Frankfurter Allgemeine Zeitung - 17.08.2019

(Tuis.) #1

SEITE 24·SAMSTAG, 17. AUGUST 2019·NR. 190 Unternehmen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


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iedeutsche Luftfahrt ist es offen-
sichtlich leid, als großer Buh-
mann in der Klimadebatte dazustehen.
In der nicht immer sachlich geführten
Diskussion über den Sinn und Unsinn
von Inlandsflügen holt sie zum argu-
mentativen Schlag gegen die Bahn aus.
Menschen würden schon mehr Zug fah-
ren, wenn die staatliche Bahn besser
wäre. Vor der ersten nationalen Luft-
fahrtkonferenz in der kommenden Wo-
che fehlt nun nur noch, dass Bahnma-
nager mal kundtun, was ihnen alles
beim Fliegen aufstößt. Der Autobran-
che haben weite Teile der hiesigen
Wirtschaft ohnehin nicht vergessen,
dass erst durch deren Fahrzeuge und
Tricks die Diskussionen über Schad-
stoffbelastungen von Städten und Luft
besonders laut geworden sind. Es fehlt
nicht mehr viel, dann ist das Mobili-
täts-Hickhack der einzelnen Verkehrs-
träger perfekt – und der Bundesver-
kehrsminister bekäme als Zusatzauf-
gabe neben der Planung der Mobilität
der Zukunft, erst mal die einzelnen An-
bieter versöhnen zu müssen. Je konkre-
ter die Klimadebatte wird, desto kon-
kreter wird auch, welche finanziellen
Folgen und Entbehrungen Branchen
und Unternehmen im Zeichen des Kli-
maschutzes drohen können. Auf Män-
gel des jeweils anderen zu zeigen liegt
dann nahe. Dass es dazu kommt, zeigt
aber ein weiteres Mal, wie unterentwi-
ckelt die Vernetzung von Verkehrsmit-
teln hierzulande ist.

D

ie nun startende Saison in der
Fußball-Bundesliga wird über die
weitere Zukunft des beliebtesten Un-
terhaltungsformats hierzulande ent-
scheiden. Nicht nur, dass die besten
Klubs im internationalen Vergleich
sportliche Marken setzen müssen in
der Konkurrenz zu England, Spanien
oder Italien. Vor allem wird sich an der
bevorstehenden Auktion der Medien-
rechte erweisen, welche Investitions-
kraft die Liga in den nächsten fünf,
sechs Jahren entfalten kann. Immer
noch gehören die Einnahmen aus dem
Verkauf der Übertragungsrechte zu
den wichtigsten im Portfolio. Während
aus dem Verkauf der Eintrittskarten,
von Werbeplätzen und Fanartikeln der-
zeit keine größeren Einnahmesprünge
mehr zu erwarten sind, liegt die Hoff-
nung darauf, dass das gesteigerte Inter-
esse von Medienunternehmen zu ei-
nem Preisfeuerwerk führen wird. Dies
wäre umso wichtiger, weil sich in den
anderen großen Ligen der Medien-
markt derzeit wenig bullig erweist.
Wenn es sich hierbei nicht um einen
globalen Trend handelt, hätte die Bun-
desliga eine große Chance, finanziel-
les Terrain gutzumachen. Hinter der
übermächtigen Premier-League-Show
geht es darum, sich gegenüber Spanien
und Italien als relevantes Unterhal-
tungsprodukt für den Weltmarkt zu be-
haupten. Wer das als Liga nicht
schafft, der wird gnadenlos durchge-
reicht werden.

FRANKFURT,16. August


A


us der Ferne könnte man den mit-
ten in Frankfurt abgestellten Elek-
troroller für ein Modell mit Klapp-
funktion halten. Die Lenkstange des Fahr-
zeugs des Vermieters Circ ist nach hinten
geknickt und ragt nun parallel über das
Trittbrett. Aus der Nähe betrachtet, wird
allerdings schnell deutlich: Dieser Roller,
der an einem Teich im Frankfurter Anla-
genring nahe der Alten Oper steht, ist ka-
putt, die Lenkstange ist aus der Halterung
gebrochen. Und es ist nicht das einzige
Circ-Fahrzeug mit diesem Defekt. Nur ein
paar hundert Meter weiter, an der Main-
zer Landstraße, hat ein Kunde des Roller-
vermieters den nächsten vermeintlichen
Roller zum Einklappen abgestellt.
Nach eigenen Angaben hat Circ derzeit
mehr als 700 Roller in Frankfurt in Be-
trieb. Die beiden kaputten Fahrzeuge erge-
ben daher noch nicht einmal eine Ausfall-
quote in einstelliger Prozenthöhe. Zudem


