Frankfurter Allgemeine Zeitung - 17.08.2019

(Tuis.) #1

SEITE 18·SAMSTAG, 17. AUGUST 2019·NR. 190 Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


che./ami. SINGAPUR/BERLIN, 16.
August. Das Ringen um den Einfluss im
Pazifik wird nun auch über die Klimapo-
litik ausgetragen: Während die Pazifik-
Inseln auf ihrem Gipfel auf Tuvalu mit
Australien aufgrund dessen fortgesetz-
ter Kohlepolitik hart ins Gericht gehen,
erfahren sie Unterstützung von Peking.
Dessen Botschafter Wang Xuefeng ver-
sprach, China werde den Pazifik-Inseln
„ein guter Freund, Partner und Bruder“
sein und ihre „Sorgen und angemesse-
nen Forderungen“ achten – genau dies
hatte Australiens Ministerpräsident
Scott Morrison zuvor abgelehnt. Er wei-
gerte sich, den Entwurf der Abschlusser-
klärung des Gipfels der Pazifik-Staaten
freizugeben, tauche darin Kritik an Koh-
lekraftwerken auf. „Ich bin dem australi-
schen Volk gegenüber verantwortlich“,
erklärte Morrison.
Peking, das allein im vergangenen
Jahr 36 Milliarden Dollar in Kohlekraft-
werke mit einer Leistung von 102 Giga-
watt in 27 Ländern investierte, versucht
mit seiner Charmeoffensive, mehr Ein-
fluss in der Region zu gewinnen. Es
warf Australien einen „scheinheiligen“
Ansatz im Pazifik vor. Die Pazifik-Staa-
ten betrachten den Klimawandel als ihr
größtes Risiko, denn sie erfahren den
Untergang ihrer Inseln.
Tuvalus Ministerpräsident Enele So-
poaga sagte Morrison: „Sie sind darum
bemüht, die australische Volkswirt-
schaft zu retten. Ich dagegen muss das
Volk von Tuvalu retten.“ Die Pazifik-
Führer betrachten die Energiegewin-
nung aus Kohle als ihr größtes Risiko.
Sie drängten darauf, in dem Dokument
einen „sofortigen globalen Bann“ gegen
neue Kohleminen und Kohlekraftwerke
zu fordern. Unterstützt wurden sie dabei
von Neuseelands Ministerpräsidentin Ja-
cinda Ardern. Sie forderte Australien
auf, dem „Pazifik auf dessen Fragen
nach Klimaschutz eine Antwort zu ge-

ben“. Canberra solle Neuseeland folgen
und zusagen, bis 2050 ein kohlendioxid-
neutrales Land zu werden.
Australien hat soeben eines der größ-
ten Kohlebergwerke der Welt geneh-
migt, aus dem der indische Milliardär
Gautam Adani den Rohstoff in sein Hei-
matland verschiffen will. Die australi-
sche Regierung hat 2016 das Pariser Ab-
kommen unterzeichnet. Es will den An-
stieg des Erdklimas um 1,5 Grad Celsius,
höchstens aber um 2 Grad begrenzen.
Wang versprach den Inselstaaten, Pe-
king werde die „Süd-Süd-Zusammenar-
beit“ ausweiten und „positive Beiträge
für eine nachhaltige und grüne Entwick-
lung der Pazifik-Inseln“ leisten. Gemein-
sam wolle man die globale Kooperation
gegen Klimaschutz „wieder wecken“.
Das dürfte Musik in den Ohren deut-
scher Umweltschützer sein, die die Bun-
desregierung am Freitag zu mehr Klima-
schutz aufriefen. Die Welt stehe am An-
fang einer gefährlichen Klimakrise,
warnten die zehn Verbände, darunter
der Bund für Umwelt und Naturschutz
Deutschland, Greenpeace, German-
watch, der Deutsche Naturschutzring
und WWF Deutschland.
Ende September will das „Klimakabi-
nett“ der Regierung einen Maßnahmen-
katalog beschließen. Es zeige sich aber,
dass die geplante Kombination aus An-
reizprogrammen und einem Einstieg in
eine CO 2 -Bepreisung nicht reichen wer-
de, um die für das Jahr 2030 anvisierten
Klimaziele zu erfüllen, heißt es. Die Ver-
bände verlangen deshalb Sofortmaßnah-
men wie den sofortigen Beginn des Koh-
leausstiegs, den Start der CO 2 -Beprei-
sung noch in dieser Wahlperiode und ei-
nen „naturverträglichen“ Ausbau erneu-
erbarer Energien. Bahntickets auf inner-
deutschen Strecken müssten günstiger
als Flugpreise sein, der Aus- und Neu-
bau neuer Fernstraßen und Flughäfen
bis 2029 auf Eis gelegt werden.

