Handelsblatt - 16.08.2019

(nextflipdebug2) #1
„Die Volksrepublik hat es geschafft,
in nur 17 Jahren nach den USA die Nummer
zwei der internationalen Standorte für
Forschung und Entwicklung in der Chemie
zu werden.“
Thomas Wessel, Vorsitzender des VCI-Ausschusses Forschung,
Wissenschaft und Bildung, über China

Worte des Tages


Argentinien


In der


Schuldenfalle


D


erzeit scheint es gleichgül-
tig, ob Mauricio Macri noch
eine Chance hat, bei den
Wahlen im Oktober als Präsident
wiedergewählt zu werden oder ob
er endgültig aus dem Rennen ist.
Die Gläubiger sollten sich darauf
einstellen, dass Argentinien bald
wieder umschulden muss – oder
dass es im schlimmsten Fall sogar
zu einem Zahlungsausfall kommt.
Das gilt auch für den Fall, dass es
Macri noch gelingt, die 15 Prozent-
punkte Abstand in der Wählergunst
zu den Peronisten zu schließen.
Denn auch mit dem liberalen Macri
an der Macht sind die Chancen ge-
ring, dass Argentinien seine Dollar-
Schulden bezahlen kann. Die Ar-
gentinier müssen heute fast 60 Pro-
zent mehr Peso für einen Dollar
hinlegen, als im Januar – und der
Abwertungsdruck hält an. 80 Pro-
zent von Argentiniens Schuld sind
in Dollar notiert. Mit der ge-
schwächten Währung wird auch die
Inflation rasant zunehmen, die sich
derzeit auf 56 Prozent addiert in
zwölf Monaten. Die Zentralbank hat
den Leitzins auf 76 Prozent hochge-
setzt, um die Geldentwertung ein-
zudämmen. Damit ist auch eine zar-
te Konjunkturbelebung nun höchst
unwahrscheinlich, auf die Macri im-
mer noch gehofft hat. Eine ver-
schärfte Rezession wiederum be-
deutet sinkende Steuereinnahmen
und ein wachsendes Haushalts -
defizit. Dieses Szenario dürfte sich
noch verdüstern, sollten die Pero-
nisten Alberto Fernandez und die
Ex-Präsidentin Cristina Fernández
de Kirchner als Vize ab dem 10. De-
zember wieder regieren. Die Gläu-
biger hielten „Macris Schulden“ für
unbezahlbar, erklärte Fernández
die Panikreaktionen nach seinem
Vorwahltriumph. Es ist unwahr-
scheinlich, dass Fernández viel Ge-
duld oder Interesse besitzt für Ver-
handlungen mit dem IWF, der Ar-
gentinien 57 Milliarden Dollar gelie-
hen hat und der wichtigste Gläubi-
ger ist. Ein schwacher Peso kommt
dem Fernández-Duo gerade recht:
Es erleichtert Argentiniens Exporte
und verschafft der Industrie Markt-
schutz. Dass sich damit schlecht
Kredite zurückzahlen lassen, dürfte
sie wenig stören.


Eine Umschuldung oder ein
Zahlungsausfall ist kaum zu
vermeiden in Argentinien, fürchtet
Alexander Busch.

Der Autor ist Korrespondent in
Argentinien.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]


W


ie steht es um das Gründerland
Deutschland? Zwei Perspektiven,
zwei Antworten. Die erste lautet:
hervorragend. Die Gründerszene
hat Berlin aus der Nachwendede-
pression herausgeholt. Auch in München, Hamburg
und Köln blüht das Gründerleben. Junge Unterneh-
men haben in den vergangenen Monaten mehrfach
dreistellige Millionensummen bei Investoren einge-
sammelt, Gründungen wie Flixbus und Zalando wol-
len Europa, am besten die ganze Welt erreichen.
Die zweite Antwort lautet: miserabel. Die Statisti-
ker verzeichnen seit Jahren sinkende Gründerzah-
len. Nach einer aktuellen Studie der Förderbank
KfW träumen so wenige Menschen in Deutschland
wie noch nie von der Selbstständigkeit.
Wie gehen diese beiden so widersprüchlichen Per-
spektiven zusammen? Tatsächlich sind beide Ergeb-
nis des langjährigen Wirtschaftsaufschwungs, der
seinen Zenit erreicht hat. Denn Gründer ist nicht
gleich Gründer. Daher greifen einfache Antworten,
mit denen Politik, Verbände und Risikokapitalgeber
schnell zur Hand sind, zu kurz.
Klar, in Deutschland ist das Gründen eine kompli-
zierte Sache. Schon die Gewerbeanmeldung macht
wenig Spaß, dazu kommen zahllose Regeln. Berater
und Coaches verdienen gut an Gründern. Doch letzt-
lich hält dieser im Vergleich zur eigentlichen Grün-
dungsarbeit doch recht geringe Aufwand Menschen
mit echtem Unternehmergeist ebenso wenig von ih-
rem Plan ab, wie Wartezeiten auf dem Passamt Men-
schen vom Auslandsurlaub abschrecken. Auch man-
gelnde finanzielle Förderung ist nicht das Kernpro-
blem: Zum einen hat sich das Bild durch diverse
Förderprogramme vom Exist-Gründerstipendium
bis zu den Förderbanken der Länder seit der Jahr-
tausendwende deutlich verbessert. Zum anderen
sollte eine erfolgreiche Geschäftsidee sowieso nicht
von Fördergeld abhängen.
Nein, die deutsche Gründerlandschaft ist zweige-
teilt. Die blühende Start-up-Szene der Metropolen
verdankt ihre Existenz einer renditegetriebenen
Gründerindustrie, die inzwischen ein funktionieren-
des Ökosystem aufgebaut hat. Typische Gründer
sind dabei Absolventen von Gründer-Hochschulen
wie der WHU und die jungen Alumnis der Wirt-
schaftsberatungen. Sie treffen auf ein inzwischen
hochprofessionelles Netz von Anschubinvestoren,
Business-Angels und Risikokapitalgebern. Diese fin-
den auch in Deutschland risikobereite Kapitalanle-
ger, wie etwa zuletzt die 350 Millionen Euro zeigten,
die der Berliner Fonds eVenture vor allem bei Fami-
lienunternehmern eingesammelt hat. Dieser hoch-

