Frankfurter Allgemeine Zeitung - 17.08.2019

(Tuis.) #1

SEITE 2·SAMSTAG, 17. AUGUST 2019·NR. 190 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


D


asErmutigendste, was man in die-
sem von nachlassendem Wachs-
tum geschundenen Land tun kann, ist,
ins Fitnessstudio zu gehen. Das kostet
nicht viel, und es ist rührend mitanzu-
sehen, wie hier Heranwachsende, die
im Alltag gerne mal fünfe gerade sein
lassen, über jede Kalorie und jede Am-
pulle Buch führen. Im Fitnessstudio
sind alle Menschen Brüder und spre-
chen sich auch so an („Hey, Bro“).
Draußen mögen Gebietsansprüche mit
Schlagringen durchgesetzt werden,
hier reicht ein Handtuch, kleiner als
auf Strandliegen in Cesenatico.
Man fragt sich, warum nicht jede
Stadt an jedem Busbahnhof und Bahn-
steig ein paar Klimmzugstangen oder
Hantelbänke aufstellt – das wäre für
das soziale Miteinander segensreicher
als sporadisch eingesetzte Sicherheits-
kräfte, die selbst ein paar Klimmzüge
vertragen könnten. Man fragt sich
auch: Woher kommt die Disziplin der
jungen Leute? Kann man die auf den
Kampf für Umwelt- und Klimaschutz
umlenken? Es wäre doch toll, wenn
die Jugendlichen Muscheln so wichtig
fänden wie Muskeln – und den Zu-
stand von Buchen, Bachen und Bächen
wie den ihrer Bäuche.
Auf den ersten Blick gibt das Fitness-
studio-Beispiel CDU und CSU recht.
Die heben in der Klimadebatte ja uner-
müdlich hervor, dass Anreize besser
seien als Vorschriften und Verbote. Tat-
sächlich gibt es keine staatliche
Pflicht, ins Fitnessstudio zu gehen –
und doch tun es so viele. Punkt für die
Union! Sie ist allerdings inkonsequent
bei der Frage, wie viel sie den Men-
schen wirklich zutrauen will. Wenn die
jungen Männer auf der Straße ihre
frisch gewonnene Fitness am Mitmen-
schen erproben wollen, dann versu-

