Frankfurter Allgemeine Zeitung - 17.08.2019

(Tuis.) #1

SEITE 16·SAMSTAG, 17. AUGUST 2019·NR. 190 Literarisches Leben FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Phaenomen


Wenn zu der Regenwand
Phoebus sich gattet,
Gleich steht ein Bogenrand
Farbig beschattet.
Im Nebel gleichen Kreis
Seh ich gezogen,
Zwar ist der Bogen weiß,
Doch Himmelsbogen.
So sollst du, muntrer Greis,
Dich nicht betrüben,
Sind gleich die Haare weiß,
Doch wirst du lieben.

I


m Oktober 1813 nach der Leipziger
Völkerschlacht war der Krieg auf
deutschem Boden endlich zu Ende,
und Anfang 1814, nach Napoleons
Absetzung, konnte man zum ersten Mal
nach langer Zeit wieder durch ein siche-
res Land reisen.
Im Mai 1814 überreichte Cotta Goethe
die Hammersche Hafis-Übersetzung, und
Tage später bereits fand der sich gezwun-
gen, sich gegenüber dem persischen Sän-
ger „produktiv zu verhalten“, wie er das
nannte. Es muss ein wunderbarer Som-
mer gewesen sein in diesem Jahr 1814,
und am 25. Juli brach Goethe zu seiner
Reise an Rhein und Main auf, eingeladen
von Sulpiz Boisserée, aber gewiss auch
mit der Absicht, den lang entbehrten Or-
ten seiner Jugend seinen Besuch abzustat-
ten, in der Hoffnung, die alte Kriegshaut
abzulegen und einmal mehr sich eine
neue, frische und glänzende zuzulegen.
Am Mittag dieses 25. Juli machte er in
Gotha im Gasthaus zum Mohren Station,
abends gegen 18 Uhr erreichte er Eise-
nach. Bis vor der Abreise hatte er bereits
sieben Gedichte geschrieben, die sich sei-
ner Hafis-Lektüre verdankten. An diesem
ersten Reisetag kamen gleich mehrere
hinzu. An Christiane berichtete er er-
freut: „Den 25. schrieb ich viele Gedichte
an Hafis, die meisten gut.“ Drei davon ha-
ben dann Eingang in den Divan gefun-
den. Das erste, entweder in der Kutsche
oder am Gasthaustisch in Gotha verfasst,
ist das oben zitierte, „Phaenomen“.
Wie die große Mehrheit der Divan-Ge-
dichte ist es relativ kurz und klar verständ-
lich. Es ist, um es ein wenig poppig zu sa-
gen, Goethe „unplugged“. Dank der persi-
schen Lyrik, die er vor sich hat, lässt der
Dichter den Apparat Apparat sein und
wird wieder direkt, ausdrucksklar und
-stark und sangbar. So wie der weiße Bo-
gen ein Himmelsphänomen ist gleich sei-
nem bunten Cousin, so kann auch der
Greis noch auf Liebe hoffen und ist fähig
und willens, sie zu geben.
So weit, so nett. Der gelehrte Kommen-
tar weist denn auch darauf hin, dass das
Motiv des liebenden Greises auch bei Ha-
fis häufig vorkommt. Doch darum geht es
mir nicht. Worum es mir geht, sind das
Datum und die Satzform. Goethe schreibt
nicht: „Auch dir steht die Liebe noch of-
fen.“ Er schreibt nicht: „Du könntest noch
lieben.“ Er schreibt nicht: „Wenn dies und
jenes sich ereignete, würdest du lieben.“
Nein, er schreibt: „Doch wirst du lieben.“
Kein Konditionalsatz, kein Konjuktiv, ein
Indikativ im Futur. Dies wird passieren.
Er weiß noch nicht, wie, er weiß noch
nicht, wann, aber er weiß, dass. Das ist
keine Hoffnung, das ist ein Vorsatz. Oder
um in der Logik der quasiwissenschaft-
lichen Naturbeobachtung dieses Gedichts
zu bleiben: Es ist ein Axiom.
Und es wird doppelt spannend und mys-
teriös, wenn wir uns nun die gesamte Di-
van-Geschichte ansehen, wie wir sie ken-
nen: Der „West-Östliche Divan“ verdankt
sich ja ganz entscheidend einer der
schönsten, rarsten, unvorherbarsten Lie-
besgeschichten der deutschen Literatur,
nämlich dem Austausch Goethes mit Ma-
rianne von Willemer.
Der Divan ohne Marianne von Wille-
mer wäre nichts als eine Fleißarbeit. Eine

