Handelsblatt - 16.08.2019

(nextflipdebug2) #1
M. Greive, J. Hildebrand, K. Leitel, C. Volkery
Berlin, London

W


enn Olaf Scholz (SPD) in den
vergangenen Monaten gefragt
wurde, was die Politik gegen ei-
nen drohenden Wirtschaftsab-
schwung tun könnte, war seine
Antwort verblüffend einfach: keinen Schaden an-
richten. Gemeint waren der Handelskonflikt zwi-
schen den USA und China sowie die Gefahr eines
ungeordneten Brexits.
Auch wenn der Bundesfinanzminister sich offi-
ziell weiter überzeugt gibt, dass ein Chaos-Brexit
vermieden werden kann, so sieht die interne Lage-
bewertung in seinem Haus pessimistischer aus. Die
Bundesregierung stellt sich darauf ein, dass Groß-
britannien die Europäische Union (EU) ohne Ver-
trag verlassen wird. Es gebe eine „hohe Wahr-
scheinlichkeit“ für einen ungeordneten Brexit am


  1. Oktober, heißt es in einem Papier des Bundesfi-
    nanzministeriums, das dem Handelsblatt vorliegt.
    Da der neue Premierminister Boris Johnson auf ei-
    nem Ausstiegsvertrag ohne Backstop bestehe,
    müssten die Mitgliedstaaten das Szenario eines No-
    Deal-Brexits ernst nehmen. Es sei aktuell „nicht ab-
    sehbar, dass Premierminister Johnson seine harte
    Verhandlungsposition“ ändern werde.
    Das Papier aus der Europaabteilung soll Scholz
    über die Brexit-Entwicklungen in London unter-
    richten. Das Finanzministerium erwartet, dass
    Johnson den G7-Gipfel in Biarritz Ende August für
    einen „big moment“ nutzen wird, um den Durch-
    bruch oder das Scheitern der Verhandlungen zu
    verkünden. „Vor diesem Hintergrund ist es aus
    EU-Perspektive wichtig, an der bisherigen Linie
    festzuhalten“, heißt es in dem Papier. Die EU-
    lehnen es ab, den Ausstiegsvertrag nachzuverhan-
    deln. Selbst wenn man den Backstop aus dem
    Ausstiegsvertrag entferne, wie Johnson es wün-
    sche, sei die britische Regierung sich der Zustim-
    mung des Parlaments nicht sicher, schreibt das Fi-
    nanzministerium.


Vorbereitungen fast abgeschlossen
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Minister
haben schon in den vergangenen Jahren alles dafür
getan, dass kein EU-Partner ausschert. Die briti-
sche Regierung hatte immer wieder versucht, eine
Spaltung zu erreichen. Die „Einheit der EU-27 beim
Festhalten am verhandelten Austrittsabkommen“
sei „entscheidend“, heißt es in dem Papier. Nie-
mand soll angesichts eines näherrückenden unge-
ordneten Brexits die Nerven verlieren. Deshalb sei
es wichtig, für alle Szenarien gewappnet zu sein.
Die Vorbereitungen für den ungeordneten Brexit
auf deutscher und EU-Seite seien „weitgehend ab-
geschlossen“, heißt es in dem Papier weiter. Die
EU-Kommission plane keine neuen Notfallmaßnah-
men, und die bisherigen Vorbereitungen bedürften
keiner Änderung. Bei einzelnen Übergangsregelun-
gen, wie etwa für die Clearing-Häuser im Finanz-
sektor, müsse man wegen der Verschiebung des
Brexit-Datums von März auf Oktober höchstens die
Fristen anpassen.
Die Bundesregierung hat mehr als fünfzig Ge-
setze und Maßnahmen für den Fall eines ungeord-
neten Brexits beschlossen. Das Ministerium listet
in dem Dokument die Übergangsregelungen im
Bereich Steuern und Finanzen auf. So gibt es eine
Vereinbarung zwischen der deutschen Finanzauf-
sicht Bafin und deren britischem Pendant FCA
über grenzüberschreitende Finanzdienstleistun-
gen. In der Zollverwaltung sei mit einem „punktu-
ell erhöhten Abfertigungs- und Kontrollaufwand“
zu rechnen.
Dieser soll durch „flexiblen Personaleinsatz“
und „IT-gestützte Optimierung“ aufgefangen wer-
den. Es werden aber auch 900 neue Stellen in der
Behörde geschaffen. Am Freitag empfängt Scholz
seinen neuen britischen Amtskollegen Sajid Javid
zum Antrittsbesuch in Berlin. Johnson selbst hat
noch keinen einzigen Antrittsbesuch bei den Part-
nern gemacht – ein Zeichen, wie zerrüttet das Ver-
hältnis derzeit ist.
Im britischen Parlament wächst unterdessen der
Widerstand gegen Johnson. Labour-Oppositions-

Berlin rechnet mit

No-Deal-Brexit

Das Bundesfinanzministerium erwartet inzwischen einen


ungeordneten EU-Austritt. In London bereitet die Opposition ein


Misstrauensvotum gegen Premierminister Boris Johnson vor.


Boris Johnson:
Der Premier will
sein Land um je-
den Preis aus der
EU führen.

REUTERS

Wirtschaft


& Politik


WOCHENENDE 16./17./18. AUGUST 2019, NR. 157
8
Free download pdf