chen die Joachim Herrmanns dieser
Welt sie nicht etwa durch Anreize wie
Ikea-Gutscheine oder eine Aufenthalts-
genehmigung davon abzuhalten, son-
dern dann wird gedroht und die Ver-
botskeule geschwungen: Verhaftung,
Prozess, Gefängnis. Dabei weiß doch
jeder, dass man die jungen Leute von
heute damit nicht mehr erreicht. Die
Sprache, die sie verstehen, ist Merce-
des-AMG, das sieht man auf den Park-
plätzen vor den Fitnessstudios.
Sehr zweifelhaft ist daher auch, wo-
mit nun Verkehrsminister Andreas
Scheuer um die Ecke kommt: Novelle
der Straßenverkehrsordnung! Die An-
reize, mit denen er dabei arbeitet, sind
viel schwächer als die, auf die er selbst
zu reagieren pflegt. Wer seinen Merce-
des-AMG zu Hause stehen lässt und
stattdessen eine Fahrgemeinschaft bil-
det, darf künftig die Busspur benutzen,
die er dann auch noch mit E-Rollern
teilen muss. Soll das ein Witz sein? Au-
ßerdem ist geplant, die Bußgelder fürs
Parken auf Gehwegen zu erhöhen.
Will die CSU denn, dass sich Autofah-
rer in Deutschland vorkommen wie
Studenten in Hongkong?
Zwischen Verbot und Anreiz gibt es
allerdings noch etwas Drittes, was
Menschen zum Handeln animieren
kann: die Gelegenheit. Man sieht das
an den E-Rollern. Sie zu benutzen ist
weder verboten noch Pflicht, aber
wenn sie halt schon auf dem Gehweg
herumstehen, dann klaut man sie eben
oder schlägt aus Frust dagegen, etwa
wenn man zu den Abgehängten im Os-
ten gehört. Die Gelegenheit, sagt das
Sprichwort, mache Diebe. Sie macht
aber auch Kinder – und schützt das Kli-
ma. Auf diese Zusammenhänge wollte
zuletzt wohl der Schalke-Aufsichtsrats-
chef Clemens Tönnies aufmerksam ma-
chen. Es misslang. Bei der Aufregung
über seine Aussagen blieb allerdings
der Kern seiner These, dass elektri-
sches Licht zu weniger Geschlechtsver-
kehr führe, ungeklärt. Ist das so? Und
wenn ja, warum? Das wären mal inter-
essante Forschungsfragen für die Dok-
torarbeit eines aufstrebenden Politi-
kers.
Damit wären wir bei der SPD. Wie
bekommt man sie fit für die Zukunft?
Wie übersteht sie die Schicksalswah-
len im Osten? Der italienische Innen-
minister Matteo Salvini ist zuletzt
durch die Strandbäder Italiens ge-
tourt, was auch eine Form von Anreiz
war. Mit Rechten reden geht natürlich
gar nicht, erst recht nicht als SPD –
aber warum nicht von ihnen lernen?
Das Problem im Osten ist allerdings,
dass dort viele Bäder aussehen wie
Braunkohlegruben – erst durch die
Kompensationszahlungen für den
Kohleausstieg soll das besser werden.
Und will man sich Hubertus Heil wirk-
lich in Badehose vorstellen, und sei es
im Dunkeln? Fazit: Auch die SPD soll-
te ins Fitnessstudio. Da riecht es
manchmal auch und stinkt sogar gele-
gentlich. tifr.

Labour-Chef hofft wohl auf Neuwahlen
Zur Brexit-Taktik des Labour-Vorsitzenden Jeremy
Corbyn heißt es in der niederländischen Zeitung „De
Telegraaf“:
„In den vergangenen Jahren hat er sich bequem zu-
rückgelehnt. Ohne echtes eigenes Interesse am Thema
Brexit hat er vergnügt zugesehen, wie sich die Konserva-
tiven darüber zerstritten. Geduldig hat er auf den Mo-
ment gewartet, in dem die Briten erneut an die Wahlur-
ne treten. Dieser Moment rückt nun näher. Corbyn kann
es dabei fast egal sein, ob sie noch vor einem (harten)
Brexit stattfinden oder erst danach. Letzteres wäre ihm
allerdings lieber, meinen viele seiner politischen Mit-
streiter. Dann bräuchte er sich über den Brexit keine Sor-
gen mehr zu machen und könnte alle negativen Folgen
den Konservativen in die Schuhe schieben.“

Großbritannien bangt um Vertrauen der Märkte
„The Times“ (London) kommentiert die wachsende
Furcht vor einer weltweiten Rezession:

„Die Ängste der Märkte werden noch durch die Be-
fürchtung verstärkt, dass Politiker im Falle einer neuen
Rezession womöglich kaum noch etwas dagegen unter-
nehmen könnten. Die Zinsen sind weltweit im Keller.
Selbst eine neue Runde des Ankaufs von Staatsanleihen
könnte sie kaum noch weiter nach unten treiben. Regie-
rungen müssten die Geldhähne noch weiter aufdrehen,
doch die meisten sind seit der letzten Finanzkrise immer
noch hoch verschuldet.... Dies sind unruhige Zeiten
für alle Länder. Doch für Großbritannien, das sich dar-
auf vorbereitet, die EU mit oder ohne Deal zu verlassen,
gibt es noch zusätzlich Grund zur Sorge. Für ein Land,
dessen Wohlergehen von der anhaltenden Bereitschaft
ausländischer Investoren zur Finanzierung seines enor-
men Defizits sowie der einheimischen Konsumenten
zum Geldausgaben abhängt, ist dies keine Zeit, um das
Vertrauen der Märkte aufs Spiel zu setzen.“

