Handelsblatt - 16.08.2019

(nextflipdebug2) #1
„Wir konzentrieren uns darauf, dass wir
Regierungsverantwortung übernehmen,
und zwar ohne links und ohne rechts.“
Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Parteivorsitzende,
angesichts der anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg und
Sachsen und wahrscheinlich daraus resultierenden schwierigen
Mehrheitsverhältnisse

Worte des Tages


SPD


Partei der


Kleinmütigen


O


laf Scholz will nicht. Manue-
la Schwesig will nicht.
Thorsten Schäfer-Gümbel
will nicht. Franziska Giffey kann
nicht. Und Stephan Weil weiß nicht,
ob er können wollen sollte.
Eigentlich sollte die Kandidaten-
suche der SPD nach einer neuen
Parteispitze zu einem Befreiungs-
schlag werden. Über den Sommer
sollten sich Teams in Stellung brin-
gen, die dann in Regionalkonferen-
zen gegeneinander antreten, um am
Ende höchst basisdemokratisch von
den SPD-Mitgliedern gewählt zu
werden. Nach diesem Auswahlpro-
zess – ähnlich den amerikanischen
Primaries – säßen die neuen Vorsit-
zenden fester im Sattel als Andrea
Nahles zuvor. So weit die Theorie.
In der Praxis gerät der quälend
lange Auswahlprozess immer mehr
zur Belastung und verdeutlicht auf
beängstigende Weise die Selbstver-
zwergung der SPD. Während in der
Union nach dem Rückzug Angela
Merkels direkt drei Alphatiere ihre
Kandidatur erklärten, haben sich in
der SPD auch sechs Wochen nach
Öffnung der Bewerbungsfrist aus-
schließlich Bewerber gemeldet, die
entweder keiner kennt oder die in
der eigenen Partei mit Spott über-
gossen werden, was auch viel über
den Zustand der SPD aussagt.
Auch wenn sich in den nächsten
zwei Wochen noch ein „Frontrun-
ner-Team“ melden wird – der Ein-
druck, die SPD-Spitze habe Angst
vor Verantwortung, Angst vor der
eigenen Partei, Angst davor, sich
wie Andrea Nahles in kürzester Zeit
die eigene politische Karriere zu
ruinieren, hat sich längst festge-
setzt. Und das zwei Wochen vor
den Wahlen in Ostdeutschland,
durch die die SPD noch tiefer in die
Existenzkrise rutschen wird.
Und die zweite Phase des Aus-
wahlprozesses verspricht kaum bes-
ser zu werden. Natürlich muss die
Basis die Chance haben, die Kandi-
daten zu sehen, wenn sie schon die
neue Parteispitze wählt. Aber 23
Regionalkonferenzen sind kein
„Festival der Demokratie“, sondern
Selbstbespiegelung-Events in Dauer-
schleife. Und wozu gibt es eigent-
lich dieses Internet? Weniger wäre
in diesem Fall mehr gewesen.


Das Auswahlverfahren der SPD zur
Wahl ihrer neuen Vorsitzenden legt
die ganze Führungsschwäche der
Partei offen, findet Martin Greive.


Der Autor ist Korrespondent im
Hauptstadtbüro.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]


D


ie deutsche Wirtschaft rutscht gerade
in eine veritable Wachstumsschwäche
ab. Ende dieses Jahres dürfte die Wirt-
schaftsleistung kaum höher ausfallen
als im vergangenen Sommer – sechs
verlorene Quartale! Zwar dürfte die Industrie diese
Schwächephase irgendwann überwinden, doch ihre
besten Jahre sind dauerhaft vorbei. Schon bald wer-
den Wirtschaftshistoriker die Zeit von 1990 bis 2018
als Deutschlands goldene Jahre und 2019 als Beginn
einer post-globalisierten Welt bezeichnen.
Am Anfang dieser fast drei Dekaden standen die
deutsche Einheit und der Kollaps des Ostblocks, der
der deutschen Wirtschaft neue Absatzmärkte und
ein Niedriglohngebiet vor der Haustür bescherte.
Gleichzeitig begannen die großen Schwellenländer,
ihre Volkswirtschaften zu öffnen und zu modernisie-
ren. Dies führte zu einem kräftigen globalen Wachs-
tum und einer bislang nicht gekannten Entgrenzung
der Wertschöpfungsketten, wovon das exportstarke
Deutschland besonders profitierte.
Deutschlands Geschäftsmodell ist freilich kein am
Reißbrett ersonnenes Konzept. Vielmehr haben sich
der hohe Industrieanteil und die damit verbundene
Exportorientierung in den vergangenen 150 Jahren
urwüchsig entwickelt. Dieses Geschäftsmodell wur-
de von Politik, Wirtschaft und den großen Gewerk-
schaften stets unterstützt. Auch die Agenda 2010 war
eine Reaktion darauf, dass die deutsche Industrie
wegen hoher Lohnstückkosten unter Druck stand.
Selbst die Rezession im Winter 2008/9 konnte die
Erfolgsstory nicht stoppen. Dank der schnellen und
kräftigen Erholung war der äußerst kräftige Produk-
tionsausfall zwei Jahre später aufgeholt. Dieser Auf-
schwung hielt faktisch bis zum Sommer 2018 an.
Hauptgrund für die seitdem getrübten Perspektiven
ist neben den wirtschaftspolitischen Versäumnissen
der letzten Jahre die sich abzeichnende Deglobalisie-
rung. US-Präsident Donald Trump stellt mit seinem
America-first-Kurs nicht nur den Freihandel infrage,
sondern hat auch China den Wirtschaftskrieg erklärt.
Er befürchtet, China könnte die USA zunächst als öko-
nomische und perspektivisch auch als militärische He-
gemonialmacht ablösen – und das nicht ohne Grund.
„America first“ heißt nichts anderes als das rücksichts-
lose Voranstellen nationaler Interessen. Es ist damit
auch Trumps aggressive Antwort auf die 1978 von Deng
Xiaoping eingeleiteten Reformen; womöglich wird das
einst bettelarme China bereits ein halbes Jahrhundert
nach Dengs Startschuss zur größten Wirtschaftsmacht
aufgestiegen sein. Das will Trump verhindern.
Manch Historiker fürchtet, dieser Kampf um die
weltwirtschaftliche Vorrangstellung könnte in einem

