Handelsblatt - 16.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Till Hoppe Brüssel

S


elten hat eine Politikerin
derart ansatzlos eine politi-
sche Lebenswelt durch eine
völlig andere getauscht wie
Ursula von der Leyen. Als
die einstige Verteidigungsministerin
am Donnerstagabend von der Bundes-
wehr mit einem Großen Zapfenstreich
aus ihrem alten Berliner Leben verab-
schiedet wird, ist ihr neues bereits an-
wesend: Die angehende EU-Kommissi-
onspräsidentin hat eine Handvoll ih-
rer Mitarbeiter aus Brüssel eingeladen
zur feierlichen Zeremonie. Als Zei-
chen der Dankbarkeit.
Das kleine Übergangsteam aus
Kommissionsmitarbeitern und zwei
Berliner Vertrauten hatte ihr in jenen
13 Tagen im Juli zur Seite gestanden,
die von der Leyen blieben, um nach
ihrer Nominierung durch die Staats-
und Regierungschefs auch eine Mehr-
heit der Europaabgeordneten hinter
sich zu versammeln. Was schließlich –
knapp – gelang.
Seither sind die künftige Kommissi-
onschefin und ihr Team damit be-
schäftigt, die Arbeitsabläufe in der Be-
hörde mit ihren rund 32 000 Mitarbei-
tern zu überprüfen, Organigramme zu
zeichnen, und die Kandidaten für die
künftig noch 26 Kommissarsposten
kennen zu lernen, die von den Haupt-
städten entsandt werden. Die aus-
trittswilligen Briten wollen keinen Ver-
treter mehr schicken.
Etliche Anwärter hat von der Leyen
schon empfangen, darunter den bis-
herigen ungarischen Justizminister
László Trócsányi, den früheren polni-
schen Kabinettschef Krzysztof
Szczerski und die ehemalige finnische
Finanzministerin Jutta Urpilainen.
Kommende Woche setzt sie das
Speed-Dating fort: Die Treffen dauern
nicht länger als 15 bis 20 Minuten, in
denen mancher Bewerber über seine
inhaltlichen Vorstellungen spricht, an-
dere auf die politischen Leitlinien re-

flektieren, die von der Leyen präsen-
tiert hat.
Die neue Kommissionschefin ver-
schafft sich damit einen ersten Ein-
druck – die offiziellen Jobgespräche
folgen erst später. Sie kann zugleich
erste diskrete Signale an die Regierun-
gen senden, ob sie einverstanden ist
mit dem jeweiligen Personalvorschlag.
Amtsinhaber Jean-Claude Juncker hat-
te 2014 sechs der Nominierten dan-
kend abgelehnt, wie er vor einigen
Monaten verriet. So dürfte von der
Leyen darauf drängen, dass die Staa-
ten noch mehr Frauen nominieren,
schließlich pocht sie auf Geschlechter-
parität in der neuen Kommission. Die
Zahl steht derzeit bei neun, die Präsi-
dentin mitgezählt.
Momentan ist aber noch vieles im
Fluss. Einige Staaten haben wie Frank-
reich, Belgien oder Italien noch nie-

manden benannt. Solange sie nicht al-
le Namen beisammen hat, kann von
der Leyen auch die Aufgabenbereiche
nicht fest verteilen. Man sei noch „im
Prozess“, sagt ihr Sprecher, und täg-
lich im Kontakt mit den Regierungen.
Bis zum 26. August haben diese
Zeit, sich festzulegen. Angesichts der
Regierungskrise in Rom könnte die
Frist besonders für Italien eng wer-
den. Immerhin kann von der Leyen
hoffen, dass die Regierung einen
Technokraten schickt, der dem Euro-
paparlament leichter vermittelbar wä-
re als ein Vertreter der nationalisti-
schen Lega von Matteo Salvini.
Die Abgeordneten werden voraus-
sichtlich ab dem 23. September die
Kommissarsanwärter anhören und ei-
nen Monat später über das gesamte
Kollegium abstimmen. Sie haben be-
reits angekündigt, nicht alle Vorschlä-

ge von der Leyens zu akzeptieren. Als
Wackelkandidat gilt etwa der Pole
Szczerski von der nationalkonservati-
ven Regierungspartei PiS, die bislang
von den proeuropäischen Fraktionen
ausgegrenzt wurde.
Für von der Leyen und ihre Mitar-
beiter ist das Ganze wie ein großes
Puzzle. Sie müssen auch das Qualifika-
tionsprofil der angehenden Kommis-
sare und die zu verteilenden Kompe-
tenzbereiche übereinanderlegen.
Frankreich etwa hat sowohl Interesse
an ökonomischen Themen wie Han-
del oder Industrie angemeldet als
auch am Klimaschutz. Seinen Perso-
nalvorschlag dürfte Paris entspre-
chend abstimmen: Für ein Wirt-
schaftsressort wird etwa Verteidi-
gungsministerin Florence Parly
gehandelt, für Klima unter anderem
die Staatssekretärin im Umweltminis-
terium, Brune Poirson.
Es zeichnet sich aber bereits ab,
dass von der Leyen mehrere Vizeprä-
sidenten installieren wird, wie ihr Vor-
gänger Juncker. Diese bündeln die Ar-
beit der Fachkommissare und Gene-
raldirektionen um die Großthemen,
die von der Leyen in ihrem Arbeits-
programm aufgelistet hat – vom Kli-
maschutz über Digitalisierung bis zur
Rechtsstaatlichkeit.
Als Vizepräsident bereits gesetzt ist
der Frans Timmermans: Der Spitzen-
kandidat der Sozialdemokraten bei
der Europawahl dürfte erster Stellver-
treter der Präsidentin werden und
könnte sich daher womöglich auch
um deren Top-Priorität Klima küm-
mern. Auch die bisherige Wettbe-
werbskommissarin Margrethe Vesta-
ger bekommt eine herausgehobene
Stellung, sie dürfte ein bedeutendes
Wirtschaftsportfolio koordinieren. Gu-
te Aussichten auf einen Stellvertreter-
posten hat daneben der Slowake Ma-
ros Sefcovic als wichtigster Vertreter
der vier Visegrad-Staaten.

Ursula von der Leyen


Speed-Dating in


Brüssel


Die neue Kommissionspräsidentin stellt ihre Mannschaft


zusammen – nicht alle Anwärter kommen durch.


Ursula von
der Leyen: Die
Neue hat viele
begehrte Posten
zu verteilen.

ddp images/Insidefoto [M]

Wenn die


Staaten nicht


genügend


Frauen


vorschlagen,


werde ich


weitere Namen


erbeten.


Ursula von der Leyen
angehende
Kommissionschefin

Josep Borrell: Der Spanier ist neu-
er EU-Außenbeauftragter.

adipisici

Jutta Urpilainen: Die Sozialdemo-
kratin war bis 2014 finnische Fi-
nanzministerin.

imago/ZUMA Press

Margrethe Vestager: Die Dänin
wird mächtige Vizepräsidentin.

Bloomberg

Krzysztof Szczerski: Der PiS-Politi-
ker wurde 2017 Chef des polni-
schen Kabinetts.

imago/ZUMA Press

Wirtschaft & Politik
WOCHENENDE 16./17./18. AUGUST 2019, NR. 157
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