Gefahr durch Hongkong-Proteste
„Wedomosti“ (Moskau) sieht einen spezifischen
Grund für Rezessionsängste:

„Die schon seit mehr als zwei Monaten dauernden
Proteste in Hongkong verschlimmern die Situation in
der Stadt, im Kernland China und in der Weltwirtschaft.
Die Massenproteste gegen das Gesetzesvorhaben zur
Auslieferung mutmaßlicher Krimineller an China ha-
ben sich zu Forderungen einer breiteren Demokratisie-
rung ausgeweitet. Und sie haben begonnen, sich noch
stärker auf den Handel, den Tourismus und das Rück-
grat der Wirtschaft Hongkongs – den Immobilienmarkt


  • auszuwirken. Die Angst vor einer gewaltsamen Unter-
    drückung der Proteste durch Peking stört schon jetzt das
    Geschäftsklima, wie Analysten und Topmanager sagen.
    Unternehmen schieben ihre Investitionsentscheidungen
    auf, sagen Treffen mit Kunden ab. Die Proteste könnten
    die Wirtschaft in eine Rezession stürzen.“


Dialog wird schwierig
„La Croix“ (Chaumont) schreibt zu Hongkong:
„In Washington, London, Paris und Berlin wird daran
erinnert, dass die Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der
Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie die Autono-

mie des Justizsystems gewährleistet sein müssen. Unter-
dessen verstärkt Peking seinen politischen Druck,
schürt eine Medienkampagne und lässt die Säbel ras-
seln. Es ist zu hoffen, dass der Dialog irgendwann aufge-
nommen wird – aber das ist nicht einfach, denn für die
Kommunistische Partei und ihren Generalsekretär Xi
Jinping geht das Thema weit über Hongkong hinaus.“

Kurz sollte mit der FPÖ brechen
„Der Standard“ (Wien) blickt auf den Wahlkampf in
Österreich:
„Ist diese FPÖ tatsächlich ein ernst gemeinter Partner,
mit dem Kurz... regieren will? Kommt nicht irgend-
wann der Punkt, wo man den Anstand vor Machterhalt
und Selbstbefestigung stellen muss? Wenn Kurz nicht so
sehr von Taktik getrieben wäre, würde er sich jetzt von
der FPÖ als möglichem Koalitionspartner verabschie-
den. Das wäre vielleicht ein bisschen unbequem, sollte
aber eine Befreiung sein – für Kurz und das Land: raus
aus diesem politischen Schmuddeleck. Wer sich dort nie-
derlässt, läuft Gefahr, selbst vor dem Richter zu landen.“