ist nicht klar, was genau zu dieser Beschä-
digung führte: War es ein Materialfehler,
war es Vandalismus, oder ließ das Fehlver-
halten eines Nutzers die Lenkstangen bre-
chen? Auf Anfrage teilt Circ jedenfalls
mit, dass dem Unternehmen der aufgetre-
tene Defekt bisher nicht bekannt sei. „Uns
liegen von daher noch keine Daten über
derartig beschädigte Roller vor“, heißt es
weiter. Es handele sich vermutlich um Ein-
zelfälle. Was die selbstentwickelten Roller
betrifft, lege Circ ohnehin Wert auf hohe
Qualitätsstandards und besondere Sicher-
heitsmerkmale, sagt eine Sprecherin.
Ob Einzelfall oder nicht – die defekten
E-Scooter in Frankfurt werfen ein Schlag-
licht auf die Frage, was eigentlich passiert,
wenn der Roller eines Vermietsystems
nicht mehr funktioniert, weil die Batterie
leer oder er sogar beschädigt ist. Nachdem
die Elektrokleinstfahrzeuge Ende Juni in
Deutschland zugelassen worden sind,
steigt ihre Zahl zumindest in vielen gro-

ßen deutschen Städten derzeit weiter. Die
Circ-Flotte in Berlin, Hamburg, München,
Köln oder Frankfurt umfasst inzwischen
mehr als 4000 Roller. Der Konkurrent
Tierhat nach eigenen Angaben in 16 deut-
schen Städten mehr als 14 000 Roller be-
reitgestellt und inzwischen mehr als zwei
Millionen Fahrten vermittelt. Alle diese
Roller müssen früher oder später aufgela-
den, gewartet und manchmal eben auch
umfassender repariert werden.
Was diese Tätigkeiten betrifft, verfol-
gen die Rolleranbieter einen ähnlichen
Ansatz. Über Logistikdienstleister oder
mit eigenen Angestellten holen sie entla-
dene oder defekte Roller in Werkstätten,
die sie in den jeweiligen Städten angemie-
tet haben. Dort arbeiten dann Mechani-
ker, die die Roller aufladen, Schrauben an-
ziehen oder defekte Teile austauschen. Je
nach Stadt sind nach Angaben der Circ-
Sprecherin 15 bis 50 Angestellte des Unter-
nehmens rund um die Uhr mit der War-

tung der Fahrzeuge beschäftigt. Auch Tier
unterhalte solche Standorte mit gut einem
halben Dutzend Mitarbeitern in allen deut-
schen Städten, sagt ein Sprecher. Wenn
der Bedarf groß sei, werde die Mitarbeiter-
zahl kurzfristig aufgestockt.
Die intensive Wartung liegt den Unter-
nehmen aus einem relativ einfachen
Grund am Herzen. Jeder einzelne Elektro-
roller kostet viel Geld, je nach Anbieter
mehr als 500 Euro. Um diese Anschaf-
fungskosten wieder einzufahren, müssen
die Fahrzeuge eine gewisse Mindestlebens-
dauer erreichen. Je länger aber ein Roller
darüber hinaus in Betrieb gehalten wer-
den kann, desto mehr Geld wirft er auch
ab. Den Rolleranbietern hierzulande dürf-
te zudem die Erfahrung der schon länger
auf dem Markt agierenden Konkurrenz in
den Vereinigten Staaten bewusst sein:
Eine Auswertung von offen zugänglichen
Daten aus der Stadt Louisville durch das
Online-Medium „Quartz“ hatte ergeben,