dc.BERLIN,16. August. Eine steigende
Zahl von Eltern bezieht für ihre im Aus-
land lebenden Kinder deutsches Kinder-
geld. Im Juli hat der Sozialstaat dieses
für insgesamt 306 255 im Ausland leben-
de Kinder bezahlt, unter ihnen 273 000
Kinder ausländischer Staatsangehörig-
keit, wie aktuelle Daten der Familienkas-
se der Bundesagentur für Arbeit zeigen.
Das waren 2000 weniger als im Juni, zu-
gleich aber 31 000 mehr als Mitte 2018.
Insgesamt wurden in diesem Jahr von
Januar bis Juli 238 Millionen Euro Kin-
dergeld auf ausländische Konten über-
wiesen, davon 223 Millionen Euro auf
Konten ausländischer Inhaber. Rechnet
man die Zwischensumme aufs Gesamt-
jahr 2019 hoch, würde sich ein Jahresbe-
trag von 408 Millionen Euro ergeben.
Das wären knapp 6 Millionen Euro mehr
als im Gesamtjahr 2018.
Der leichte Rückgang im Vergleich zu
Juni könnte aber auch schon ein Hin-
weis auf erste Wirkungen einer Regel-
änderung sein, die Bundestag und Bun-
desrat kurz vor der Sommerpause be-
schlossen hatten. Mit einem Gesetz ge-
gen Sozialleistungsmissbrauch hatte die
Regierungskoalition einige Hürden für
den Zugang zu Kindergeld erhöht: Zwar
besteht ein Anspruch darauf im Regel-
fall immer, wenn die Eltern rechtmäßig
in Deutschland wohnen. Für Einwande-
rer ohne eigenes Einkommen gilt nun
aber eine dreimonatige Wartezeit. Au-
ßerdem wurden die Familienkassen er-

mächtigt, Zahlungen kurzfristig zu stop-
pen, falls ein Verdacht auf Leistungs-
missbrauch besteht. Finanzminister
Olaf Scholz (SPD) hatte seine Initiative
im Frühjahr damit begründet, dass es ge-
häuft Hinweise auf organisierten Miss-
brauch gebe: „Kriminelle Netzwerke
bringen EU-Ausländer nach Deutsch-
land und statten sie mit gefälschten Do-
kumenten – Scheinarbeitsverträgen
oder rückdatierten Mietverträgen – aus,
mit denen dann unberechtigt Kinder-
geld beantragt wird“, schrieb Scholz in
seinem Gesetzentwurf. Nähere Schät-
zungen zur möglichen Schadenshöhe
gibt es aber nicht.
Überwiegend handelt es sich bei den
Beziehern um Menschen, die in Deutsch-
land regulär arbeiten und deren Kinder
deswegen so behandelt werden wie im
Ausland lebende Kinder deutscher El-
tern. Soweit auch ausländische Kinder-
geldansprüche bestehen, wird der deut-
sche Anspruch – meist 204 Euro im Mo-
nat – aber entsprechend gekürzt. Von
den 273 000 ausländischen Kindern, für
die Kindergeld gezahlt wird, lebt knapp
die Hälfte in Polen; die zweitgrößte
Gruppe, im Juli knapp 29 000, sind ru-
mänische Kinder. Zeitweilig hatte sich
die Regierung auch bemüht, das deut-
sche Auslandskindergeld außerdem an
die Höhe der Lebenshaltungskosten am
jeweiligen Wohnort der Kinder anzupas-
sen. Damit war sie aber an Widerstän-
den der EU-Kommission gescheitert.