professionellen Szene mit Akteuren wie eVenture,
Rocket Internet und anderen gehen die Gründer, die
sie auf Projekte setzen kann, nicht aus. Allerdings ist
es ein spezieller Typus Gründer, der Seriengründer:
Ihm geht es häufig vor allem als eine Art Gründungs-
ingenieur darum, Wert für die Risikokapitalgeber zu
schaffen – und sei es durch einen schnellen Verkauf
des Unternehmens.
Dass dabei oft ausländische Investoren zum Zuge
kommen, wird häufig kritisiert. Dabei zeigt das die
steigende Attraktivität des Investitionsstandorts
Deutschland. Andere Länder würden sich dafür fei-
ern. Doch mit dieser Art Anerkennung tut sich
Deutschland schwer. eVenture-Partner Christian
Miele schlug diese Woche bei Twitter Alarm, erfolg-
reiche Gründer drohten mit der Abwanderung, weil
in Deutschland zu viel reguliert werde. Im Kern geht
es bei der Klage um die kulturelle Frage, wie viel
Wertschätzung Gründern entgegenschlägt: Heißt der
Staat, heißt die Gesellschaft sie willkommen, oder
schlägt den Selbstständigen vor allem Skepsis entge-
gen? Als Spross der Waschmaschinen-Dynastie kennt
Miele Vorbehalte gegen Unternehmer. Leitbild der
Mehrheit der Bevölkerung dürfte heute eher der an-
gestellte Klinikchefarzt sein – nicht aber der unab-
hängige Unternehmer.
Entsprechend bekennen viele Menschen in der
KfW-Studie ihre Gründungsmüdigkeit. Das trifft die
zweite Art der Gründungen, die klassischen Selbst-
ständigen, die sich etwas aufbauen wollen: Hand-
werker, Ladenbetreiber, Gastronomen. Hier schlägt
sich auch die gute Arbeitsmarktlage nieder. Für viele
Menschen ist ein Leben als Angestellter bequemer:
Die Unternehmen umwerben derzeit Mitarbeiter mit
familienfreundlichen Arbeitszeiten und höheren Ge-
hältern. Gründer hingegen arbeiten lang und zahlen
vergleichsweise viel für die Krankenversicherung.
Und der Erfolg ist keineswegs garantiert.
Noch ist der Rückgang der klassischen Gründun-
gen kein Problem – denn im Gegenzug fällt es den
Unternehmen leichter, die dringend benötigten qua-
lifizierten Mitarbeiter zu finden. Im absehbaren Ab-
schwung jedoch fehlen die Impulse, die Gründer ge-
ben. Die von den Risikokapitalgebern befeuerte
Start-up-Szene allein reicht nicht aus. Deutschland
braucht Gründer überall, auch auf dem Land, auch
in grundsoliden Bereichen wie dem klassischen
Handwerk. Die Gründermüdigkeit ist ein Alarmzei-
chen – allerdings kein Grund zur Panik.

Leitartikel


Zweigeteilte


Gründerszene


Einerseits
florieren
Start-ups in den
Metropolen,
andererseits
scheuen die
Deutschen das
Risiko. Wie das
zusammengeht,
erklärt Christoph
Kapalschinski.

Ausländische


Investoren


werden häufig


kritisiert.


Dabei zeigt ihr


Interesse die


steigende


Attraktivität des


Standorts


Deutschland.


Der Autor ist Redakteur im Ressort Unternehmen.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


WOCHENENDE 16./17./18. AUGUST 2019, NR. 157
26

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