geniale, gewiss, aber eben doch eine Fleiß-
arbeit. Maximen und Reflektionen eines
Weimarer Olympiers, der zu Beginn sei-
nes Greisenalters, intellektuell zutiefst
vereinsamt nach dem Tod seiner Pairs
und der Entfremdung von der jüngeren
Generation, seine mühsam errungene
pseudogriechische Erhabenheit mit der
persischen Klassik konfrontiert und sei-
ner Welt- und Menschenkenntnis nun
auch noch ein Kapitel Orientalistik hinzu-
fügt, dabei mit leicht verkniffener gravitä-
tischer Ironie das aufgeklärte Despoten-
tum des persischen Mittelalters gegen die
Herrschaft der Canaille in Europa und in
der deutschen Literatur ausspielend.
Allein, so würde es nicht gehen, das
muss ihm sofort klargewesen sein, wenn
er in seiner Hafis-Übersetzung Verse wie
diese las:

Das Augenspiel der schlanken Schönen
war nur ein Zeitvertreib,
bis du erschienst, hohe Zypresse,
schaukelnd wie eine Pinie leicht!
Nie wird sterben, wer Leben
durch die Liebe empfing,
darum ist ins Buch der Welt
meine Dauer eingetragen!

Ungeachtet aller vermeintlichen kora-
nischen Symbolik und aller Behauptun-
gen, Wein und Liebe seien alles nur Um-
schreibungen für die Sehnsucht nach
Gott, ist klar, dass diese Art von Klassik

sich nur aus authentischem Erleben und
Fühlen speisen kann.
Der emphatisch-jugendliche, liebesent-
zündete und dabei lebenskluge und gebil-
dete Perser sprach Goethe an aus dem Ab-
stand von viertausend Kilometern und
fünfhundert Jahren, aber aus der Nähe
eines lang entbehrten und lang verglom-
menen poetischen Feuers und eines au-
genzwinkernden Häretikertums im Ge-
wand des gewieften Mandarins, der es ver-
steht, Cäsar zu geben, was ihm gebührt,
und im Privaten seine grundstürzenden
Künstlerspiele zu treiben.
Komm mit mir auf die Reise!, muss Ha-
fis gerufen haben. Komm mit mir ins Rei-
ne und Rechte, und zerbrich dir nicht den
Kopf! Antworte mir, und messe dich mit
mir, denn ich bin zwar lange tot, aber das
sind deine Freunde auch, dagegen sind
meine Worte noch höchst lebendig. Bren-
ne wieder! Lebe wieder! Liebe wieder!
Bloß wie? Wollte Goethe noch einmal,
und mit beinahe 65 mochte das durchaus
das letzte Mal sein, aus einer Lebenssack-
gasse entkommen, konnte das nur mit
dem altbewährten Mittel der Flucht ge-
schehen. Weimar war nicht der Ort, sich
mit Hafis zu messen. Und auch Christia-
ne hatte sich verändert, was zwar nicht
das enge Band zwischen den beiden zer-
reißen konnte, aber aus dem warmherzi-
gen, klugen, unverbildeten und sinnli-
chen Mädchen der Römischen Elegien,

aus der tapferen Retterin vor marodieren-
den Franzosen war eine vor der Zeit geal-
terte kränkelnde Frau mit einem Hang zu
geistigen Getränken geworden.
„Doch wirst du lieben“, schreibt Goe-
the am 25. Juli also irgendwo zwischen
Gotha und Eisenach, ahnend, dass dies
die Bedingung für alles Weitere ist. Am