enn.BERLIN,16. August. Die Bundesre-
gierung ringt um die Details zum Abbau
des Solidaritätszuschlages. Eine Woche
nach dem Gesetzesvorschlag von Finanz-
minister Olaf Scholz (SPD) hat jetzt Wirt-
schaftsminister Peter Altmaier (CDU) ein
eigenes Konzept vorgelegt, das mehr Steu-
erzahler entlastet und verfassungsrechtli-
chen Bedenken Rechnung tragen soll. Alt-
maier schlägt vor, den Soli in drei Schrit-
ten bis 2026 abzuschmelzen. Um die da-
mit verbundenen Steuerausfälle auszuglei-
chen, sei eine stärkere Priorisierung von
Ausgaben, eine Überprüfung von Subven-
tionen sowie eine Reduzierung von Bun-
desbeteiligungen denkbar, heißt es in sei-
nem Papier. Scholz will den Soli für 90
Prozent der Zahler von 2021 an streichen,
weitere 6,5 Prozent sollen teilweise entlas-
tet werden. Alle anderen sollen weiter
zahlen. Ihr Beitrag von 10 Milliarden
Euro, der Hälfte des heutigen Aufkom-
mens, soll dem Bund erhalten bleiben.
Altmaier sagte am Freitag im ZDF,
nach Scholz’ Modell werde die Hälfte des
Soli auf unbegrenzte Zeit weitergezahlt.
Dies berge ein erhebliches verfassungs-
rechtliches Risiko. Deshalb habe er einen
Vorschlag unterbreitet, der die Leistungs-
fähigkeit der öffentlichen Finanzen re-
spektiere und der gleichzeitig dazu führe,
„dass wir Schritt für Schritt das Problem
angehen“. Er verstehe sein Konzept nicht
als Gegensatz, sondern als Ergänzung zu
dem, was im Koalitionsvertrag vereinbart
sei. Regierungssprecher Steffen Seibert
sagte am Freitag, eine vollständige Ab-
schaffung des Solis sei eine Aufgabe für
die nächste Legislaturperiode. Scholz’
Vorschlag sei ein guter und großer erster
Schritt. Die Abstimmung über Details lau-
fe in der Regierung. Altmaier erinnerte
daran, dass die Politik vor 30 Jahren ver-
sprochen habe, den Soli abzuschaffen,
wenn die Notwendigkeit entfallen sei.
Den Menschen müsse die Regierung jetzt
zeigen, dass sie nicht beim ersten Schritt


stehen bleibe und dass es nicht zu einer
heimlichen Steuererhöhung komme.
Anders als der Finanzminister setzt Alt-
maier auf Freibeträge. Nach seinem „Ab-
schmelzmodell“ soll an Stelle der von
Scholz geplanten Freigrenze mit Gleitzo-
ne ein Freibetrag eingeführt werden: Wer
weniger als 16 988 Euro Einkommensteu-
er zahlt, soll von 2021 an keinen Soli mehr
leisten. Bei allen anderen verringert sich
die Steuerbemessungsgrundlage um den
Betrag. Das soll auch die Belastung der
Unternehmen senken und sie internatio-
nal wettbewerbsfähiger machen. Scholz’
Entwurf sieht dagegen eine Freigrenze
von 16 956 Euro Einkommensteuer vor.
Wird sie überschritten, muss man jedoch
das gesamte Einkommen versteuern.
Altmaier will zudem zwei weitere Ab-
baustufen festlegen. In der zweiten Stufe
ist 2024 durch eine Erhöhung des Freibe-
trags auf 50 000 Euro und eine vollständi-
ge Entlastung der Kapitalgesellschaften
eine weitere Entlastung von insgesamt

7,7 Milliarden Euro im Reformjahr vorge-
sehen; das entspricht einem Volumen von
5 Milliarden Euro heute. 2026 soll der
Soli dann für alle komplett entfallen.
Nach Berechnungen der Institute ZEW
und IZA führte die Freibetragsregelung –
bei konstantem Arbeitsangebot – zu einer
Steuerentlastung von rund 12,8 Milliarden
Euro 2021. Das sind 2,8 Milliarden Euro
mehr als im Scholz-Modell, in dem Gutver-
diener – auch Unternehmen und Freibe-
rufler – gar nicht vom Abbau profitieren.
Die weiteren Schritte 2024 und 2026
brächten weitere Entlastungen um rund
12,5 Milliarden Euro. Weil er den Effekt
der Selbstfinanzierung durch die Steuer-
entlastungen unterstellt, kommt Altmaier
indes schon für 2021 nur auf zusätzliche
Ausfälle von 0,8 Milliarden Euro. Nach
Einschätzung von ZEW und IZA führt die
Abschaffung des Solis für Unternehmen
zu einem Anstieg des Körperschaftsteuer-
aufkommens zwischen 0,25 und 1,45 Milli-
arden Euro jährlich. „Diese Ergebnisse las-