BERLIN/HANNOVER, 16. August


W


as die Wahl des richtigen Zeit-
punktes betraf, so hatten Ge-
sine Schwan und Ralf Stegner
am Freitagmittag kein Glück.
Für 12.30 Uhr hatten die Berliner Politik-
wissenschaftlerin und der schleswig-hol-
steinische SPD-Fraktionsvorsitzende an-
gekündigt, ihre Kandidatur für den Partei-
vorsitz anzukündigen. Sie wären damit
Bewerber Nummer neun und zehn gewe-
sen und jedenfalls ein Duo großen Wis-
sens und praktischer Erfahrung. Schwan
hatte einen kleinen, unakademischen Vor-
trag präpariert ungefähr zum Thema:
Warum die SPD in der Geschichte histo-
risch geworden ist und wie man das än-
dern kann. Der Vortrag reichte von Ralf
Dahrendorf über Gerhard Schröder und
Tony Blair bis zum digitalen Globalkapita-
lismus und war sehr durchdacht. Stegner
wiederum, der in vielen Wahlschlachten
gekämpft, aber fast nie gewonnen hat und
immer noch da ist, personifiziert schon
selbst den Zustand, aber auch den sprö-
den Charme der SPD.
Aus der Ferne wirkt er immer sehr be-
trübt und übellaunig, aus der Nähe ge-
kannt, ist Stegner ein patenter Genosse
mit Musik in den Knochen, eigentlich ein
Rocker. Stegner redete über den Alltag
und dessen soziale Verbesserungen, für
die in Deutschland hauptsächlich die
SPD verantwortlich sei, auch wenn das
niemand ihr gutschreibt. Es gehe darum,
so sagte er, „die wesentlichen Lebensrisi-
ken solidarisch zu tragen“. Also Kind-
heit, Jugend, Arbeit, Kinderhaben, Ge-
sundheit, Alter, Pflege. Dazu all die Be-
drohungen von außen. Das sei Sache der
SPD. Jedenfalls hält Stegner die Umfrage-
werte für eine demoskopische Gemein-
heit und der Bedeutung der Partei völlig
unangemessen.
Dennoch war die Aufmerksamkeit für
die beiden nicht ungeteilt. Denn eine
Stunde zuvor hatte das Magazin „Der
Spiegel“ gemeldet, Bundesfinanzminister
Olaf Scholz sei bereit anzutreten. Und das
war ungefähr so, als betrete ein ausge-
wachsener Grizzly-Bär eine Hahnen- und

Hühnerkampf-Arena, was natürlich nicht
bedeutet, dass der Bär vom Federvieh ge-
rupft werden könnte. Scholz, der ganz an-
dere Vorstellungen von der Zukunft sei-
ner Partei und vor allem des Landes hat
als die bisher mehrheitlich linken Bewer-
ber, war in den vergangenen Tagen von
Freunden und auch von nicht so guten
Freunden gedrängt worden, das zuneh-
mend bedrückende Bewerberspiel in eine
andere Liga zu bringen, Bärenniveau so-
zusagen. Mitteilen wollte er das wohl erst
später, als es nun bekannt wurde. Und
nun steht Scholz auch etwas unzeitig da
und wird gefragt: Mit wem kandidiert er?
Das will er aber erst später sagen. Lan-
ge wird es doch nicht dauern, man kennt
das bei der SPD nicht anders. Eine der
möglichen Partnerinnen wäre – neben
seiner Frau, die Ministerin in Branden-
burg ist – die allseits beliebte, wenn-
gleich derzeit wohl nicht so glückliche
Katarina Barley, die nach einem desaströ-
sen Wahlkampf nun mit äußeren Anzei-
chen von Verbitterung in Brüssel hockt.
Auch andere Kandidatinnen wurden je-
doch genannt.
Kaum war das bekannt, kam der erste
Niedersachse ins Spiel, Boris Pistorius. Er
kandidiert an der Seite von Petra Köp-
ping, einer patenten und im Lande weit-
hin bekannten Sächsin, gebürtig aus Nord-
hausen in Thüringen. Dass Köpping hart
im Nehmen und mutig angesichts schwie-
riger Aufgaben ist, kann jeder schon der
Tatsache entnehmen, dass sie seit 2014
im Pegida- und AfD-Hochgebiet Sachsen
als Staatsministerin für Gleichstellung
und Integration kämpft.