militärischen Konflikt enden. Oft wird dabei an die
Analyse des Peloponnesischen Krieges zwischen dem
dominierenden Athen und dem aufsteigenden Sparta
im fünften Jahrhundert vor Christus durch den Zeit-
zeugen Thukydides erinnert. Nach dessen Ansicht
war der Krieg angesichts der Sorgen, die Spartas Auf-
holprozess in Athen auslöste, „unausweichlich“.
Nun gibt es zwar historische Fälle, in denen der
Aufstieg einer Nation bei der etablierten Macht zuerst
Ängste und dann Kriege auslöste. Doch scheint ein
Krieg zwischen den USA und China unwahrschein-
lich, weil beide hochgerüsteten Seiten den Angreifer
mit einem Vergeltungsschlag vernichten könnten.
Wirklichen Frieden zwischen den USA und China
wird es aber nicht geben. Selbst wenn die aktuellen
handelspolitischen Verhandlungen in einem Abkom-
men münden, dürfte der Konflikt nach Trumps Wie-
derwahl erneut eskalieren. Dies würde China nur
kurzfristig schädigen – aber dauerhaft stärken. Han-
delsbeschränkungen führen stets zu einem Prozess
der Importsubstitution, der langfristig Unternehmen
des Landes stärker macht. Am Ende dieser Entwick-
lung steht womöglich eine zweigeteilte Globalisie-
rung. Die eine Hälfte der Welt folgt Pekings Spielre-
geln, die andere denen Washingtons.
Deutschland ist in dieser Auseinandersetzung nur
Zuschauer, doch unbeteiligt ist es nicht. Denn ech-
ten Freihandel, von dem die deutsche Industrie so
lange profitiert hat, wird es in dieser neuen bipola-
ren Welt nicht mehr geben. China schafft sich derzeit
entlang der „Neuen Seidenstraße“ günstige Produk-
tionsstandorte und Absatzmärkte, und die USA wer-
den Unternehmen zwingen, wichtige Teile ihrer
Wertschöpfung in die USA zu verlagern.
Nur wenn die Staaten Europas zusammenhalten,
und nur dann, wird der alte Kontinent noch interna-
tionale Spielregeln mitgestalten können.
Schafft Europa die politische Vertiefung und koor-
dinierte Wirtschaftspolitik nicht, droht es in eine
Vielzahl konkurrierender Mittel- und Kleinstaaten zu
zerfallen – „und mit Zwergen geht man nicht immer
freundlich um, sondern man stellt sie in den Gar-
ten“, wie Altkanzler Schröder es jüngst formulierte.
Aber in beiden Fällen wird die deutsche Industrie
ein Verlierer sein. Denn die Zeiten, in denen
Deutschland fast monopolartig die Welt mit hoch-
wertigen Maschinen, Autos und Chemikalien ver-
sorgte, neigen sich mit dem Aufstieg Chinas zur
zweiten Hegemonialmacht so oder so dem Ende zu.

Leitartikel


Das Ende der


goldenen Jahre


Wenn zwei
Giganten streiten,
leidet zumeist ein
Dritter – und das
wird Deutschland
sein, meint
Bert Rürup.

Die Zeiten, in


denen


Deutschland fast


monopolartig


die Welt mit


hochwertigen


Maschinen, Au-


tos und Chemi-


kalien versorgte,


neigen sich dem


Ende zu.


Der Autor ist Chefvolkswirt des Handelsblatts und
Präsident des Research Institute. Sie erreichen ihn
unter: [email protected]

Meinung


& Analyse


WOCHENENDE 16./17./18. AUGUST 2019, NR. 157
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