sen vermuten, dass sich die mit der Re-
form verbundene direkte Steuerentlas-
tung zum Teil selbst finanzieren würde.
Der Parlamentarische Geschäftsführer
der FDP-Fraktion, Marco Buschmann, lob-
te Altmaiers Pläne zwar, nannte das Jahr
2026 aber viel zu spät für die endgültige
Abschaffung. Ähnlich äußerten sich am
Freitag das Handwerk, der Steuerzahler-
bund und die Familienunternehmer.
Buschmann sagte, der Verstoß gegen die
Verfassung bleibe bestehen, schließlich
müsse der Soli mit dem Ende des Solidar-
pakts II 2020 komplett wegfallen. Acht füh-
rende Wirtschaftsverbände hatten zuvor
Scholz aufgefordert, den Soli für alle abzu-
schaffen. „Durch die Beibehaltung für we-
nige Steuerpflichtige wird der Solidaritäts-
zuschlag faktisch eine Sondersteuer für Un-
ternehmen und Personen, die mit ihrer
wirtschaftlichen Leistung das Wachstum
im Land fördern sowie Arbeitsplätze und
Ausbildung schaffen und sichern“, heißt
es in der Stellungnahme der Verbände.

ami.BERLIN,16. August. Patienten ha-
ben immer größere Probleme, einen Haus-
arzt zu finden, Privatversicherte müssen
so lange auf den Arzttermin warten wie
Kassenpatienten, und die neu eingeführ-
te Video-Sprechstunde interessiert zwei
Drittel der Leute überhaupt nicht. Das
sind ein paar Schlaglichter aus der am
Freitag veröffentlichten jährlichen Be-
fragung von 6000 Bürgern im Auftrag der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung
(KBV). Sie wird seit 13 Jahren erhoben
und lässt damit Vergleiche zu.
Etwa bei der Frage, ob es genügend
Hausärzte in Wohnortnähe gebe. Darauf
antworteten 27 Prozent mit nein. 2017
hatten das nur 22 Prozent verneint. Das
sei „statistisch auffällig“, sagt Forscher
Matthias Jung. Andererseits gaben nur 30
Prozent an, sie hätten Probleme, einen ge-
eigneten Hausarzt zu finden. 2017 hatten
das noch 32 Prozent gesagt.
Ähnlich, wenn auch auf höherem Ni-
veau, fallen Antworten zur Erreichbar-
keit von Fachärzten aus. Jeder zweite Be-
fragte hält das für ein Problem, 44 Pro-
zent sagen, es gebe zu wenige in Wohnort-


nähe. Besonders oft vergeblich gesucht
werden Orthopäden, Haut- und Augen-
ärzte, Neurologen und Psychiater.
Stephan Hofmeister ist im KBV-Vor-
stand für Hausärzte zuständig. Er tut sich
schwer mit der Analyse. Wie weit dürfe
der Weg bis zur nächsten Praxis denn
sein, fragt er: 2000 Meter oder doch 30 Mi-
nuten? Auffällig sei, dass Befragte in Städ-
ten wie Hamburg oder Berlin, nach Sach-
sen-Anhalt, laut Selbstauskunft die größ-
ten Probleme hätten, einen passenden
Arzt zu finden. Womöglich, sagt Forscher
Jung, liege das an „anderen Ansprüchen
einer urbanen Gesellschaft“. Für Leute
vom Land seien lange Wege normal.
Hofmeister weist auf einen anderen
Faktor hin. Die Zahl der Ärzte, auch der
Hausärzte, nehme zwar zu, doch junge
Ärzte arbeiteten oft in Teilzeit. Mehr Per-
sonal führe deshalb nicht automatisch zu
mehr ärztlicher Arbeitsleistung, wenn in
Vollzeit arbeitende Mediziner in Rente
gingen. Auch nehme die Zahl der Praxen
rapide ab. Von 2007 bis 2017 sei jede sieb-
te Praxis geschlossen worden. Entspre-
chend weniger Arztstandorte gebe es. Die