dass ein Roller des Anbieters Bird durch-
schnittlich gerade einmal 29 Tage hält, be-
vor er kaputtgeht. Auch wenn sich diese
hochgerechnete Lebensdauer auf eine rela-
tiv kleine Zahl von Fahrzeugen bezieht, ist
sie doch viel zu kurz, um das Aufstellen
der Roller rentabel betreiben zu können.
Deshalb ist die regelmäßige Wartung
ein Grundprinzip der Anbieter. „Uns ist
daran gelegen, dass die Roller möglichst
lange halten“, sagt die Circ-Sprecherin.
Auch Tier achtet genau auf die Langlebig-
keit seiner Roller. Nach den ersten beiden
Betriebsmonaten hat sich die prognosti-
zierte Lebensdauer nach Angaben des
Sprechers auch wegen der Wartung von
anfangs zehn auf inzwischen vierzehn Mo-
nate erhöht. Wenn aber dennoch mit ei-
nem Roller wie in Frankfurt gar nichts
mehr geht, landet er nach Angaben der
Unternehmen nicht auf dem Müll. Er wer-
de zum Ersatzteillager für andere Roller,
die zur Reparatur kommen.

FRANKFURT, 16. August


D


ie torreichste Liga Europas, ein
spannender Titelkampf und neue
Stars – in der Eigenwerbung stellt
sich die Fußball-Bundesliga schon mal in
ein glanzvolles Licht. Ob alle diese Aussa-
gen wirklich zutreffend sind, ist im Ver-
gleich mit der internationalen Konkur-
renz relativ. Gerade in dieser Saison müs-
sen die deutschen Topklubs alles Dranset-
zen für ein attraktives Produkt, verschärft
sich doch in den nächsten Monaten der
Poker um die neuen Medienverträge. Ge-
gen Schluss der Spielzeit wird nach der fi-
nalen Rechteauktion dann feststehen, wel-
che wirtschaftlichen Perspektiven in Zu-
kunft für die Vereine bestehen. Es geht
um die Finanzierung des Zeitraums zwi-
schen 2021 und 2025. Die Branche hofft
auf satte Zugewinne, doch erstmals erge-
ben sich konkrete Zweifel, dass die Re-
kordsteigerungen der Vergangenheit ab-
reißen könnten. Damit würde die Bundes-
liga im Wettbewerb mit den Ligen in Eng-
land, Spanien oder Italien stagnieren.
„Wir wären zufrieden, wenn das Ergebnis
mit etwas Aufschlag gehalten werden wür-
de“, sagt der Vertreter eines größeren
Bundesligaklubs. Seinen Namen will er
nicht in der Zeitung lesen.
Der Medien-Deal ist ein heikles Feld.
Es geht um viel Geld und die Prosperität
der Klubs. Zudem ist das Bundeskartell-
amt in den Ablauf mit eingebunden. Seit
dem Jahr 2009 wuchsen die Einnahmen
aus drei Auktionen von 412 Millionen
Euro auf 628 Millionen und zuletzt fast 1,2
Milliarden Euro je Saison. Die Vergabe im
Jahr 2016 für die vier Spielzeiten zwischen
2017/18 und 2020/21 ergab ein Plus von 85
Prozent. Vor allem die Rechte an den Live-
übertragungen sind die Werttreiber. Der
Pay-TV-SenderSkylegte 2016 fast dop-
pelt so viel auf den Tisch und überweist
der Liga derzeit jede Saison 876 Millionen
Euro – aber für weniger Spiele. Ein kleines
Live-Paket sicherte sich Eurosport für


rund 70 Millionen Euro im Jahr, weil das
Kartellamt erstmals vorschrieb, dass ein
zweiter Anbieter für Direktübertragungen
bedacht werden muss. Der Gesamtumsatz
der Liga beträgt 3,8 Milliarden Euro.
Dass Eurosport sich nun vorzeitig aus
der Live-Berichterstattung zurückgezo-
gen hat, ist kein gutes Zeichen für die Bun-
desliga. Dem Spartensender des amerika-
nischen Discovery-Konzerns dürfte die
Refinanzierung des Rechtepreises mit der
Zahl der Abonnements für sein Bezahlan-
gebot im Internet schwergefallen sein, ver-
muten Fachleute. So verkaufte Eurosport
im Juli die Live-Rechte für die beiden ver-
bleibenden Spielzeiten per Sublizenz an
den Streamingdienst Dazn. Es ist kaum
vorstellbar, dass Discovery zur bevorste-
henden Auktion wieder ambitioniert um
Live-Pakete mitbieten wird.
Die Hoffnung auf Seiten der Fußball-
branche, dass sich dafür Dazn als neuer
aggressiver Investor zeigt, der für weitere
Marktanteile hohe strategische Preise
zahlt, muss sich nicht erfüllen. Hinter
dem britischen Streamingdienst steht der

