Handelsblatt - 16.08.2019

(nextflipdebug2) #1

Es geht nicht


darum, wer


Premier-


ministerr ist,


sondern


darum,


einen Akt


wirtschaftlicher


Selbstbe-


schädigung zu


stoppen.


Ian Blackford
SNP-Fraktionschef

Britische Wirtschaft schwächelt
Bruttoinlandsprodukt Großbritannien
Veränderung zum Vorjahr in Prozent

Direktinvestitionen in
Großbritannnien (Zuflüsse)

Außenhandel in Mrd. Euro

+ 1,8 % + 1,8 %

+ 1,3% + 1,3%

+ 1,4 %

HANDELSBLATT

ACBDD
*Prognose unter Annahme eines geordneten Brexits • Quellen: EU Kommission, Thomson Reuters Datastream, Oxford Economics

21,
Mrd. €

325,
Mrd. €

207,
Mrd. €

50 ,
Mrd. €

106,
Mrd. €

239,
Mrd. €

2016 2017 2018 2019 2020* 2016 2017 2018 2019 2016 20 20*

350

300

250

200



Großbritanniens
Exporte
in die EU

Großbritanniens
Importe
aus der EU

in
Mrd.
Euro

führer Jeremy Corbyn kündigte am Donnerstag ein
Misstrauensvotum gegen die Regierung an, um ei-
nen ungeordneten Brexit zu verhindern. Die Ab-
stimmung solle so früh wie möglich stattfinden,
„wenn wir uns unseres Erfolgs sicher sein können“,
schrieb er in einem Brief an die Parteichefs der an-
deren Oppositionsparteien sowie einige Johnson-
kritische Tory-Abgeordnete. Er selbst bot sich als
Übergangspremierminister an – mit dem alleinigen
Ziel, einen weiteren Brexit-Aufschub in Brüssel zu
beantragen und Neuwahlen anzusetzen. „Die Re-
gierung hat kein Mandat für einen No-Deal-Brexit,
und das Referendum von 2016 war kein Mandat für
einen No-Deal-Brexit“, erklärte der Labour-Chef.
Bereits am Dienstag hatte Ex-Finanzminister Phi-
lip Hammond mit 20 weiteren proeuropäischen
Tories einen Brief an Johnson geschrieben. Der
Premier müsse seine Forderung aufgeben, den
Backstop aus dem Ausstiegsvertrag zu streichen,
forderten sie. Diese rote Linie mache eine Einigung
mit den Europäern unmöglich. Das Parlament wer-
de einen ungeordneten Brexit verhindern, bekräf-
tigte Hammond in der „Times“.
Rückendeckung erhielten die Johnson-Gegner
diese Woche von Parlamentspräsident John Ber-
cow. Er werde es nicht zulassen, dass Johnson das
Parlament umgehe, um einen ungeordneten Brexit
durchzuziehen, sagte Bercow bei einem Auftritt in
Edinburgh. Das Wort des Speakers des Unterhau-
ses hat Gewicht: Er hat bereits in der Vergangen-
heit mehrfach die Parlamentshoheit gegen die Re-
gierung verteidigt. Damit scheint auch die Gefahr
gebannt, dass Johnson das Parlament suspendieren
könnte, worüber zuletzt spekuliert worden war.
Ein Misstrauensvotum könnte ab der ersten Sep-
temberwoche stattfinden, wenn die Abgeordneten
aus der Sommerpause zurückkehren. Auf den ers-
ten Blick stehen die Erfolgschancen gut: Johnson
regiert im Bündnis mit der nordirischen DUP mit
einer hauchdünnen Mehrheit von nur einer Stim-
me. Schon wenige Rebellen in der konservativen
Fraktion würden ausreichen, um ihn zu Fall zu
bringen.

Tory-Unterstützung ungewiss
Es ist jedoch fraglich, ob sich die Opposition auf ei-
nen gemeinsamen Ersatzpremier einigen kann. Als
Oppositionsführer beharrt Corbyn auf seinem Erst-
zugriffsrecht auf das Amt. Bei den anderen Opposi-
tionsparteien ist der Labour-Chef aber hoch um-
stritten. Die Chefin der Liberaldemokraten, Jo
Swinson, bügelte Corbyns Kandidatur sogleich als
„Unsinn“ ab. Er sei nicht die richtige Person, um ei-
ne Übergangsregierung anzuführen, sagte sie. Die
Liberaldemokraten hatten sich bei der Europawahl
im Mai als führende Kraft der Proeuropäer im
Land etabliert und wollen sich nun nicht dem lang-
jährigen Euroskeptiker unterordnen.
Auch ist schwer vorstellbar, dass Tory-Abgeord-
nete ihre eigene Regierung stürzen würden, um
den Altlinken Corbyn ins Amt zu heben. In einer
ersten Reaktion erklärten sich die konservativen
Johnson-Gegner Dominic Grieve, Oliver Letwin, Ca-
roline Spelman und Nick Boles zwar bereit, Corbyn
zu Gesprächen zu treffen. Doch eigentlich schwebt

