Handelsblatt - 16.08.2019

(nextflipdebug2) #1

zent aller Steuerzahler voll weiterzahlen. Den Soli
auf so eine kleine Gruppe zu beschränken halten
selbst Ökonomen für problematisch, die der Ab-
schaffung des Solis eher skeptisch gegenüberste-
hen. Damit bekomme „die Kiste eine ganz andere
politische Dimension“, twitterte DIW-Steuerexper-
te Stefan Bach. Ein Freibetrag, von dem auch die
Topverdiener profitieren würden, wäre „die saube-
rere Lösung“. In die gleiche Kerbe schlug das Ifo-
Institut in einer Studie. Demnach seien alle andere
Reformoptionen dem Scholz-Modell vorzuziehen,
auch ein Freibetrag.
Genau den schlägt Altmaier vor – als Alternative
zu Scholz‘ Freigrenze. Was sich technisch anhört,
hat höchst unterschiedliche Wirkung. Denn durch
Altmaiers Vorschlag würden alle Steuerzah-
ler entlastet, auch Gutverdiener. Alt-
maier hat dabei vor allem Unter-
nehmer im Blick. 85 Prozent aller
Betriebe in Deutschland sind
Personengesellschaften, die
wie jeder normale Bürger
Einkommensteuer zahlen.
„Eine Vielzahl von Unter-
nehmen und Freiberufler/
innen, die einen großen Bei-
trag zum Wohlstand dieses
Landes leisten, blieben von
der Entlastung ausgeschlos-
sen“, wenn das Gesetz von
Scholz umgesetzt werde, heißt es
in Altmaiers Konzept. Durch seinen
Vorschlag werden alle Steuerzahler ent-
lastet. „Das Abschmelzmodell schafft damit einen
Beitrag, die Steuerbelastung für Unternehmen in
Deutschland im internationalen Vergleich wettbe-
werbsfähiger zu gestalten“, heißt es in dem Papier.
Konkret schlägt der Wirtschaftsminister vor, ab
2021 einen Freibetrag von 16 988 Euro einzuführen.
Der Soli wird als Zuschlag von 5,5 Prozent auf die
Lohn- und Einkommensteuer erhoben. Bisher wird
er ab einer Steuerschuld von 972 Euro fällig. Scholz
will diese Freigrenze auf 16 956 Euro erhöhen – das
entspricht etwa einem Bruttoeinkommen von circa
73 870 Euro. Wer unter der Grenze liegt, zahlt ab
2021 gar keinen Soli mehr. Das sind rund 90 Prozent
der Steuerzahler. So weit sind Altmaiers und Scholz‘
Konzept noch wirkungsgleich. Doch es gibt einen
entscheidenden Unterschied: Den Freibetrag, den
der Wirtschaftsminister vorschlägt, kann jeder gel-
tend machen, auch die Gutverdiener, die mehr als
16 956 Euro Einkommensteuer zahlen müssen.
Somit würden bei Altmaiers Abschmelzmodell
alle profitieren. Für 90 Prozent entfällt der Soli
komplett ab 2021, für die restlichen zehn Prozent
zumindest teilweise. Das erhöht aber auch die Ein-
nahmeausfälle für den Fiskus. Scholz rechnet im
Jahr 2021 mit Kosten von 9,8 Milliarden Euro, sie
steigen bis 2024 auf 12,1 Milliarden Euro. Dafür ist
in der Finanzplanung weitgehend Vorsorge getrof-
fen. Bei Altmaiers Freibetrag kämen auf den Bund
hingegen Einnahmeausfälle von 12,8 Milliarden
Euro im Jahr 2021 zu – also rund drei Milliarden
Euro mehr.
Auch für den weiteren Soli-Abbau nach 2021 wer-
den bei Altmaiers Abschmelzmodell bereits kon-
krete Schritte genannt. In der zweiten Stufe soll der