  1. trifft er in Frankfurt ein und fährt
    nach einer Nacht sofort Weiter nach Wies-
    baden. Dort geschieht am 4. August, wäh-
    rend er im Gasthof zum Bären logiert, die
    erste Begegnung: Er notiert im Tagebuch:
    „Geheimer Rat Willemer. Dlle. Jung.“
    Sehr viel ausführlicher wird er in seinen
    öffentlichen Aufzeichnungen auch nicht
    mehr werden. Am 12. September kehrt er
    von Wiesbaden nach Frankfurt zurück.
    Am 18. ist er zum ersten Mal bei Wille-
    mers auf der Gerbermühle in Oberrad ein-
    geladen. Am 27. September findet ohne
    jegliche Vorbereitungszeit die Heirat zwi-
    schen Willemer und Marianne statt.
    Erst ein Jahr später bei Goethes zwei-
    tem Besuch wohnt er für mehrere Tage
    rund um seinen 66. Geburtstag auf der
    Mühle. Dies wird dann mitsamt dem an-
    schließenden Wiedersehen in Heidelberg
    die Blütezeit der Hatem-Suleika-Gedich-
    te sein.
    Goethe war immer ein Lyriker gewesen,
    der von Gefühl und Empfindung ausging,
    er musste verliebt sein, um ein Liebesge-
    dicht schreiben zu können. Und zwar muss-


te es das gegenwärtige Gefühl sein, das
sich Ausdruck verschaffte, nicht etwa die
Erinnerung an vergangene Gefühle. Die
führt zu Prosa, aber nicht zu Lyrik. Um ly-
risch auf Hafis antworten zu können, um
überhaupt in die Stimmungslage zu kom-
men, erfühlen zu können, was den persi-
schen Meister umtrieb, um seine eigenen
Schreibfähigkeiten zu dopen, musste auch
Goethe wieder brennende Gefühle in sich
finden, wachrufen oder schaffen.
Am 25. Juli also der Vorsatz zu lieben,
knappe zwei Wochen später die erste Be-
gegnung mit dem zukünftigen Objekt die-
ser Liebe.
Was also mag er in jenem Gasthof in
Wiesbaden gedacht und empfunden ha-
ben, als der alte Freund Willemer da in
Begleitung seiner jungen und attraktiven
und klugen Pflegetochter und Mätresse
vor ihm stand? Was wusste er von ihr?
Wohl nicht sehr viel mehr, als was
Klatsch und Tratsch ihm zugetragen hat-
ten über die Beziehung, die als ähnlich
skandalös galt in der guten Gesellschaft
wie seine eigene zu Christiane. Eine ihrer
Mutter abgekaufte Tänzerin und Schau-
spielerin, die als solche allerdings einen
Ruf hatte, der wiederum auch bis zu Goe-
the gedrungen sein mag.
Was Goethe jedenfalls sicher wusste,
ist, dass Willemer zu den ganz wenigen
Leuten gehörte, die Christiane anlässlich
ihres Frankfurt-Besuches mit mensch-
lichem Respekt und Freundschaft begeg-
net waren. Er hatte sie umstandslos bei
sich aufgenommen und sie nie, gleich der
guten Weimarer Gesellschaft, wie ein
Stück Dreck behandelt. Dort im Wies-
badener Gasthof also gute Miene zum un-
bürgerlichen Spiel zu machen war im Ge-
genzug eine Frage der Herzenshöflichkeit.
Vielleicht ist die entscheidendere Fra-
ge auch eher: Was sah Marianne? Ich den-
ke mir: einen Mann, der gestrahlt hat.
Von dem das Fluidum einer lebenszuge-
wandten, liebesbereiten oder zumindest
flirtbereiten Gestimmtheit ausging. Und
es war nicht irgendein Mann, sondern
Deutschlands berühmtester Schriftsteller,
dem sie in der privilegierten Position als
Begleiterin eines seiner raren ausgewiese-
nen Freunde gegenübertrat.
Vielleicht erspürte sie etwas Herausfor-
dendes im Enthusiasmus des Dichters, et-
was halb bewusst, halb naiv Erwartungsvol-
les. Es bestehen fließende Übergänge von
einer Gestimmtheit, die nichts Konkretes
will und erwartet, aber sich für alles bereit
zeigt, zu einem Vorsatz, die Gelegenheit,
sobald sie sich bietet und welche es auch
sein mag, beim Schopfe zu packen. Aber
ein Lebensvorsatz ist eben bei einem
Schriftsteller auch ein literarischer Vorsatz.
Gelegenheit macht Liebe, sofern man
dazu aufgelegt ist. Und ein Schriftsteller,
der weiß, dass er nach Jahren der Ruhe
einen Ätna in sich zum Ausbruch bringen
muß, um entsprechend schreiben zu kön-
nen, ist dazu aufgelegt. Welche Art von
Liebe das ist, steht allerdings auf einem
anderen Blatt. Natürlich reiste Goethe
nicht mit der Absicht, Ehebruch zu bege-
hen, sondern mit der Absicht, ein Gefühl
in sich hervorzurufen, um damit und da-
von schreiben zu können.
Das ist eine heikle Konstellation, und
ich würde denken, dass es Goethe klar
war, dass – da zur Hervorrufung dieses
Gefühls zwangsweise ein Mensch, eine
Frau vonnöten war – dieser Mensch ent-
weder sehr dumm sein musste, damit er
nämlich gar nichts mitbekäme von seiner
Katalysatorenrolle, oder aber sehr klug,
und dann waren Probleme vorgezeichnet,
die man von vornherein auf das notwendi-
ge Minimum reduzieren musste. Etwa in-
dem man darauf achtete, dass der
Mensch, der nun letztlich diese Liebe in
Goethe entfachen würde, gesetzlich und
moralisch ebenso gebunden war wie er
selbst. Das mag ein Grund dafür gewesen
sein, Willemer im Wiesbadener Gasthof,
wo der ihn zur Zukunft seines Verhältnis-

