Handelsblatt - 16.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Olga Grimm-Weissert Metz, Basel

M


eine Performances began-
nen mit Körperskulpturen.
Alle Ausgangsbewegungen
waren Bewegungen meines
Körpers und seiner Extensionen.“ So er-
klärt Rebecca Horn den Impetus ihres
Schaffens seit den 1970er-Jahren. Bewe-
gung ist seit 50 Jahren ein zentrales The-
ma der heute 75-Jährigen.
Aktuell wird die wichtige deutsche
Künstlerin in zwei ausländischen Museen
grenzüberschreitend gewürdigt. Im pri-
vat finanzierten Tinguely Museum in Ba-
sel ist das Thema „Bewegung“ der rote
Faden durch die Ausstellung. Sie heißt
„Körperphantasien“. Im Kontext von
Jean Tinguelys häufig von Motoren ange-
triebenen Skulpturmaschinen sind Re-
becca Horns Bewegungskörper ideal
platziert. Die Schau im französischen
Metz, im Tochtermuseum des Centre
Pompidou, hingegen rückt die Idee der
Verwandlung in den Mittelpunkt.
Unter dem Titel „Theater der Ver-
wandlungen“ stellt es 170 Werke vor. Ba-
sel wartet etwa mit der Hälfte auf. Den
drei Kuratorinnen, Sandra Beate Rei-
mann in Basel, Emma Lavigne und Ale-
xandra Müller in Metz, gelingt eine über-
zeugende Retrospektive des Werks von
Rebecca Horn.
Noch immer ist das bildstarke, spar-
tenübergreifende Œuvre von Rebecca
Horn nur Insidern bekannt. Für ihre

Brüsseler Galeristin Marie-Laure Fleisch
ist Horns Werk grundlegend für die Ent-
wicklung der zeitgenössischen Kunst:
„Sie schuf Arbeiten, die Performance,
Skulptur und später performative Zeich-
nungen vereinen, wie es keinem anderen
Künstler gelang.“ Der Platz, den der Kör-
per der Künstlerin Rebecca Horn darin in
den verschiedensten Ausdrucksformen
einnimmt, habe absolut innovativen Cha-
rakter. „Ihr Werk ist sowohl sinnlich wie
konzeptuell.“

Grenzwertige Erfahrungen
Die rotblonde, schlanke Frau mit der
überbordenden Fantasie begann mit Ak-
tionskunst und Body Art. Stets faszinierte
sie das Ausloten körperlicher Grenzen
und Erfahrungsräume. Eigenwillig sind
ihre „Körper-Extensionen“. Das können
verlängerte Arme, Finger oder der Kopf
mit einem weißen „Einhorn“ sein. Oder
die phallische, schwarze „Kopf-Extensi-
on“, die den Träger blind und schwindlig
macht, sodass vier Personen ihn an
Schnüren gängeln müssen. Einen creme-
farbigen „Mechanischen Körperfächer“
entfaltet die Künstlerin selbst zu einem
Kreis, wie Schmetterlingsflügel, die sich
fast berühren.
Horn vermittelt Raumgefühl durch
Konstruktionen aus Stoff. Die Zwangs -
jacke summiert dieses traumatische, au-
tobiografische Schlüsselerlebnis. Die

Kunststudentin hatte giftige Gase bei der
Herstellung von Skulpturen eingeatmet,
erkrankte an Tuberkulose und musste
ein Jahr lang in einem Sanatorium in Iso-
lation leben. Die Panik des Gefangen-
seins, das gleichzeitige Sich-befreien-Wol-
len, der Fluchtgedanke, durchziehen
Horns gesamtes Werk.
In ihrem Spielfilm „Busters Bedroom“
sucht eine junge Frau den Stummfilm-
star Buster Keaton in einer amerikani-
schen Irrenanstalt. Horn filmt eine un-
glaubliche Szene: der sadistisch-psychoti-
sche Arzt legt der jungen Frau eine
Zwangsjacke an. Sie befreit sich daraus,
indem sie sich wie ein Kreisel immer
schneller dreht, bis sie die Zwangsjacke
schließlich sprengt. In Metz, wo die
Zwangsjacke schlaff an der Wand hängt,
wird leider nur der Anfang dieser Szene
projiziert.
Auch Horns andere Spielfilme sind be-
törend: „Der Eintänzer“ von 1978 und
„La Ferdinanda. Sonate auf eine Medici-
Villa“ von 1981. Für beide Streifen entwi-
ckelte sie fantastische Objekte und Ma-
schinen, die seither als eigenständige
Kunstwerke existieren.
Die innovative Künstlerin bediente sich
unterschiedlicher Ausdrucksmittel. Sie
schuf Skulpturen, Installationen, Kinetik,
Fotografie, gefilmte Performances und
Aktionen, Videos, Filme, Gedichte, Texte
und Zeichnungen. Letztere waren an-

Zeitgenössische Kunst


Wenn Maschinen malen


Die vielseitige Künstlerin Rebecca Horn hat noch nicht die Aufmerksamkeit,


die sie verdient. Zwei Museen in Frankreich und der Schweiz wollen das ändern.


Rebecca Horns
Malmaschine im
Museum Tinguely:
So fantasievoll wie
die Malautomaten
des Hausherrn.

Museum Tinguely, Basel, VG Bild-Kunst

Kunstmarkt
WOCHENENDE 16./17./18. AUGUST 2019, NR. 157
58

Rebecca Horn:
„Der Sonnenseufzer“ von 2006.

© 2019: Rebecca Horn/ProLitteris, Zürich, VG Bild-Kunst
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