Mit Pistorius steigt in das bisher von
Parteilinken geprägte Bewerberfeld ein
Sozialdemokrat ein, der eher für den rech-
ten Flügel steht. Als Innenminister macht
der 59 Jahre alte Pistorius in Niedersach-
sen eine zupackende Sicherheitspolitik.
Anfang 2017 wandte der frühere Oberbür-
germeister von Osnabrück erstmals in der
deutschen Rechtsgeschichte Paragraph
58a des Aufenthaltsgesetzes an und ließ is-
lamistische Gefährder ohne Vorwarnung
abschieben. Pistorius hat einen Hang zu
solchen Aktionen, die starke Signale an
die Öffentlichkeit aussenden. Mit diesem
Politikstil hat er im Herbst 2017 auch ei-
nen bedeutenden Beitrag zum Wahlsieg
der Niedersachsen-SPD bei der Landtags-
wahl geleistet.
In den vergangenen Wochen ist aller-
dings deutlich geworden, dass die Ge-
schlossenheit der damals erfolgreichen
niedersächsischen SPD-Troika aus Minis-
terpräsident Stephan Weil und seinen bei-
den stärksten SPD-Ministern Olaf Lies
und Boris Pistorius zunehmend einer offe-
nen Rivalität weicht. Zunächst stellte der
Ministerpräsident seinem Umweltminis-
ter Lies ein Ultimatum, als dieser ein Job-
angebot der Energiewirtschaft vorliegen
hatte. Nun verkündet sein Innenminister
Pistorius eine Kandidatur für den SPD-
Bundesvorsitz, obwohl der Ministerpräsi-
dent erst am Donnerstag mitgeteilt hatte,
die Kandidatenfrage in der niedersächsi-
schen SPD werde voraussichtlich erst
Ende August geklärt. Für den 30. August
ist deshalb eine Sondersitzung des SPD-
Landesvorstands anberaumt worden. Der
SPD-Landesvorsitzende und Ministerprä-
sident Weil hat sich eine Kandidatur

selbst bisher immer offengehalten – und
er tat dies auch am Freitag weiterhin. Zu
diesem Zeitpunkt wusste der Ministerprä-
sident auch schon von den Ambitionen
von Scholz auf den SPD-Vorsitz. Scholz
steht ebenso wie Weil (die beide ebenso
wie Pistorius für eine pragmatisch-bürger-
liche Politik stehen) vor dem Problem,
dass es eklatant an prominenten SPD-
Frauen mangelt, die zu einer gemeinsa-
men Kandidatur bereit wären.
Bisher sprach manches dafür, dass
Weil im Ergebnis eine Bewerbung des aus
Niedersachsen stammenden Lars Kling-
beil unterstützen könnte, der sich – ver-
mutlich aus Rücksicht auf Weil – bisher
aber noch nicht erklärt hat. Auf ein von
Pistorius zuvor angestelltes öffentliches
Gedankenspiel über eine Kandidatur hat-
te Weil bislang eher kühl reagiert.
Dass Pistorius nun bereits am Sonntag
seine gemeinsame Kandidatur mit Köp-
ping präsentieren will, kam für die nieder-
sächsische SPD-Führung am Freitagvor-
mittag, wie zu hören ist, völlig überra-
schend. Und Pistorius kann sich nicht si-
cher sein, die Unterstützung seines Lan-
desverbandes zu bekommen. Denn ein
Landesverband kann, wie ein SPD-Spre-
cher darlegte, nur einen einzigen Kandi-
daten oder ein einziges Kandidaten-Duo
unterstützen. Weil sagte am Freitag, er be-
grüße die Kandidatur von Pistorius. „Er
ist ein versierter, erfahrener und durchset-
zungsstarker Politiker und vor allem
durch und durch ein Sozialdemokrat.“
Welchen Bewerber der niedersächsische
Landesverband unterstützen wird, werde
aber erst Ende des Monats entschieden,
am Schluss der Bewerbungsfrist.