ses zu Marianne befragte, zu einer Heirat
zu raten. Sobald die besiegelt war und da-
mit die äußeren Formen von Goethes Be-
ziehung zu Marianne als respektvolle
Freundschaft zur Gattin eines Freundes
geklärt waren, konnte das einzigartige
Kunst-Lebens-Spiel beginnen, dessen
Früchte wir im „West-Östlichen Divan“
vor uns sehen.
Es war aber eben nicht nur ein Spiel, es
war auch vollkommener Ernst, Gefühls-
ernst, Lebensernst, ohne den hätten Goe-
the und Marianne nicht der Essenz der su-
fischen Liebesmystik gerecht werden kön-
nen, dass im gegenseitigen Anschauen
des Geliebten der Blick des Höchsten ge-
spiegelt wird.
Es war vollkommener Ernst für Marian-
ne, die Sternstunde ihres Lebens, wie sie
selbst bezeugt hat, in der alles, was sie mit-
brachte, ihre schwierige Lebensgeschichte,
ihre starke und integre Persönlichkeit, ihr
künstlerisches Talent, ihre sinnlich-geisti-
ge Liebesfähigkeit, ihre endlich gesicherte
materielle Existenz, sich vor der orientali-
schen Folie und am geschützten Freund-
schaftsort mit dem Genie des anderen ver-
einte, um in einem literarisch-alchemisti-
schen Prozess das Große Werk zu leisten,
das gemeinsame Hohe Lied.
Aber wie vollkommen war Goethes
Ernst? Wie eingleisig-ernst ist jemals der
Ernst eines Schriftstellers? Wie ernst ist die
Liebe eines Schriftstellers, der sich selbst
den Auftrag gegeben hat zu lieben, um als
Liebender schreiben zu können? Nicht, um
als Liebender leben zu können, oder doch
nur in streng kontrolliertem Maße.
Verstehen wir uns recht: Es geht nicht
darum, Goethe etwa der Heuchelei zu zei-
hen. So simpel und so platt ist die Konstel-
lation nicht. Der Schriftsteller, der eine
Lebenssituation provoziert, um darüber
schreiben zu können, weiß ja nicht nur
nicht, wie die anderen Teilnehmer dieser
Situation reagieren, er muss vor allem
selbst mitmachen, um das Experiment
nicht zu verfälschen. Er muss Beobachter
und Akteur zugleich sein, und wenn er
nicht weiß, wie die anderen agieren, so
weiß er eben zu großen Teilen auch nicht,
wie er selbst agieren wird. Es gilt nur: Je
authentischer er selbst ist, umso genauer,
umso verwendbarer und authentischer
wird das Ergebnis des Experiments sein.
Wenn es aber nicht um Heuchelei geht,
geht es dann nicht doch um Kälte, Grau-
samkeit und Kalkül? Muss man nicht, die
ganze Geschichte kennend, sagen, daß
Goethe Marianne einen hohen Preis hat
bezahlen lassen, dass er Schuld auf sich
geladen hat?
Nun, es blieb ja keine ausgebeutete und
betrogene Frau zurück in diesem Fall, son-
dern eine zwar bis in die Grundfesten er-
schütterte, aber doch eine bereicherte,
die die Erfahrung um nichts in der Welt
hätte ungeschehen machen wollen. Und
nicht nur eine bereicherte, sondern eben,
und das macht die Divan-Liebe ja so un-
vergleichlich, auch eine bereichernde, die
dem Genie selbst schreibend auf Augen-
höhe entgegengetreten war und aus deren
Feder die populärsten und musikalischs-
ten Verse des Divan stammen.
Goethe wusste um seine Schuld, und
beide wussten, daß das, was er dieser Lie-
be zu geben hatte, die Sicherung von Mari-
annes literarischer Unsterblichkeit im Ge-
dicht war, wo sie versiegelt lag wie die
Nuss in der Schale. Wenige Wochen vor
seinem Tod erkannte er das in einem letz-
ten Gedicht an, das ihre Briefe, die er ihr
zurücksandte, begleitete:

Vor die Augen meiner Lieben,
zu den Fingern die’s geschrieben, –
Einst, mit heißestem Verlangen
So erwartet, wie empfangen –
Zu der Brust der sie entquollen,
Diese Blätter wandern sollen;
Immer liebevoll bereit,
Zeugen allerschönster Zeit.
Michael Kleebergist Schriftsteller. Zuletzt erschien
sein Roman „Der Idiot des 21. Jahrhunderts – Ein
Divan“ (Galiani).

W


er trauert, für den dehnt sich die
Zeit. Eine lähmende Unbeweglich-
keit breitet sich aus, und das Denken
stockt. Alles scheint nur noch um einen
Mittelpunkt zu kreisen: den Schmerz des
Verlustes. „Leiden ist ein einziger langer
Augenblick“, meinte Oscar Wilde, „es
kennt keine Jahreszeiten. Wir können nur
seine Stimmungen festhalten und ihre
Wiederkehr aufzeichnen... Die Sonne
selbst und der Mond scheinen uns genom-
men. Draußen mag der Tag in blauen und
goldenen Farben leuchten – das Licht, das
zu uns herein kriecht, ist grau und karg.“
Wie kann man über die Trauer schrei-
ben, wo doch alle Möglichkeiten zur Un-
terscheidung verlorengegangen sind? Wie
kann man den Abschied von einem gelieb-
ten Menschen in Sprache verwandeln und
zugleich die Erinnerung an ihn festhal-
ten?
Und wie kann man so schreiben, dass
man das Leid nicht ästhetisch ausbeutet?
Die dänische Dichterin Pia Tafdrup hat
der Trauer und dem Sterben ein ganzes Ge-
dichtbuch gewidmet. In „Tarkowskis Pfer-
de“ schreibt sie über das langsame Ver-
schwinden ihres demenzkranken Vaters.
Dabei nimmt sie nicht eine vermeintlich si-
chere Beobachterperspektive ein, sondern
schneidet verschiedene Sprechpositionen
ineinander und schmiegt sich vor allem im-
mer wieder eng an die Wahrnehmung des

Vaters an. Dazu arbeitet sie mit Zeilen-
sprüngen, übersetzt die brüchige Sichtwei-
se des Vaters in ein Gefüge changierender
Bedeutungen. Mit diesen Kunstgriffen ge-
lingt es ihr, dass wir als Leser die Welt aus
der Sicht des Vaters erleben.
So folgen wir dem Verlauf seiner
Krankheit und spüren, wie die Dinge und
Namen seinem Gedächtnis nach und nach
entgleiten, wie seine Welt sich auflöst.
Wir sehen, hören, riechen, schmecken,
fühlen und erinnern uns gleichsam mit
ihm zusammen. „Sieh, das Wasser“, sagt
der Vater – und die roten Dächer der Stadt
verwandeln sich für ihn und uns in Was-
ser. Magisch ist diese Aussicht, weil sie
die gewohnten Einteilungen unserer Welt-
wahrnehmung, etwa in Realität und Imagi-
nation, sprengt. Und weil sie von dem
Glauben lebt, die Sprache könne mit ih-
ren Praktiken Einfluss auf die Kräfte der
Welt nehmen. Magischen Riten folgt aber
auch die Struktur des Gedichts. Dreimal
setzt der Vater in einem fast biblischen
Schöpfungsgestus zu sprechen an („Sieh,
das Wasser“, „Sieh, den Schnee“, „Das ist
ein großes Stück Land“) – dreimal werden
seine Sätze durch das Markieren der Spre-
cherposition („sagt mein Vater“) relati-
viert.
Doch Pia Tafdrups Gedichte holen
nicht nur das Verschwinden des Vaters in
die Sprache, sondern auch das Abschied-