Multimilliardär Leonard Blavatnik. Dazn
hat zwar in allerlei Rechte investiert und
sich schon den Ruf als „Netflix des
Sports“ erworben, doch dürfte die Start-
up-Unternehmung derzeit hoch defizitär
sein. Zahlen werden nicht genannt. Was
kann Dazn also überhaupt in einer Aukti-
on noch mehr draufpacken? „Wir haben
großes Interesse an der Bundesliga. Aber
wir werden nicht jeden Preis bieten“, sag-
te Deutschland-Geschäftsführer Thomas
de Buhr von Dazn im Juli der F.A.Z. Zu-
dem zeigt sich eine gewisse Nähe zwi-
schen den Konkurrenten Sky und Dazn,
die vielleicht erkannt haben, dass zu viel
Konkurrenz einen zu hohen Preis hat.
Schon in der Champions League teilen
sich beide Anbieter derzeit die Live-Rech-
te für den deutschen Markt auf. Derzeit
prüft das Bundeskartellamt in einem Ver-
fahren, ob alles sauber ablief und die Ko-
operation kartellrechtskonform ist. Ge-
schädigter würde der europäische Fuß-
ballverband sein, der aufgrund möglicher
verbotener Absprachen zwischen beiden
Unternehmen zu wenig für die Live-Rech-

te erhalten haben könnte. Weder die Wett-
bewerbsbehörde noch Sky und Dazn wol-
len sich zum Verfahren äußern.
Wie gut beide Medienunternehmen zu-
sammenwirken, zeigt sich aktuell beim
Thema Sport-Kneipen. So werden die
jetzt vom Streamingdienst übertragenen
Bundesligapartien auch in Gastronomie-
betrieben mit Sky-Abonnement zu sehen
sein. Die Übereinkunft ist pünktlich zum
Saisonstart bekanntgegeben worden.
Um hohe Preise zu erzielen, müsste die
Liga an vielen unabhängigen Bietern in-
teressiert sein. Zudem stellt sich die Fra-
ge, ob die Erlaubnis von Sublizenzen zwi-
schen Unternehmen während Vertragspe-
rioden nicht schädlich für den freien Wett-
bewerb ist. Die DFL verweist auf vertragli-
che Abmachungen. Die italienische Kar-
tellbehörde sieht das offenbar rigider und
hat im Fußball schon hohe Geldbußen für
Medienunternehmen verhängt.
Derweil schauen Ligamanager irritiert
auf den Platzhirsch Sky, der aktuell gewal-
tig abspeckt und umstrukturiert wird. Im
vergangenen Jahr wurde der Pay-Sender

vom amerikanischen Kabelnetzbetreiber
Comcast übernommen. Wie stark und risi-
kofreudig Comcast nun in die Bundesliga
investieren will, ist unklar. Konstante Ge-
winne konnte Sky Deutschland mit sei-
nen Bundesliga-Abonnements nie erwirt-
schaften. Dies dürfte auch Interessenten
wie die Deutsche Telekom oder Vodafone
mit Unitymedia von einem Bieterfeuer-
werk abhalten. Selbst die amerikanischen
Internetkonzerne investieren bisher nur
gezielt in kleinere Sportrechtepakete.
Dass in der überstrahlenden engli-
schen Premier League Rekordergebnisse
inzwischen ausbleiben, mag der Bundesli-
ga ebenfalls Hinweise geben. Doch sind
die Sphären ganz andere. Auf dem heimi-
schen britischen Medienmarkt erzielen
die englischen Topklubs in den nächsten
drei Jahren jede Saison umgerechnet 1,9
Milliarden Euro. Zuvor waren es 100 Mil-
lionen mehr. Die dafür weiter steigenden
internationalen Medienverträge spielen
jede Spielzeit noch mal 1,6 Millionen
Euro ein.Die Bundesligasteht im Aus-
land derzeit auf 242 Millionen Euro.