Patienten müssten deshalb oft weiter lau-
fen. Heute werde eher in größeren Praxen
kooperiert, bis hin zu medizinischen Ver-
sorgungszentren mit vielen Ärzten.
„Bedarf und Bedürfnisse“ müsse man
stärker auseinanderhalten, sagt Hofmeis-
ter. Nicht alles, was Patienten als drin-
gend empfänden, sei es auch im medizini-
schen Sinne. Mit Unverständnis kommen-
tiert er den anhaltend hohen Teil jener Pa-
tienten, die in die Notaufnahme der Klini-
ken gehen und dass 36 Prozent der Befrag-
ten Vorsorge- und Impftermine als „eilig“
oder „sehr eilig“ zu erledigen ansähen.
Wartezeiten sind ein Dauerbrenner der
Gesundheitspolitik und in den Befragun-
gen der KBV. Die Koalition hat erst kürz-
lich eigens das „Terminservice- und Ver-
sorgungsgesetz“ für eine schnellere Ver-
mittlung von Arztterminen in Kraft ge-
setzt. (Es trat nach der aktuellen Befra-
gung in Kraft.) KBV-Vorstandschef An-
dreas Gassen hält das Gesetz für überflüs-
sig und verulkt es als „fast lane“ und „prio-
rity boarding für medizinische Versor-
gung“. Denn die Wartezeiten gesetzlich
und privat Versicherter glichen sich im-

mer mehr an. Nur bei Wartezeiten von
mehr als drei Wochen sei die Zahl der Pri-
vatversicherten signifikant niedriger als
die der Kassenpatienten. Das sei 2008
noch ganz anders gewesen. Da bekamen
39 statt 30 Prozent der Privatpatenten am
gleichen Tag einen Termin, und nur 5
statt heute 12 Prozent mussten länger als
drei Wochen auf den Doktor warten.
Der Grund für die für alle Patienten län-
geren Wartezeiten liege nicht an der Art
der Versicherung, sondern am Mangel an
Ärzten. Hier müsse die Politik sich etwas
einfallen lassen. Digitalisierung allein hel-
fe auch nicht, wie die Befragung zeigt.
Zwei Drittel fremdeln mit der Video-
Sprechstunde, 30 Prozent lehnen die elek-
tronische Patientenakte ab. Frauen sind
mit einer Ablehnungsquote von einem
Drittel skeptischer als Männer, von denen
ein Viertel dagegen sind. Die Patienten
suchten lieber den direkten Kontakt zum
Arzt, sagt KBV-Technik-Vorstand Tho-
mas Kriedel. Forscher Jung ergänzt, dass
vielen älteren Patienten gar nichts ande-
res bleibe: 40 Prozent der über 65-Jähri-
gen fehle der Internetzugang.

dkm.FRANKFURT, 16. August. Paul
Kagame, der Präsident Ruandas, ist ein
Mann mit vielen Gesichtern. Eines da-
von ist das des Wirtschaftsreformers,
der seit Beginn der Ausübung seines Am-
tes im Jahr 2000 das Land wirtschaftlich
bemerkenswert vorangebracht hat. Weit-
reichende Reformen bescherten Ruanda
hohe Wachstumsraten, einen Rückgang
der Kindersterblichkeit sowie der Ar-
mut. Ruanda wurde dafür belohnt: Seit
1994 hat die Weltbank dem Land Hilfen
von 4 Milliarden Dollar zur Verfügung
gestellt.
Kagame ist jedoch auch ein Mann
mit einem anderen Gesicht, das ihn al-
len Errungenschaften zum Trotz zu ei-
ner umstrittenen Persönlichkeit macht:
dem des Mannes, der sein Land straff
führt und dem lieber niemand politisch
in die Quere kommen sollte. Bisher hat
dies seinem Ansehen nur bedingt ge-
schadet. Der Grund: sein Gesicht des
wirtschaftlichen Reformers, der Stabi-
lität garantieren kann.
Eben dieses für ihn essentielle Bild
könnte nun durch einen Bericht der briti-
schen Wirtschaftszeitung „Financial
Times“ getrübt werden. Denn dieser
zeichnet das Bild eines Despoten, des-
sen wirtschaftliche Erfolge weitaus ge-
ringer als angegeben ausfallen – und
dem seine scheinbar überwältigende
Wirtschaftsleistung lediglich zur Siche-
rung seiner Macht dient. So kommt die
Analyse der Zeitung zu dem Ergebnis,
dass die Statistiken Ruandas mindestens
einmal gefälscht gewesen sein müssen.