ihnen und den Liberaldemokraten ein Übergangs-
premier der Mitte vor, der eine „Regierung der na-
tionalen Einheit“ anführen könnte. Swinson schlug
den Alterspräsidenten des Parlaments, den konser-
vativen Ex-Minister Ken Clarke, oder die überpar-
teilich respektierte Labour-Abgeordnete Harriet
Harman vor. Ohne die Unterstützung der Labour-
Führung würde eine solche neue Regierung jedoch
nicht zustande kommen, deshalb können sich die
Johnson-Gegner nicht einfach über Corbyns An-
spruch hinwegsetzen.
Der Fraktionschef der schottischen Nationalis-
ten (SNP) im Unterhaus, Ian Blackford, appellierte
an die anderen Oppositionsparteien, sich jetzt
nicht in Personaldebatten zu verzetteln. Man solle
sich nach der Sommerpause darauf konzentrieren,
ein Gesetz auf den Weg zu bringen, um den unge-
ordneten Brexit zu stoppen, sagte er. „Es geht in
diesem Fall nicht darum, wer Premierminister ist,
sondern es geht darum, einen Akt wirtschaftlicher
Selbstbeschädigung zu stoppen, unter dem wir al-
le leiden würden.“
Auch die schottische Regierungschefin und SNP-
Vorsitzende Nicola Sturgeon plädierte dafür, Cor-
byns Vorstoß nicht rundheraus abzulehnen. Swin-
son solle ihre Position überdenken, twitterte sie.
Premierminister Johnson zeigte sich von den Ma-
növern der Opposition unbeeindruckt. Einige Par-
lamentarier versuchten, zusammen mit den Euro-
päern den Brexit zu blockieren, sagte der Regie-
rungschef diese Woche in einem
Facebook-Livestream, bei dem er erstmals direkt
auf Fragen von Nutzern antwortete.

No-Deal-Brexit träfe Export
Er werde aber sicherstellen, dass das Land die EU
am 31. Oktober verlasse. Sollten die Europäer sich
bis dahin nicht kompromissbereit zeigen, könne
Großbritannien zu einem ungeordneten Brexit ge-
zwungen sein. Johnson scheinen auch die Warnun-
gen der Ökonomen egal zu sein, dass ein ungeord-
neter Brexit Großbritannien in die Rezession drü-
cken würde – sofern das nicht schon vorher
passiert. Die britische Wirtschaft war wie die deut-
sche bereits im zweiten Quartal leicht ge-
schrumpft. Setzt sich dieser Trend im dritten Quar-
tal fort, wäre die Definition einer Rezession schon
vor dem Brexit erfüllt. Auch das Pfund fällt bereits

seit Wochen, weil die Anleger das No-Deal-Szenario
fürchten. Sollte der Ernstfall eintreten, dürfte sich
die Talfahrt noch beschleunigen.
Ein ungeordneter Brexit würde vor allem die ex-
portabhängigen Regionen Wales, Nordirland und
Nordostengland treffen. Der Internationale Wäh-
rungsfonds (IWF) warnt vor einer „deutlichen und
lang anhaltenden Belastung für die Wirtschaft in
Großbritannien und der EU“, weil die paneuropäi-
schen Lieferketten zerstört würden. Bereits im ver-
gangenen Jahr hatte der IWF geschätzt, dass bei ei-
nem ungeordneten Brexit das Wirtschaftswachs-
tum in Großbritannien bis 2030 um rund vier
Prozent geringer ausfallen dürfte als ohne Brexit. In
den anderen 27 Mitgliedsländern der EU könnte
das Minus demnach 1,5 Prozent betragen. In der EU
wäre Irland laut IWF wegen der engen Anbindung
an Großbritannien am stärksten betroffen, gefolgt
von den Niederlanden, Dänemark und Belgien.
Deutschland steht in dieser Liste auf Platz neun.

Unternehmen schlecht vorbereitet
Unter Johnson hat die britische Regierung ihre No-
Deal-Vorbereitungen zuletzt beschleunigt. Man sei
besser vorbereitet, als viele glauben, sagte Johnson
kürzlich bei seinem ersten Auftritt als Premier vor
dem Parlament. „Aber wir sind noch nicht da, wo
wir sein müssen. In der verbleibenden Zeit müs-
sen wir unsere Vorbereitungen mit Volldampf vo-
rantreiben“. Finanzminister Javid hat insgesamt
6,3 Milliarden Pfund für einen ungeordneten Bre-
xit bereitgestellt: 434 Millionen Pfund für die Ge-
währleistung der medizinischen Versorgung, 344
Millionen für Zoll- und Grenzverkehr und 108 Mil-
lionen zur Unterstützung der Vorbereitung in den
Unternehmen. 500 zusätzliche Zollbeamte sollen
eingestellt werden.
Doch in der Wirtschaft herrscht Skepsis. Eine
Umfrage des arbeitgebernahen Verbands Institute
of Directors (IoD) im Juli unter 952 Mitgliedern er-
gab, dass lediglich 15 Prozent der Befragten der An-
sicht sind, dass ihr Unternehmen auf einen Brexit
ohne Deal „vollständig vorbereitet“ sei. 53 Prozent
gaben an, „so viel wie möglich“ getan zu haben,
aber dass sie der Meinung seien, „nicht vollständig
vorbereitet sein zu können“. Vor allem kleine Un-
ternehmen dürften unter einem No-Deal-Brexit lei-
den.

Jeremy Corbyn: Der Labour-Chef will Johnson
per Misstrauensvotum stürzen.

REUTERS


Wirtschaft & Politik


WOCHENENDE 16./17./18. AUGUST 2019, NR. 157
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