Gnadenloser Fußball


Von Michael Ashelm


Platzhirsch:Sky ist der wichtigste Medienpartner der Bundesliga. Doch was passiert in den nächsten Monaten? Foto pixathlon


Mobiles Hickhack


Von Timo Kotowski


M

ünchen hat ein eklatantes Defi-
zit, wenn es um die Darstellung
als Stadt der Start-ups geht. Da lässt
man sich die Schau von Berlin stehlen.
Die Hauptstadt der Republik versteht
es brillant, sich als Zentrum der Werk-
stattbuden zu inszenieren. Dabei muss
sich die bayerische Landeshauptstadt
wahrlich nicht verstecken. Das Ökosys-
tem für den Aufbau von Hightech-Un-
ternehmen ist schon seit Jahren gereift,
ohne dass dies in der Republik aufgefal-
len sein mag. Es ist sogar noch ausge-
reifter als an anderen Plätzen des Lan-
des. An der TU München haben schon
lange Studenten in Hinterzimmern
während des Studiums Geschäftsmodel-
le ausgebrütet und sind zu internationa-
len Aushängeschildern des Erfinder-
geistes in Deutschland geworden. Nav-
vis, ein Anbieter von 3D-Navigations-
systemen in Gebäuden, oder Konux,
ein Entwickler von intelligenten Senso-
ren, oder Kinexon, das auf Echtzeit-
übertragung und Visualisierung von
Sportdaten spezialisiert ist, sind einige
Beispiele. Es gibt ein ausgefeiltes Netz-
werk von Fördersystemen wie das „Un-
ternehmerTUM“, unterstützt von der
Universität und BMW-Erbin Susanne
Klatten. Schon gar nicht muss sich Mün-
chen verstecken, wenn man auf die Stu-
denten blickt, die mit ihrem Hyperloop
jedes Jahr Erfolge erzielen. Die rufen
geradezu nach einem Start-up. Schließ-
lich hat sich auch Bayerns Ministerprä-
sident Markus Söder der Sache prestige-
trächtig angenommen.

LONDON, 16. August


Z


wei junge Väter entdecken im Re-
staurant Brötchen mit dem neuen
Philadelphia-Frischkäse. Sie sind
so hingerissen und abgelenkt, dass sie
übersehen, wie versehentlich ihre Babys
auf dem Schnittchen-Fließband wegfah-
ren. Eigentlich ein harmloser Werbespot
des Philadelphia-Produzenten Mondelez,
möchte man meinen. Doch die britische
Werbeaufsicht ASA kannte keinen Spaß.
Der Spot enthalte „schädliche Gender-
Stereotypen“, daher müsse er verboten
werden, so die Advertising Standards Au-
thority. Auch ein zweiter Werbefilm, die-
ser von Volkswagen, darf laut ASA-Ver-
dikt nicht mehr im Fernsehen gezeigt wer-
den. Der VW-Film zeigt zum Spruch „Wir
können alles erreichen“ verschiedene kur-
ze Szenen: Bergsteiger in einem Zelt, As-
tronauten, einen Sportler mit Beinprothe-
se und schließlich eine junge Mutter ne-
ben ihrem Kinderwagen, an der ein Elek-
tro-Golf vorbeifährt. Auch das erscheint
alles harmlos – in den Augen der ASA je-
doch gefährlich.
Die Entscheidung zum „Verbot“ der bei-
den Spots wegen „schädlicher Gender-Ste-
reotypen“ hat in Großbritannien eine De-
batte ausgelöst, was Werbung eigentlich
noch darf und welche Einschränkungen