Während die offiziellen Angaben von ei-
nem Rückgang der Armut der Bevölke-
rung Ruandas von 44,9 Prozent im Jahr
2011 auf 39,1 Prozent im Jahr 2014 aus-
gehen, kommen die Analysen zu einem
anderen Ergebnis. So sei ein derart er-
heblicher Rückgang der Armut nur
dann möglich, wenn sich der Durch-
schnittswert der Lebenshaltungskosten
Ruandas in diesen drei Jahren für die
ärmsten 40 Prozent der Haushalte
gleichzeitig auf maximal 4,7 Prozent er-
höht hätte. Die Inflation, gerade in den
ländlichen Gebieten, müsse in dieser
Zeit aber höher gelegen haben, gaben
Experten an, die in dem Bericht nicht
namentlich genannt wurden. Sam Desie-
re, ein zitierter Forscher der Universität
Leuven, kommt zu dem Ergebnis, dass
sich die Preise in Ruanda in der Zeit um
rund 30 Prozent erhöht haben. Dies wür-
de bedeuten, dass die Armut nicht etwa
gefallen wäre, sondern sich gar um 6,
Prozent erhöht hätte. Der Grund für die
aufpolierten Zahlen: das Verfassungsre-
ferendum von 2015. Es gestattet Kaga-
me, theoretisch bis zum Jahr 2034 im
Amt zu bleiben. Im Vorfeld sei daher
Imagepflege von Nöten gewesen.
Kagame selbst zeigte sich indes er-
bost über die Berichterstattung. Er be-
zeichnete sie während einer Rede in der
Hauptstadt Kigali als „westliche Propa-
ganda“, für die ruandische Oppositionel-
le verantwortlich sein könnten. Kaga-
mes Macht dürfte durch den Bericht
schwerlich Schaden nehmen; dies gilt je-
doch nicht für das Bild Ruandas als öko-
nomisches Vorzeigemodell Ostafrikas.

Mit eigenem Soli-Vorschlag:Wirtschaftsminister Peter Altmaier Foto EPA


D


ieses Immobiliengeschäft wäre
selbst für Donald Trump nicht alltäg-
lich: Glaubt man dem „Wall Street Jour-
nal“, dann denkt Trump offenbar zumin-
dest scherzhaft darüber nach, die Insel
Grönland zu kaufen. Er habe einen Kauf
Grönlands gegenüber Beratern immer
wieder ins Gespräch gebracht und sogar
prüfen lassen, ob sich diese Idee verwirkli-
chen lässt. Dafür gibt es allerdings einen
wichtigen Akteur, den Trump nicht unter
Kontrolle hat: die dänische Politik, zu de-
ren Staatsgebiet Grönland gehört. Dort
fallen Worte wie „lächerlich“ und „April-
scherz“. „Wenn er das wirklich in Be-
tracht zieht, dann ist das der letzte Be-
weis, dass er verrückt geworden ist“, sagte
der außenpolitische Sprecher der Däni-
schen Volkspartei, Sören Espersen.
Schließlich würde Dänemark nicht ein-
fach 50 000 Bürger an die Vereinigten
Staaten verkaufen.
Doch eigentlich wäre ein Kauf Grön-
lands gar nicht so abwegig. Denn für Ame-
rika hätte das Vorhaben erhebliche strate-
gische Vorteile: Zwischen Amerika, Euro-
pa und der nördlichen Polarregion hat
Grönland eine geographisch gute Lage.
Außerdem verfügt die Insel über viele Bo-
denschätze und damit wichtige Ressour-
cen. Eine Einrichtung des amerikani-
schen Militärs, die ein Raketen-Frühwarn-
system betreibt, ist sowieso schon auf der
Insel.
Dänemark wiederum steckt finanziell
in einer misslichen Lage: Jedes Jahr ge-
hen 600 Millionen Dollar an Grönland –
mehr als die Hälfte des Jahreshaushalts

