Handelsblatt - 16.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Heike Anger, Martin Greive,
Gregor Waschinski Berlin

F


ranziska Giffey war die
große Hoffnungsträgerin.
Manch ein potenzieller
Partner, der mit ihr für
den SPD-Parteivorsitz hät-
te kandidieren können, geriet regel-
recht ins Schwärmen. „Franziska wä-
re als Parteivorsitzende absolut geeig-
net. Denn sie kann beides: Politik bei
den Leuten verkaufen, aber auch die
große politische Bühne“, sagte ein
führender Sozialdemokrat.
Doch jetzt hat die Bundesfamilien-
ministerin sich selbst aus dem Ren-
nen um den SPD-Parteivorsitz ge-
nommen. Sie wolle „nicht zulassen,
dass das derzeit anhängige Verfahren
zur Überprüfung meiner Doktorar-
beit, auf das ich keinen Einfluss habe,
den Prozess der personellen Neuauf-
stellung der SPD überschattet oder
gar belastet“, schrieb Giffey in einem
Brief an die Parteispitze. Sollte ihr
der Doktortitel entzogen werden,
wolle sie auch ihr Amt als Bundesfa-
milienministerin niederlegen.
Die SPD hat damit ein großes Pro-
blem mehr. Schon bis jetzt lief das
Auswahlverfahren für die neue Par-
teispitze alles andere als geplant.
„Der Prozess ist verkorkst“, sagte ein
Spitzengenosse. Weder kandidiert je-
mand aus der ersten Reihe, noch fin-
det sich ein junger Hoffnungsträger
im Bewerberfeld. Dann wurde am
Mittwoch die Kandidatur von Gesine
Schwan und Ralf Stegner bekannt,
die in der Partei entweder Kopfschüt-
teln oder Spott auslöste. Und jetzt
noch die Absage Giffeys.
Diese ist vor allem deshalb so heikel,
weil sich fast alle möglichen Team-
Konstellationen für den Parteivorsitz
von der Bereitschaft der Spitzenpoliti-
kerinnen ableiten. Weil das bisherige
Kandidatenfeld nicht überzeugend ist,
wird nach Handelsblatt-Informationen

in der SPD neu gedacht. Auch Kandi-
daten, die abgesagt haben, sollten
noch einmal in sich gehen, lautet die
Ansage. Somit müssen auch Mecklen-
burg-Vorpommerns Ministerpräsiden-
tin Manuela Schwesig und Vizekanzler
Olaf Scholz überlegen, ob sie nicht
kandidieren wollen. „Die erste Reihe
muss jetzt springen. In den nächsten
Tagen muss eine Entscheidung her,
sonst stehen wir ganz blöd da“, sagte
ein Spitzengenosse.
Anfang der Woche besuchten Hu-
bertus Heil und Malu Dreyer das
Stammwerk von BASF in Ludwigsha-
fen. Die beiden könnten ein harmoni-
sches Spitzenduo der SPD abgeben,
wenn sie denn antreten würden. Mi-
nisterpräsidentin Dreyer trägt einen
Hosenanzug in knalligem Orange,
Bundesarbeitsminister Heil ist kra-
wattenlos unterwegs. Auszubildende
zeigen, wie sie mit einer Virtual-Reali-
ty-Brille die Bedienung von Fabrikan-
lagen üben. Auch Heil und Dreyer
setzen Computerbrillen auf. Ein biss-
chen virtuelle Realität, um der unge-
mütlichen Wirklichkeit zu entfliehen.
Als BASF-Chef Martin Brudermül-
ler erzählt, sein Unternehmen mit
seiner 150-jährige Geschichte habe
schon „drei Leben“ hinter sich, ruft
Heil dazwischen: „Das haben Sie üb-
rigens mit der SPD gemeinsam.“ Bru-
dermüller antwortet: „Ich wünsche
Ihnen auch noch einige Leben.“ Es
klingt nicht unbedingt so, als sei der
BASF-Chef davon überzeugt.
Er hat auch wenig Anlass dazu. Die
Suche nach passenden Kandidaten-
Teams für den Parteivorsitz erinnere
an das Dasein eines Informatik-Stu-
denten, sagte ein SPD-Politiker. In
dessen Hörsaal gebe es für gewöhn-
lich auch einen hohen Männerüber-
schuss. Weswegen die wenigen weib-
lichen Studenten entscheiden, wen
sie daten. Ähnlich ist es in der SPD:
Ein Mann, der ernsthafte Chancen
auf den Parteivorsitz haben will,

