Berliner Zeitung - 17.08.2019

(Sean Pound) #1

Berlin


10 * Berliner Zeitung·Nummer 190·17./18. August 2019 ·························································································································································································································································································


Hopp, hopp,


von Job zu Job


D


erwir dmal’n Fußballer!“,sagte
kurznach meinerGeburtein
Mann, der in meinenKinderwagen
reinguckte.„DerhatrichtijeFußbal-
lerwaden.“Derdas damals sagte,
war ein Lehrer undKollege meiner
Eltern. Später wurde erMitbegrün-
der und Klubvorsitzender des 1. FC
Union. Doch trotz des Experten-
blicksistausmirleiderkeinFußbal-
lergeworden.Mitdem„waswerden“
istesohnehinsoeineSache.
„Was für einen Berufwollt ihr
denn mal ergreifen?“, fragte meine
über 80-jährige Tante aus Lichten-
bergvorJahreneinmalmeineheran-
wachsendenTöchter.Dieseguckten
komisch.Denn „Beruf“ –soetwas
gibt es so gut wie gar nicht mehr.
Heute redet man gemeinhinvom
„Dschobb“.Damit ist das gemeint,
was man gerade so macht. Hopp,
hopp,hopp–vonJobzuJob.
Unddann:Werkann heute noch
noch irgendwas„ergreifen“? Dieses
Worthörtsichan,alsoobmanetwas
packtundniemehrloslässt.EinBe-
ruffürsLeben,haha.Dalachensich
die sogenannten Arbeitgeber den
Bauchscheckig.
Wieerkennt man überhaupt
noch einen Beruf? Früher war das
einfach.ZumBeispielbeimSchorn-
steinfeger.Erlieferte dasVorbild für
einesderbeliebtestenKindergarten-
Faschingskostümeschwarz, mit Zy-
linder,Leiter und Kaminbesen.Ja,
damals ging man wirklich noch als
Werktätiger zum Fasching. Nicht
alle,ich schon. DerKoch hatte eine
hohe Kochmützeauf. DerZimmer-
mann trug Zunftkleidungmit Kord-
weste–undunbedingtzubeachten:
„AmArschhängtderHammer“.Der
Verkehrspolizistfuchteltemiteinem
schwarz-weißen Regulierstab und
bliesindieTrillerpfeife.DerLokfüh-
rerwarverrußtimGesicht.DerDok-
torliefmitStethoskopundStirnspie-
gel umher.Der Maler trug einen
buntbekleckstenKittel.AlldieseTy-
penwarenimAlltagpräsent.
Aber geh mal heute zum Kita-Fa-
sching alsVersicherungsfritze, Phar-
mavertreter,Werbe-Heini,Jobber ei-
nerZeitarbeitsfirmaoder„Irgendwas
mit Medien“. Daswirdschwierig.
Manbraucht ganz kleineVertreter-
Anzüge oder steckt dasKind einfach
inJeansundschwarzenPullover.
VordiesemHintergrundfindeich
esinteressant,dassesoffenbardoch
noch Ideale gibt und denWunsch
nachechterBerufung.Daszeigtemir
jüngst eine kleineFoto-Ausstellung
ineinerBerlinerBehörde.Siehat 15
Jugendlichevorgestellt,vierdavon
ausDeutschland,dieanderenaus
Afghanistan,Syrien,Tschetschenien
undderTürkei.DieZwölf-bisFünf-
zehnjährigenhabendieVorstellung,
ihrLebensolltegroßundbedeutsam
sein.DieVisionenvonihrenkünfti-
genIchs lauten:„berühmterFuß-
ballspieler“, „bekanntePolitikerin“,
„engagierteÄrztin“,„berühmterMu-
siker“und„engagierteSozialarbeite-
rin“. Ohne solcheAttribute wäre
man ja nur einfachFußballspieler,
Politikerin oderMusiker.Würde das
füreineechteBerufungreichen?
Allein fünf Mädchen wollen Ärz-
tin werden. EinPolizist, eineErzie-
herin und einAutomechaniker sind
auch unter denZukunfts-Ichs.Egal,
was dieEinzelnen antreibt–eines
habensieallegemeinsam:Siewollen
nicht einfach irgendwie durchs Le-
ben jobben.Siewollen etwas sein,
dasmandurchausmitdenBegriffen
„Beruf“ und„ergreifen“ bezeichnen
kann,soantiquiertsichdasauchan-
hört. Nehmenwirihnennichtschon
jetzt dieIllusionen.Drücken wir ih-
neneinfachdieDaumen.
Hätte ich auf denFußballexper-
ten gehört, wäreich vielleicht sogar
einStaraufdemRasengeworden.Na
ja,wennichmeineWadenheutean-
gucke:dochehernicht.