nehmen und die Trauer der Tochter. Wie-
der sind es drei Anläufe („Ich nehm’ seine
Hand / in meine“, „Ich halt’ seine
Hand / fest“, „ich versuche ihn zu errei-
chen“). Sie spielen die magische Vorstel-
lung aus, indem man einen anderen Men-
schen berühre, lasse sich Lebenskraft
übertragen und seine Handlungsweise be-
einflussen. Die zärtliche Geste, die Hand
des Vaters in die eigene zu nehmen, die
das Verhältnis aus Kindheitstagen um-
dreht, verbindet sich mit dem Wunsch,
die Tochter könnte den Vater einschlafen
und wieder aufwachen lassen.
Das Wundersame an diesem Gedicht
aber ist: Es spricht vom Vergessen, zeigt
uns, wie dem Vater die Welt entschwindet


  • und vollzieht so zugleich die umgekehr-
    te Bewegung, sammelt Erinnerungen und
    macht sie lebendig. Sonne und Mond
    scheinen der Trauernden genommen,
    doch sie kehren wieder in Form von Son-
    nen- und Mondbildern, die in die Gedich-
    te gesetzt sind.
    Pia Tafdrup versieht ihren großen Trau-
    erzyklus mit mythologischen Anspielun-
    gen und Gedächtnissplittern aus dem Le-
    ben des Vaters, sie verteilt kleine Motive
    und schließt die Zeiten ebenso kurz wie
    sie einzelne Zeiträume dehnt (manchmal
    genügen drei Punkte, um eine Spanne von
    mehreren Stunden anzudeuten). Ihre
    Sprache kennt traditionelle poetische Mit-


tel wie die Anrufung und das nüchterne
Vokabular unserer Gegenwart. Zwar ver-
mag es das Gedicht nicht, den Tag in
blauen und goldenen Farben leuchten zu
lassen. Aber es schenkt uns am Ende ein
magisches Bild: Das Eis kann zu Feuer
werden, und für Momente meint man den
Vater draußen auf seiner Sandbank zu
sehen.

Pia Tafdrup: „Tarkowskis Pferde“. Gedichte. Zwei-
sprachig. Aus dem Dänischen und mit einer Nach-
bemerkung von Peter Urban-Halle. Stiftung Lyrik
Kabinett, München 2017. 117 Seiten, br., 22,– €.

Von Nico Bleutge ist zuletzt erschienen: „nachts
leuchten die schiffe“. Gedichte. Verlag C. H.
Beck, München 2017. 87 S., geb., 16,95 €.

Eine Gedichtlesung von Thomas Huber und das
Gedicht in seiner Originalsprache finden Sie un-
ter http://www.faznet/anthologie.


  • Sieh, das Wasser,
    sagt mein Vater und wirft einen Blick
    über die roten Dächer der Stadt.
    Ich nehm seine Hand
    in meine,
    er döst, wird wach...

  • Sieh, den Schnee,
    sagt mein Vater und schaut hinaus,
    am letzten Tag im Mai.
    Ich halt’ seine Hand
    fest,
    er schläft, wird wach...

  • Das ist ein großes Stück Land,
    sagt mein Vater,
    der zwei Höfe hatte
    und nun
    Ausschau hält von seinem Bett
    im 23. Stock des Krankenhauses.
    In diesem schlummernden Körper
    wird er sterben.
    Eis schmilzt zu Feuer –
    ich versuche ihn zu erreichen
    draußen auf der äußersten Sandbank.


Frankfurter Anthologie Redaktion Hubert Spiegel


Nico Bleutge


Denn Eis kann zu Feuer werden


Pia Tafdrup


Magische Aussicht


Gelegenheit macht Liebe

Der Blick, der Goethe und Marianne Willemer bezauberte, gemalt von Mariannes Stieftochter Rosette Städel und bedichtet von
Goethe selbst: Aussicht von der Gerbermühle auf Frankfurt Foto Freies Deutsches Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum

Vor zweihundert Jahren erschien Goethes „West-Östlicher Divan“.


Um ihn schreiben zu können, machte sich der Dichter auf die Suche nach


einer Frau. Er fand eine kongeniale Partnerin.


Von Michael Kleeberg

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