der Insel. Diese Kosten könnte Amerika
vermutlich besser tragen. Innenpolitisch
ist Grönland dagegen weitgehend unab-
hängig von Dänemark. Lediglich die Au-
ßen- und Sicherheitspolitik wird von Ko-
penhagen bestimmt. In der Vergangen-
heit waren bisher mehrmals Rufe nach
der völligen Loslösung Grönlands laut ge-
worden, die aber an der finanziellen Ab-
hängigkeit von Dänemark scheiterten.
Trump wäre allerdings nicht der erste
amerikanische Präsident, der Grönland
für sich beanspruchen will. 1946 schlug
Amerika den Dänen 100 Millionen Euro

für die Insel vor, war jedoch nicht erfolg-
reich. Dass Amerika in der Vergangen-
heit bereits ein gutes Gespür für den Kauf
von Staaten hat, zeigt sich an den Beispie-
len Alaska und Louisiana: Alaska wurde
im 19. Jahrhundert Russland abgekauft.
Mit einem Quadratkilometerpreis von
knapp fünf Dollar war es einer der billigs-
ten Landkäufe der Geschichte. Beim soge-
nannten „Louisiana Purchase“ von 1803
verkaufte Napoleon die ehemalige franzö-
sische Kolonie Louisiana an Amerika –
ebenfalls zu einem Schnäppchenpreis.
PAULINA WÜRMINGHAUSEN

sibi.FRANKFURT, 16. August. Der Euro
hat am Freitag leicht nachgegeben. An
den Märkten wurden Äußerungen von
EZB-Ratsmitglied Olli Rehn als eine Ursa-
che genannt. Der finnische Notenbank-
chef hatte sich im Gespräch mit der ameri-
kanischen Zeitung „Wall Street Journal“
für eine deutliche Lockerung der Geldpoli-
tik für den Euroraum ausgesprochen.
Rehn sagte, die Notenbank solle auf ihrer
nächsten Sitzung am 12. September mit ei-
nem „wirksamen und umfassenden“ Pa-
ket aufwarten. Es sei besser, die Markter-
wartungen zu übertreffen, als sie zu verfeh-
len, sagte Rehn. Die nächste EZB-Zinssit-
zung wird mit Spannung erwartet: Es
zeichnet sich seit längerem ab, dass die No-
tenbank eine weitere Lockerung der Geld-
politik im September oder Oktober im
Auge hat. Unklar ist aber noch, welche
Schritte genau es geben wird. Denkbar ist
eine weitere Herabsetzung des Zinssatzes
für Einlagen der Banken bei der Noten-
bank weiter ins Negative, beispielsweise
von minus 0,4 auf minus 0,5 Prozent in ei-
nem oder zwei Schritten. Zumindest disku-
tiert wird in der EZB, im Gegenzug eine
Staffelung dieses Einlagenzinses vorzu-
nehmen, ähnlich wie das in der Schweiz
der Fall ist; unter Umständen könnte das
kleinere Banken entlasten. Möglich ist
aber auch ein neues Programm für den An-
kauf von Anleihen. Eine Zinssenkung und
abermalige Anleihekäufe seien an den An-
leihemärkten bereits eingepreist, meint
Holger Schmieding, Chefvolkswirt des
Hamburger Bankhauses Berenberg: „Soll-
te die EZB im September die Märkte mit
einem unerwartet umfangreichen Paket
überraschen, können die Renditen weiter
sinken.“


Privatpatienten warten länger auf den Doktor


Versicherten-Umfrage der Kassenärzte: Nach dem Mangel an Fachärzten droht einer an Hausärzten


Klimapolitik mit Kohle


In Asien und Deutschland sorgt die Klimakrise für Zwist


Deutschland überweist mehr


Kindergeld ins Ausland


Gesetzesänderung soll Missbrauch zurückdrängen


Afrikas Star gerät ins Zwielicht


Ruandas Präsident wird für Erfolge gelobt. Sind die echt?


So kann der Soli ganz entfallen


Warum nicht Grönland kaufen?


DonaldTrump lässt seine Berater einen ganz besonderen Immobiliendeal prüfen


Olli Rehn: EZB sollte


Erwartungen übertreffen


Der Wirtschaftsminister


legt eine Alternative zum Plan


des Finanzministers vor.


Geht es nach Altmaier, wird


der Solidaritätszuschlag


komplett abgeschafft – wenn


auch nicht sofort.


Die Stadt Upernavik in Grönland Foto Reuters

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