Harmsens Berlin


TorstenHarmsenfragtsich,
obesheuteüberhaupt
nochechteBerufegibt.

E


normesKonfliktpotenzialbie-
tet dasThema Bauen und
WohnenindenHaushaltsdebat-
ten.EinZankapfelwirddasVor-
kaufsrecht sein, mit dem dieBe-
zirke Investoren Gebäude quasi
vorderNasewegschnappenkön-
nen,umLuxusmodernisierungen
zuverhindern.„WennBezirkedas
Vorkaufsrecht ausüben, kostet
unsdasenormvielGeld“,sagtSi-
bylle Meister,haushaltspo-
litischeSprecherin der
FDP-F raktion. „Das
bringt nicht nur die
Wohnungsbaugesell-
schaften in eine
schwierige Situation,
es schafft auch keine
einzige Wohnung mehr.“
Sielehntesab,GelderfürRück-
käufeauszugeben,diezudemvon
Land bezuschusst werden und
weitereBereichezuMilieuschutz-
gebietenzu erklären. Dassorge
nicht einmal für stabile Mieten,
sagtsie.
Einanderes Thema,das der
FDPaufdenNägelnbrennt,istdie
Grundsteuer.Hintergrundisteine
Reformauf Bundesebene,wo-
durch auf Hausbesitzer höhere
Kosten zukommenkönnten.Die
Liberalen wollen den sogenann-
ten Hebesatz senken –das will
auch Matthias Kollatz (SPD). Der
HebesatzisteinindividuellerFak-
tor zur Ermittlung der Steuer-
schuld.MiteinemgeringerenHe-
besatz könnenStädte und Ge-
meindendamit Einfluss auf die
HöhederSteuerschuldnehmen.

Auch die CDU ist mit der„ex-
zessiven Wohnungsaufkaufpoli-
tik“ desSenats alles andereals
einverstanden.Derfinanzpoliti-
scheSprecherderCDU,Christian
Goiny,wirbt stattdessen für das
eigene wohnungspolitischeKon-
zept, das unter anderem einen
ZuschussfürHaushaltemitmitt-
leren Einkommenvorsieht.Goiny
ist sich sicher:Der Senat mache
selbstausderSichtder Koa-
lition„schlechtePolitik“.
DassiehtSteffenZil-
lich naturgemäß ganz
anders.Derparlamen-
tarischeGeschäftsfüh-
rerder Linksfraktion
spricht voneinem „sehr
guten Haushaltsentwurf“,
dereine„sehrverlässlicheFinan-
zierung“ der Entscheidungenga-
rantiere,diedie rot-rot-grüneKo-
alition getroffen habe.Dennoch
gebe esGesprächsbedarf, etwa
beidergrundsätzlichenFrage,ob
es in der aktuellenNiedrigzins-
phasenichtklügerseizuinvestie-
renals in größerem Umfang
Schulden zu tilgen. „Wir wissen,
dass wir bauen müssen.Undwir
wissen, dass jederBaupro Jahr
20Proz ent teurer wird.“Darüber
seizu reden.Andererseitsgebees
auch Neubau-Investitionspro-
jekte,auf die man verzichten
könnte,soZillich, etwa denUm-
bau desJahnsportparks.Dieser
sei bis zuBeginn der Special
Olympics fürMenschen mitBe-
hinderung imJahr 2023 imJahn-
stadionohnehinunrealistisch.

Wohnen und Bauen


M


it der Kostenlos-Mentalität
derRegierungkanndieOp-
position so gar nichts anfangen.
„Wir haben eineKoalition, die
über Wahlgeschenke wie dem
kostenlosen Schülerticket und
MittagessenanGrundschulenre-
giert“,kritisiertSibylle Meister,Fi-
nanzpolitikerin der FDP-
Fraktion. Dasseien Aus-
gaben, die nicht ein-
malig seien, sondern
fortlaufend. „Das ist
eineBelastungfürdie
Zukunft“, findet sie –
undforderteinUmden-
ken.
DaskostenloseSchülerticket
und Mittagessen anGrundschu-
len lässt sich dieKoalition tat-
sächlich einiges kosten: Insge-
samt130MillionensindimHaus-
halteingeplant.