FRAKTUR


STIMMEN DER ANDEREN


Anreize und Verbote


Alleseine Frage des Zeitmanagements:Olaf Scholz mit dem britischen Finanzminister Sajid Javid am Freitag in Berlin Foto Imago


now./elo.BRÜSSEL/BERLIN, 16. Au-
gust. Die Spannungen innerhalb der
italienischen Regierung haben auch
am Freitag eine Verteilung der seit
mehr als zwei Wochen auf dem Ret-
tungsschiff „Open Arms“ im zentralen
Mittelmeer verharrenden rund 130 Mi-
granten auf mehrere EU-Länder ver-
hindert. Die für die Koordinierung der
Bemühungen um die Verteilung der Mi-
granten zuständige Europäische Kom-
mission wertete es als positiv, dass sich
neben Deutschland, Frankreich, Lu-
xemburg und Portugal nun auch Spa-
nien und Rumänien dazu bereit erklärt
hätten. Zunächst aber müssten die Mi-
granten an Land gehen können.
Eine Einwilligung Italiens hierzu
stand am Freitagnachmittag trotz ei-
nes entsprechenden Urteils eines Ver-
waltungsgerichts in Rom noch aus. So
sperrt sich Innenminister Matteo Salvi-
ni von der rechtsnationalen Lega ge-
gen das vom Koalitionspartner Fünf-
Sterne-Bewegung anerkannte Urteil.
Eine Kommissionssprecherin sagte, es
sei „unhaltbar“, dass Menschen wo-
chenlang auf See festsäßen. Sie rief zur
solidarischen Lastenteilung bei akuten
Notfällen auf. „Dies liegt nicht nur in
der Verantwortung eines einzigen oder
mehrerer Mitgliedstaaten, sondern Eu-
ropas insgesamt“, sagte die Spreche-
rin. Wie in Brüssel ferner zu hören
war, sollen auch diskrete Gespräche
zur Verteilung von weiteren 350 Mi-
granten laufen, die sich an Bord des
Rettungsschiffs „Ocean Viking“ im Mit-
telmeer befinden.
Die Beratungen über einen langfris-
tigen EU-Mechanismus zur Lastentei-
lung sind seit langem weitgehend blo-
ckiert. So lehnen die meisten östlichen
Partner eine Aufnahme der in Südeuro-
pa in die EU gelangenden Migranten
strikt ab. Andererseits sperrt sich Ita-
lien gegen einen auf Betreiben
Deutschlands und Frankreichs geplan-
ten „solidarischen Mechanismus“ für
Notfälle, an dem sich nach Pariser An-
gaben acht Staaten „aktiv“ beteiligen
wollen. Mehr Aufschluss könnte ein
im September auf Malta geplantes Tref-
fen von EU-Innenministern geben.
Bei einem Treffen der zu CDU und
CSU gehörenden Innenminister von
Bund und Ländern am Freitag in Dres-
den rief Bundesinnenminister Horst
Seehofer (CSU) die EU-Mitgliedstaa-
ten dazu auf, eine humanitäre Lösung
für die Seenotrettung auf dem Mittel-
meer zu finden. „Wir müssen die er-
bärmlichen Abläufe vor der Küste von
Italien und Malta vermeiden“, sagte
Seehofer. „Seenotrettung ist ein Gebot
der Menschlichkeit.“ Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU) hatte Agentur-
meldungen zufolge am Donnerstag-
abend bei der Verabschiedung von Ur-
sula von der Leyen (CDU) aus dem
Amt der Verteidigungsministerin mit
einem Großen Zapfenstreich gesagt,
sie befürworte eine Wiederaufnahme
staatlich organisierter Seenotrettung
im Mittelmeer. Regierungssprecher
Steffen Seibert sagte dazu am Freitag,
Deutschland habe „mit Überzeugung“
an der „Mission Sophia“ teilgenom-
men. Es gebe aber in der Frage der Ver-
teilung von im Mittelmeer geretteten
Migranten in der EU derzeit keine Eini-
gung. „Wir würden ein neues Mandat,
wenn es diese Einigung gäbe, begrü-
ßen.“ Die EU hatte im Frühjahr ihren
2015 gestarteten Sophia-Marineein-
satz vor der libyschen Küste beendet
und kann dort nun keine Migranten
mehr aus Seenot retten. Grund ist,
dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf
ein System zur Verteilung der Gerette-
ten verständigen konnten.
Ein Sprecher der EU-Außenbeauf-
tragten Federica Mogherini wollte sich
nicht direkt zu Merkels Überlegungen
äußern. Dass die EU im März nicht in
der Lage gewesen sei, den Auftrag zur
Seenotrettung für die Operation „So-
phia“ zu verlängern, sei „alles andere
als optimal“. Mogherini habe jedoch
die Hoffnung ausgesprochen, dass der
Beschluss rückgängig gemacht werden
könne, sich nur noch auf die Überwa-
chung der Flüchtlingsrouten aus der
Luft sowie auf die Aus- und Weiterbil-
dung der libyschen Küstenwache zu
konzentrieren.(Kommentar Seite 8.)