Freibetrag im Jahr 2024 auf 50 000 Euro steigen.
Zudem sollen Kapitalgesellschaften, die ebenfalls
Soli zahlen müssen, vollständig entlastet werden,
wie es in dem Papier aus dem Wirtschaftsministeri-
um heißt. Insgesamt entspricht diese zweite Stufe
rund 7,7 Milliarden Euro. Davon entfallen zwei Mil-
liarden Euro Entlastung auf die Kapitalgesellschaf-
ten. „Mit der dritten Stufe wird im Jahr 2026 der
Solidaritätszuschlag endgültig für alle vollständig
abgeschafft“, sieht Altmaiers Konzept vor.
Einen Freibetrag sehen auch viele Ökonomen als
bessere Alternative. Denn so wird verhindert, dass
es nach der Freigrenze zu seinem starken Anstieg
der Belastung kommt. Scholz‘ Gesetz sieht zwar ei-
ne Milderungszone vor, in der der Soli schrittweise
ansteigt. Trotzdem fürchten Ökonomen ne-
gative Anreizeffekte. Auch im Papier
vom Wirtschaftsministerium wird
vor dieser „sprunghaft anstei-
genden Grenzbelastung“ ge-
warnt.
Aus Sicht von Kassenhüter
Scholz hat aber auch Alt-
maiers Modell Nachteile, es
ist für ihn teurer. Schon
2021 müsste er drei Milliar-
den Euro auftreiben. Ab
2024 und 2026 wären dann
weitere 12,5 Milliarden Euro
„neue Spielräume für Steuer-
senkungen“ notwendig, wie die
Experten aus dem Wirtschaftsminis-
terium selbst schreiben. Ein Teil, so hof-
fen sie, könnte sich „selbst finanzieren“. Schließ-
lich könnte die Steuersenkung das Wirtschafts-
wachstum stützen.
Trotzdem bliebe eine Lücke. Altmaiers Beamte
machen deshalb auch Vorschläge für eine Gegenfi-
nanzierung. Es seien „die stärkere Priorisierung
von Ausgaben, die kritische Überprüfung von Sub-
ventionen sowie die Reduzierung von Bundesbetei-
ligungen denkbar“, heißt es in dem Papier. Der
Bund hält beispielsweise Anteile an der Telekom,
der Post und der Commerzbank. Was man davon
konkret zum Verkauf stellen könnte, wird in dem
Papier nicht verraten. Genauso wenig wird gesagt,
welche Subventionen denn abgebaut werden sol-
len. Kein Wunder: Solche Maßnahmen sind um-
stritten und politisch schwierig durchsetzbar.
Finanzminister Scholz dürfte über die Vorschlä-
ge zur Gegenfinanzierung deshalb nur müde lä-
cheln. Und trotzdem ist Altmaiers Gegenvorschlag
für ihn ein Problem. Anhaltender Widerstand des
Wirtschaftsministers könnte seinen Plan gefähr-
den, sein Gesetz schon am kommenden Mittwoch
vom Kabinett beschließen zu lassen. Gegen diesen
Zeitplan hatte auch das Haus von Bundesinnenmi-
nister Horst Seehofer (CSU) in einem Brief an das
Finanzministerium Bedenken angemeldet. „Wegen
der Prüfung verfassungsrechtlicher Fragen“ bedür-
fe es „einer angemessenen Frist zur Bearbeitung“,
monierten die Beamten im Innenministerium.
Scholz hält bisher an seinem Zeitplan fest. „Die
erforderliche Ressortabstimmung“, wird hingegen
in Regierungskreisen betont, die weder dem Fi-
nanz- noch dem Wirtschaftsministerium naheste-
he, „ist bislang jedoch noch nicht abgeschlossen“.