Rückenwind bekommt die
FDP vonAfD.Denn auch deren
haushaltspolitische Sprecherin
Kristin Brinker findet, dass sich
derBerlinerHaushaltdieKosten-
los-Angebotenichtleistenkönne.
EsmüssedringendmehrGeldfür
die Bildung in dieHand genom-
men werden. DieAfD for-
dertzudem eine ge-
nauereKostenaufstel-
lung beim Thema
Schulbau: So sollten
die Nebenkosten für
alteundneueSchulge-
bäude undAußenanla-
gen auflistetwerden, die
das Land aufDauerzut ragen
habe.EinevernünftigeGrundlage
fehle –soe ntstehe das„typische
Berlin-Problem“: „Man fängt et-
wasan,aberstelltdannraschfest:
WirbrauchennochmehrGeld.“

Bildungund Schule


L


inken-HaushaltspolitikerStef-
fen Zillich sprichtvoneinem
„Steuerungsproblem“, wenn er
sich über den gigantischenKom-
plex derPersonalausgaben beugt.
DieZahlen, mit denen dabei jon-
gliertwird, sind tatsächlich
schwindelerregend hoch.So sieht
deraktuelleHaushaltsentwurfvor,
dassim Jahr2021dieSchallgrenze
von10M illiardenEuro Personal-
ausgaben durchstoßen wird.Vor-
gesehen sind exakt 10,
Milliarden Euro.Zum
Vergleich: Im aktuel-
len Haushaltsjahr
sinddafür9,217Mil-
liarden Euro ve ran-
schlagt.
Wasaber ist dabei
ganz prinzipiell zu„steu-
ern“? AusSichtvonZillichstellt
sich zumBeispiel dieFrage,was
mit demGeld passieren soll, das
im Jahr zuvor nicht„abgeflossen“
ist –also gar nicht ausgegeben
wurde .Soh abenetwadieBezirke
zuletztrund80 MillionenEuroder
für sie vorg esehenen „Personal-
mittel“ nicht eingesetzt.Einer der
Gründedafürist,dassdieBezirks-
ämteroftnichtgenugPersonalfin-
den. Teils ist das entsprechende
Fachpersonal gar nicht auf dem
Markt,teilssinddieStellenaufder
bezirklichen Verwaltungsebene
gegenüberdenenaufderdesBun-
des und der des LandesBerlin
schlicht nicht attraktiv genug.Zil-
lich plädiertdafür,die Bezirke im
Zweifelauchdabeibesserzubera-

ten,wiesieanihrdringendbenö-
tigtesPersonalkommenkönnen.
Einweiterer Punkt betrifft die
Personalausstattung–explizit die
für die Umsetzung des geplanten
Mietendeckels.„Dieser mussjaals
Quersc hnittsau fgabe gleich in
mehrerenVerwaltungen bearbei-
tet werden.Dafür ist bisher über-
haupt nichts berücksichtigt“, sagt
Zillich.
WenigerGeldwürdederLinke-
Politiker –wennesnach ihm
ginge –für denVerfas-
sungsschutz ausgeben.
DieLinkesiehtdieseIn-
stitution bekanntlich
sehr kritisch. „Ich
könnte mir für denPer-
sonalzuwachs eine Null
vorstellen“,sagtZillich.Daes
aber nicht alleine nach ihm geht,
sindimDoppelhaushaltzusätzlich
19 Stellenfür de nVerfassungs-
schutzvorgesehen.
Beim StichwortPersonal wird
auch Daniel Wesener,haushal ts-
politischerSprecher derGrünen
hellhörig.Manmüssedaraufach-
ten,dassdiezurVerfügungstehen-
denGelderüberhauptausgegeben
werden kö nnen“,soWesener.
Dazu müsse man sich fragen, wo
dasGeldnichtausgegebenwerden
könne,weilebenPersonalfehle.Er
kritisiert, dass derHaushalt „auf-
gebläht“werde, da die gutenJah-
resabschlüsse größtenteils auf
nicht verausgabteMittel zurück-
zuführen seien.Trotzdem sei der
Haushalt„gelungen“.