muss im Team antreten, mit der rich-
tigen Frau an seiner Seite. Nur müs-
sen die wenigen Frauen, die infrage
kommen, eben auch wollen.
Niedersachsens Ministerpräsident
Stephan Weil etwa soll sich vor eini-
gen Tagen einen Korb bei Giffey ein-
geholt haben. Woraufhin Weil, für
viele in der SPD eigentlich Favorit auf
den Parteivorsitz, mit verquasten Sät-
zen seine Nicht-Kandidatur zu erklä-
ren versuchte. „Ich gehe davon aus,
dass ich nicht kandidieren werde.“
Die Wahrscheinlichkeit für eine Kan-
didatur bewege sich allerhöchstens
in einer „theoretisch denkbar gerin-
gen Prozenthöhe“. Manche in der
SPD halten es nach diesen Sätzen für
besser, Weil tritt wirklich nicht an.
Neben Weil buhlten auch andere
Kandidaten um Giffey. Nachdem die-
se nun aber raus ist aus dem Bewer-
berfeld, stellt sich die große Frage:
Welche Frau könnte dann antreten?
Malu Dreyer wäre für viele die Opti-
mallösung, ist gesundheitlich aber zu
angeschlagen. Schwesig hat zur Ver-
blüffung aller noch in der Pressekon-
ferenz, in der die kommissarische
SPD-Spitze das Verfahren für die Vor-
sitzendenwahl vorstellte, abgesagt.
Bleibt Europa-Spitzenkandidatin Ka-
tarina Barley. Doch die müsste einen
Spagat hinlegen zwischen ihrem Abge-
ordnetenmandat in Straßburg und
dem Parteivorsitz, der viel Präsens in
Berlin erfordert. Selbst in einem Füh-
rungsduo wäre das ein Kraftakt und
birgt die Gefahr, dass die Partei zu
kurz kommt. Manche Genossen hof-
fen auf eine Bewerberin, die noch nie-
mand auf dem Zettel hat. Eine, die
zwar nicht wahnsinnig bekannt sei,
aber die in einem Team einen eigenen
Charme entwickeln kann. Kurzfristig
waberte in der SPD das Gerücht he-
rum, Generalsekretär Lars Klingbeil
würde mit Jutta Almendinger, der Prä-
sidentin des Wissenschaftszentrums
Berlin für Sozialforschung, antreten.

Das dementierten beide aber umge-
hend. Flensburgs Oberbürgermeiste-
rin Simone Lange unternimmt einen
zweiten Anlauf auf das Spitzenamt, er-
füllt aber nicht das Kriterium der ers-
ten Reihe. Genau aus diesem Mangel
an geeigneten Bewerbern sollen alle
nachdenken, ob sie nicht doch kandi-
dieren wollen. Auch jene, die eine
Kandidatur bereits definitiv ausge-
schlossen haben. „Wir geben kein gu-
tes Bild ab. Das müssen wir dringend
ändern“, sagt ein Spitzengenosse.
Heil zeigte sich auf seiner Sommer-
reise zuversichtlich, dass es bis Ende
der Bewerbungsfrist am 1. September
weitere Kandidaten geben werde. „Es
ist nach wie vor eine große Ehre,
SPD-Vorsitzender zu sein.“ Doch auch
der Arbeitsminister greift selbst nicht
nach der Macht. „Ich strebe es nicht
an“, sagte er. Dafür habe er eine
„Vorstellung“, wer die Aufgabe ma-
chen könne. Welches Spitzenduo
ihm vorschwebt, verrät Heil nicht. Es
sollte aber aus der ersten Reihe kom-
men, also aus dem Kreis der Minis-
terpräsidenten, Kabinettsmitglieder,
Parteivizes oder Generalsekretäre.
Doch auch wenn sich noch ein Duo
aus der erste Reihe zusammenfindet,
graut es einigen Genossen schon vor
der zweiten Phase des Auswahlverfah-
rens. 23 Regionalkonferenzen sind bis
zum Mitgliederentscheid über den
Parteivorsitz angesetzt, in denen die
Kandidaten um die Gunst der Mitglie-
der werben. Einige Sozialdemokraten
fürchten, die Partei könne sich auf die-
sen vielen Veranstaltungen zerflei-
schen. „Das Verfahren ist, wie es ist“,
sagte Heil. Es könne aber ein „gutes
Verfahren sein“. Ihm ist vor allem
wichtig, „dass die SPD nicht den Ein-
druck erweckt, dass sie sich die ganze
Zeit nur mit sich selbst beschäftigt“.
Doch dafür ist es auch aus Sicht etli-
cher Genossen inzwischen zu spät.

> Kommentar Seite 16

SPD-Parteivorsitz


Damen-Qual


Wer die SPD künftig führt, entscheiden vor allem die Spitzenfrauen. Doch


die können oder wollen nicht. Auch Franziska Giffey sagt nun ab.


Manuela Schwesig: SPD-Interimschefin seit
dem Rücktritt von Andrea Nahles.

imago stock&people

(2), dts Nachrichtenagentur

Die


Wahrschein-


lichkeit einer


Kandidatur


bewegt sich in


theoretisch


geringer


Prozenthöhe.


Stephan Weil
SPD-Ministerpräsident

Gesine Schwan: Viel Spott für Kandidatur mit
Ralf Stegner.

Simone Lange: Die Flensburger OB kandidiert mit
ihrem Bautzener Amtskollegen Alexander Ahrens.

dpa

Familienministerin
Giffey: Sie will nicht
SPD-Chefin werden.

Wirtschaft & Politik
WOCHENENDE 16./17./18. AUGUST 2019, NR. 157
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