kbb.LEIPZIG, 16. August. Die AfD darf
bei der Landtagswahl in Sachsen mit insge-
samt dreißig Listenkandidaten antreten.
Das hat der sächsische Verfassungsge-
richtshof am Freitagnachmittag in Leipzig
entschieden und damit seine einstweilige
Verfügung bestätigt, die vor drei Wochen
ergangen war. Der AfD-Landesverband so-
wie mehrere Parteimitglieder hatten vor
dem Verfassungsgerichtshof gegen die Ent-
scheidung des Landeswahlausschusses ge-
klagt, der Anfang Juli aufgrund von Form-
fehlern lediglich 18 von insgesamt 61 Kan-
didaten für die Landtagswahl zugelassen
hatte. Die AfD fühlte sich dadurch unange-
messen benachteiligt, auch weil sie bei der
Wahl gemäß aktuellen Umfragen auf etwa
dreißig Mandate kommen könnte. Der
weitreichende Ausschluss der Kandidaten
verletze den Grundsatz der Gleichheit der
Wahl, sagte die Präsidentin des Verfas-
sungsgerichtshofs, Birgit Munz, bei der Ur-
teilsbegründung. Dies gelte jedenfalls für
die Kandidaten bis einschließlich Platz 30,
die nun antreten dürfen.
Der sächsische Landesvorsitzende der
AfD, Jörg Urban, kündigte am Freitag an,
weiterhin gegen die Entscheidung des
Wahlausschusses vorzugehen. Die Partei
werde Strafanträge gegen die Mitglieder
des Wahlausschusses wegen Rechtsbeu-
gung stellen, die Wahl nachträglich über

den Wahlprüfungsausschuss anfechten
und im neuen Landtag einen Untersu-
chungsausschuss beantragen. Vor allem
müsse es grundsätzlich möglich sein, vor
einer Wahl gegen strittige Entscheidungen
des Ausschusses vorzugehen, sagte Urban.
Das war bis zur Entscheidung des Verfas-
sungsgerichts nicht möglich; vorgesehen
war lediglich die nachträgliche Wahlprü-
fungsbeschwerde. Das Gericht betonte am
Freitag, dass diese im vorliegenden Fall in
Teilen „ausnahmsweise zulässig“ sei.
Obwohl das Gericht in der Urteilsbe-
gründung betonte, dass es keine Anhalts-
punkte für eine missbräuchliche oder will-
kürliche Entscheidungsfindung des Wahl-
ausschusses sehe, bekräftigte Urban seine
Haltung. „Es ist ein bewusster Rechts-
bruch gemacht worden, das ist ein dramati-
scher Vorgang“, sagte er. Der Partei werde
es aber voraussichtlich gelingen, alle ihr
nach den Zweitstimmen zustehenden Man-
date zu besetzen. Der AfD-Vorsitzende
Jörg Meuthen forderte Sachsens Innenmi-
nister Roland Wöller (CDU) auf, die Lan-
deswahlleiterin Carolin Schreck zu entlas-
sen. Sie habe „das Ansehen der Demokra-
tie in Sachsen schwer beschädigt“.
Bereits nach der mehrstündigen mündli-
chen Verhandlung Ende Juli hatte das Ge-
richt aufgrund des nahen Wahltermins am