Personal


M


itseiner Ideedesso-
lidarischen
Grundeinkommens
(SGE) will derRegie-
rende Bürgermeister
MichaelMüller(SPD)
Langzeitsarbeitslosen
eine Chance und eine
sinnvolle Beschäftigung
bieten. Müller wollte das SGE auf
Bundesebene etablieren, doch
daraus wurde nichts,weil der
Bund eigene Projekte umsetzen

wollte.Der Regierende will
seinSGEtrotzdemumset-
zen, jetzt eben mit Lan-
desmitteln. Im neuen
Haushalt stehen dafür
168 Millionen Euro zur
Verfügung –eine
Summe,bei der die FDP
Diskussionsbedarfsieht.„Wir
lehnen das ab“, sagtSybille Meis-
ter,haushaltspolitischeSpreche-
rin.Und:DasSGEsei„völligfalsch
aufgesetzt“.

Solidarisches Grundeinkommen


Zu den
Feldern,
die aus
Sichtder
Berliner
Christ-
demo-
kraten viel
zu kur zkom-
men,zählendieWirtscha ft,die
Kreativwirtschaft und dieWis-
sens chaft. Es gebe keine Ak-
zenteimH aushal tsplan, be-
mängelt der haushaltspoliti-
scheSprecherde rCDU,Chris-
tian Goiny.„Beider
Wissen schaft gibt es zwar ei-
nenAufwuchs,aberina nderen
Bundesländernine twa der
gleichen Höhe.Umd en Vor-
sprung zu halten und auszu-
bauen, muss es mehrGeld ge-
ben.“

Wissenschaft


R


und 3300Seiten dick und vier Aktenordner schwer ist der
Haushaltsentwurffürdie Jahre2020und2021,dendasParla-
mentindenkommendenWochenberatenwird.Esistdererste
Haushalt in der Ärader Schuldenbremse–Berlin darfnur in
wirtschaftlichschlechtenZeitenKrediteaufnehmen,sowillesdasneue
Bundesgesetz.Dasbedeutet, derSenat dar fnicht mehrGeld ausgeben,
alseraucheinnimmt.ImJahr2020 werdendasetwa31Milliarden Euro
sein,im Folgejahrrund32 Milliarden.
ImnächstenHaushaltsplangibteseinpaardickeBrocken,dieBerlin
zustemmenhat.DiemilliardenschwereSchulbauoffensivezumBeispiel,
das neue kostenfreie Schülerticket oder das Schulessen. Allein für die
SchaffungneuerSchulplätzesowiedie SanierungundUnterhaltungvon
Schulbauten sind 620 beziehungsweise 752Millionen Euro im neuen
Doppelhaushaltvorgesehen.WelchenStellenwertdieBildungspolitikge-
nerellimneuenHaushalthat,zeigtsichdarin,dassdieSenatsverwaltung
fürBildung,JugendundFamilieüberdengrößtenEinzeletat vorfügt.
ZweiFaktorenwirkensichpositivaufdenHaushaltauf:diesolideLage
amArbeitsmarktunddiehistorischniedrigenZinsen.Zwarhatauchdas
überschnittlicheWachstumderBerlinerWirtschaftpositiveEffekte,diese
werden aber durch das ebenfalls überdurchschnittlicheBevölkerungs-
wachstumwiederkompensiert.
Derneue Haushalt hat all dieseFaktoren berücksichtigt, gleichwohl
bleiben Risiken.DerEntwurffußt nämlich auf denSteuerschätzungen
ausdemMai.ImNovembergibtesneueZahlen.UndaußerdemsitztBer-
linimmernochaufeinemSchuldenbergvon57 Milliarden Euro.Reinsta-
tistischistjederBerlinermit15000Eurove rschuldet.
Am 12. Deze mber soll dasGesetz über den Doppelhaushalt 2020/
vomParlamentverabschiedetwerden.Estrittam1.Januar2020inKraft.

Dasbisschen


Haushalt ...


...machtsichnichtallein.Stattdessenwirdder


Doppelhaushalt2020/2021imParlamenthart


diskutiertwerden.Konfliktpotenzialgibtes


reichlich.EinÜberblick


VonFrederik Bombosch, Gerhard Lehrke,Annika Leister,


Melanie Reinsch und Elmar Schütze

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