Wirtschaftsverbände

Uneinig über die


schwarze Null


D


er Vorstoß des Industrieverbands BDI, den
drohenden Abschwung auch mit neuen
Schulden zu bekämpfen, sorgt für Wider-
spruch von anderen Spitzenverbänden. „Wenn
nach über zehn Jahren die erste wirtschaftliche Ein-
trübung kommt, sollte man nicht aktionistisch alle
Regeln umwerfen, die diese lange Phase wirtschaft-
licher Erholung möglich gemacht haben“, sagte der
Hauptgeschäftsführer der Arbeitgebervereinigung
BDA, Steffen Kampeter, dem Handelsblatt.
„Für die deutsche Wirtschaft steht fest: Die
Schulden von heute sind die Steuern von morgen“,
betonte auch der Hauptgeschäftsführer des Deut-
schen Industrie- und Handelskammertags (DIHK),
Martin Wansleben. Dabei habe Deutschland unter
den Industriestaaten ohnehin bald die höchsten
Unternehmensteuern. „Statt neue Schulden zu ma-
chen, sollten wir deshalb vor allem Investitionen
beschleunigen und unsere haushaltspolitischen
Prioritäten überprüfen“, sagte Wansleben.
BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang will da-
gegen neue Schulden nicht ausschließen: „Im Ge-
gensatz zur Schuldenbremse, die im Grundgesetz
verankert ist, gehört die schwarze Null in einer kon-
junkturell fragilen Lage auf den Prüfstand“, hatte
Lang am Mittwoch in einem Gastkommentar für
das Handelsblatt geschrieben. „So wichtig sie in gu-
ten Zeiten sein mag: Finanzpolitisch muss Deutsch-
land jetzt umschalten.“ Es gehe darum, Anreize für
Klimaschutz, Infrastruktur und Technologieförde-
rung zu setzen. Der EU-Stabilitätspakt lasse durch-
aus mehr Beweglichkeit zu.
Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Bundes-
kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatten beide er-
klärt, am Prinzip der schwarzen Null festhalten zu
wollen. Angesichts der konjunkturellen Eintrübung
werden die Rufe nach mehr staatlichen Investitio-
nen aber lauter. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist
im zweiten Quartal um 0,1 Prozent zum Vorquartal
gesunken. Wirtschaftsminister Peter Altmaier
(CDU) hatte die Daten als „Weckruf “ und „Warnsig-
nal“ bezeichnet. CDU-Chefin Annegret Kramp-Kar-
renbauer sagte dem Sender n-tv, die im Grundge-
setz festgeschriebene Regelung eines ausgegliche-
nen Haushalts sehe „Ausnahmemöglichkeiten vor –
etwa für den Fall einer Krise“. Zunächst gelte es
aber, vorhandene Finanzmittel zu investieren.
Auch BDA und DIHK sehen ausreichend Spiel-
raum für dringend benötigte Zukunftsinvestitionen
in die Energienetze, die Verkehrs- oder die digitale
Infrastruktur. „An Geld mangelt es dabei nicht“,
sagte Wansleben. Der Staat verfüge über Steuerein-
nahmen auf Rekordniveau, die auch in den nächs-
ten Jahren weiter steigen dürften – wenn auch nicht
mehr so stark wie in der Vergangenheit. „Die Inves-
titionen sollten daher zuerst mit den vorhandenen
Mitteln aus dem Energie- und Klimafonds sowie aus
dem Fonds Digitale Infrastruktur finanziert wer-
den“, forderte der DIHK-Funktionär. Vorhandenes
Geld werde oft gar nicht abgerufen.
Die meisten Investitionen scheiterten nicht am
Geld, sondern an bürokratischen Planungs- und
Genehmigungsverfahren, politischen Unsicherhei-
ten und mangelnder gesellschaftlicher Akzeptanz
für Investitionen in den Industriestandort, sagte
BDA-Hauptgeschäftsführer Kampeter, der unter Fi-
nanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) parlamen-
tarischer Staatssekretär war. „Es sollten diese Pro-
bleme gelöst werden, anstatt zu versuchen, sie un-
ter Geld zu verschütten.“ Der Staat müsse die
richtigen Prioritäten setzen: Bei einem Sozialausga-
benanteil von 50 Prozent sei das Problem nicht die
Schuldenbremse oder die schwarze Null, sondern
die Ausgabenstruktur des Bundeshaushalts.
Dass SPD, Grüne, Teile der Union und selbst
Wirtschaftsverbände angesichts einer drohenden
Rezession jetzt als Erstes die schwarze Null und
nicht die Ausgabenpolitik infrage stellten, sei ein Of-
fenbarungseid, kritisierte FDP-Generalsekretärin
Linda Teuteberg: „Es ein Gebot der Generationen-
gerechtigkeit, dass der Staat mit dem Geld auskom-
men muss, das er hat.“ Das gelte umso mehr ange-
sichts der Rekordsteuereinnahmen. Frank Specht

Entlastung der Steuerzahler durch ein neues Soli-Gesetz


Solidaritätszuschlag: Beispielrechnungen für Bruttoeinkommen eines Single-Haushaltes


Brutto-Jahres-
einkommen
20 000
30 000
50 000
70 000
90 000
00 000
0 000
20 000

67
194
487
879
1 324
1 555
1 786
2 017

Euro
Euro
Euro
Euro
Euro
Euro
Euro
Euro

Soli Status quo*
0
0
0
0
848
1 347
1 786
2 017

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Soli nach Reform*

HANDELSBLATT *Zahlen gerundet • Quelle: ifo-Mikrosimulationsmodell


Soli-Abbau

12,


MILLIARDEN
Euro Einnahmeausfall würde
Altmaiers Konzept 2021 für den
Bund bedeuten.

Quelle: BMWi

Alle


Steuerzahler,


auch


erfolgreiche


Unter -


nehmer und


Freiberufler,


werden


vollständig


entlastet.


Papier des
Bundeswirtschafts -
ministeriums

Debatte um Soli


WOCHENENDE 16./17./18. AUGUST 2019, NR. 157
7

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