  1. September vorläufig entschieden, dass


der Ausschluss etlicher Listenkandidaten
der AfD „mit hoher Wahrscheinlichkeit
rechtswidrig“ war. Verfassungsgerichtsprä-
sidentin Birgit Munz sprach damals von ei-
nem „voraussichtlichen Wahlfehler von au-
ßerordentlichem Gewicht“. Diese Ein-
schätzung bekräftigte das Gericht nun in
dem Urteil.
In dem Streit ging es um die Frage, ob
die AfD ihre Listenkandidaten korrekt auf-
gestellt hatte. Der Landeswahlausschuss
vertrat die Auffassung, dass die Partei die
geltenden Regeln gebrochen habe, indem
sie ihre Kandidaten auf zwei Parteitagen
mit unterschiedlichen Versammlungslei-
tern nominiert und beim zweiten Termin
auch noch das Wahlverfahren verändert
habe. Das sächsische Wahlgesetz und die
darauf aufbauende Wahlordnung verbö-
ten dies. In der Tat wählte die Partei beim
ersten Termin im Februar die ersten 18
Kandidaten der Landesliste jeweils ein-
zeln und vertagte sich dann auf einen zwei-
ten Termin im März. Dort setzten die Par-
teimitglieder die Einzelwahl der Kandida-
ten zunächst fort, gingen von Platz 31 an al-
lerdings zu einer Blockwahl über. Zudem
wurde die zweite Versammlung von einer
anderen Sitzungsleitung geführt. Dieser
Schritt erfolgte allerdings kurzfristig und
war nicht, wie es erforderlich gewesen
wäre, zu Beginn des ersten Termins der

Aufstellungsversammlungen im Februar
so beschlossen worden. Der Landeswahl-
ausschuss rügte daher, dass nicht alle Be-
werber die gleichen Chancen gehabt hät-
ten.
Die AfD versuchte die Kritik an zwei
Stellen zu entkräften. Zum einen habe es
nach ihrer Auffassung keine zwei Parteita-
ge gegeben, sondern lediglich einen, der
nur unterbrochen worden sei. Zum ande-
ren sei die Chancengleichheit gewahrt ge-
blieben, da sich schon beim ersten Termin
jedes Parteimitglied auf jeden Listenplatz
habe bewerben können. Der Verfahrens-
wechsel habe die Chancen der einzelnen
Bewerber nicht verändert.
Der Verfassungsgerichtshof hielt schon
in seiner einstweiligen Verfügung einen
Ausschluss aller beim zweiten Termin ge-
wählten Kandidaten für unverhältnismä-
ßig, da die Partei damit voraussichtlich
nicht in der Lage sein würde, alle ihr auf-
grund der Zweitstimmen zustehenden
Mandate zu füllen. Zugleich erkannte das
Gericht die Bedenken des Zulassungsaus-
schusses an, dass die kurzfristige Verände-
rung des Wahlverfahrens ein Problem dar-
stelle. Daher machte es nicht den ganzen
zweiten Parteitagstermin, sondern den
Zeitpunkt des Wechsels des Verfahrens –
also Platz 30 der Landesliste – zum maß-
geblichen Kriterium.

Die wiedergefundene Zeit


Das hat Scheuer vergessen:Klimm-
zugstangen an Busbahnhöfen Foto ddp

AfD darf in Sachsen mit 30 Kandidaten antreten


Sächsisches Verfassungsgericht bestätigt einstweilige Verfügung / Urban kündigt Anzeige wegen Rechtsbeugung an


Flüchtlinge


harren aus


Verteilung scheitert an
Regierungsstreit in Italien

Mit der Ankündigung


von Olaf Scholz, doch


für den Vorsitz zu


kandidieren, kommt


Bewegung in die SPD.


Drängender wird auch


die Frage: Wen


unterstützt das große


Land Niedersachsen?


Von Reinhard Bingener


und Peter Carstens

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