in


Zahlen


4


738 883


15,9°


80


35,3°


4900


1,3


440 000


97


6000


300 000 000


2


81


7


9000


NICHT NUR EIN GEFÜHL


Hitze, Eis, Freibad, Isar, Spritz – all das macht den Sommer in der Stadt aus.


Dabeilässt sich dieser Zauber der heißen Tage auch ganz nüchtern erfassen


9


R2 THEMA DES TAGES Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019, Nr. 189 DEFGH

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