es geben soll. Gegen den Mondelez-Spot
gab es einige Zuschauerbeschwerden,
weil er Männer als „unfähig“ in der Kin-
dererziehung darstelle. Am VW-Spot
wird bemängelt, dass er die Männer bei
abenteuerlichen Aktivitäten zeigt, wäh-
rend die junge Frau nur sitzt und auf ihr
Kind im Wagen schaut. Werbung, die Rol-
lenbilder stereotyp fortschreibe, verursa-
che „echten Schaden in der Welt“, sagte
Jess Tye, die „Untersuchungsmanagerin“
der ASA. In einem Bericht hat die ASA
von einem dreistelligen Milliardenscha-
den geschrieben, der durch Stereotypisie-
rung entstehe, weil dadurch die Gender-
Pay-Gap aufrechterhalten werde.
Die ASA hat mit dem Bann gegen die
beiden Spots erstmals seit Juni geltende
Regeln angewandt, die schädliche Gender-
Stereotypen unterbinden sollen. In der
Werbebranche stieß die Entscheidung auf
Unverständnis: Der Verband ISBA sprach
von einem „beunruhigenden“ Präzedenz-
fall. „Nach unserer Ansicht überschreiten
die zwei Entscheidungen die Intention der
neuen Regeln“, dies schaffe Verunsiche-
rung, kritisierte ISBA-Direktor Phil Smith,
dessen Vereinigung für 3000 Werbeunter-
nehmen im Königreich spricht. Der Ver-
band der Werbepraktiker IPA kritisierte,
die Verbote seien „überraschend“ und sie
schadeten mehr als sie hülfen. Letztlich

werde die Kreativität der Werber einge-
schränkt und es würden neue Stereotypen
geschaffen. Nur diesmal eben politisch kor-
rekte, könnte man hinzufügen.
Dass ausgerechnet in Großbritannien,
dem Land mit der langen Tradition der
Redefreiheit – man denke an Speakers
Corner im Hyde Park –, nun relativ harm-
lose Werbefilme „verboten“ werden, mag
manche überraschen. Schon seit länge-

rem ist jedoch der öffentliche Diskurs ge-
radezu besessen davon, „diskriminieren-
de“ Ausdrucks- und Denkweisen zu be-
kämpfen. Traditionelle Rollenbilder sol-
len aufgebrochen werden. Gegen das
ASA-Verbot gab es nur vereinzelt grund-
sätzliche Einwände, dass die Rede- oder
Kunstfreiheit tangiert sei.
Der Ökonom Lan Shackleton, Profes-
sor an der Universität von Buckingham,

kritisierte in einem Artikel, den das
liberale Institute of Econmic Affairs ver-
breitete, dass die ASA-Werbeaufsicht
nicht zugebe, dass ihr Vorgehen die
Meinungsfreiheit beschneide. Die ASA-
Behauptung, durch Genderstereotypen
entstehe jährlich ein volkswirtschaftli-
cher 150-Milliarden-Pfund-Schaden, ste-
he auf äußerst wackeligen Annahmen.
Shackleton erinnerte daran, dass die
ASA keine staatliche „Authority“, son-
dern eine brancheninterne Stelle der
Selbstregulierung sei (also ähnlich wie
der Werberat in Deutschland). Die ASA
habe zwar keine gesetzliche Macht, doch
der Druck, der von ihren Verdikten aus-
gehe, sei beträchtlich, so Shackleton. „In
diesem Meinungsklima ist es sehr schwer
für einzelne Unternehmen, sich gegen
die Zensur der institutionellen Wokes zu
stellen“, schließt er. Als „woke“ werden
im angelsächsischen Raum politisch
hochkorrekte Zeitgeistansichten bezeich-
net.
Auch in Deutschland wird der Werbe-
rat immer häufiger gegen Werbung tätig,
die aus Sicht von Beschwerdeführern Ge-
schlechter- und andere Diskriminierung
transportiert. In fünf Fällen sprach der
Werberat im ersten Halbjahr Rügen aus.
Anders als in Großbritannien operiert er
aber nicht mit dem Wort „Verbot“.

Hyper, Hyper


Von Rüdiger Köhn


Die Bundesliga gerät im TV-Poker unter Druck


Wenn der Elektroroller nicht mehr weiterwill


Warum die Anbieter von E-Scooter-Verleihsystemen viel Wert auf Wartung legen müssen / Von Martin Gropp


Wie politisch korrekt muss Werbung sein?


Das Verbot zweier Spots in Großbritannien wegen „Gender-Stereotypen“ hat eine Debatte ausgelöst / Von Philip Plickert


In der neuen Saison


spielendie Profis auch


für frische Fernseh-


milliarden. Doch der


Bieterwettbewerb der


Sender weckt Zweifel.


Von Michael Ashelm


Geht doch:VW-Messestand 1970 in London Foto Interfoto

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