Berliner Zeitung - 17.08.2019

(Sean Pound) #1

Feuilleton


26 * Berliner Zeitung·Nummer 190·17./18. August 2019 ·························································································································································································································································································


SONNTAGSKRIMI


Göttin


des


Zorns


Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) ist
auch beim Joggen im Dienst.DANIELA INCORONATO


VonFrank Junghänel

I


nderRegelinvestierenFernsehre-
dakteurevielFantasieinmöglichst
einfacheFilmtitel, in der Annahme,
dass dasPublikum nicht gernüber-
forder twerdenmöchte.Ind emhier
vorliegendenFallhättesichzumBei-
spiel„TodimRestaurant“angeboten
oder auch „Sieben Schüsseauf den
Gastronomen“.Nunheißt der Film
mit den Dresdner Kommissarinnen
allerdings „Nemesis“,und da wird
man doch nachdenklich.Nemesis,
was war das gleich?EinGegenspie-
ler,soviel ich weiß. Google,google.
Ah ja, die Göttin des gerechten
Zorns, auch Todesengel.Dashätte
man gar nicht so genau wissen mö-
gen, denn nun ist manvomVor-
spannanbesserimBildealsdiePoli-
zei, die ziemlich lange braucht, um
hinterdieTragödiezukommen.
Besagter Restaurantleiter,ein so-
genannterSzenegastronom,wirder-
schossen in seinem Bürogefunden.
DieKriminalistinnenGorniak(Karin
Hanczewski) undWinkler (Cornelia
Gröschel) sind schnell amTatort,
LetztereinJ oggingsachen, was An-
lassfüreinpaarkleineScherzegibt.
DieSache sieht nach organisiertem
Verbrechen aus,Schutzgelderpres-
sung. Irgendetwas in dieser Rich-
tung. DerMann war inDresden gut
vernetzt,nichtzuletztbeiderPolizei,
weshalbRevierleiterSchnabel(Mar-
tin Brambach), ganz aufgeregt ist.
Aberdasisterjaeigentlichimmer.
Nunwirdlosermittelt.DieFrau
desToten (B ritta Hammelstein) gibt
den Kriminalistinnen einige Rätsel
auf, einerseits bricht sie effektvoll
zusammen, andererseitsverhält sie
sichseltsamkontrolliert.Sieerzählt,
dassdieFamilie,dieineinerweißen
VillaaufdemWeißenHirschwohnt,
was ein paar schöneBilder gibt,vor
kurzemvon maskierten Männern
überfallen worden sei, was ihre
Söhne bestätigen.DerJüngereder
beiden,Valentin,benimmtsichrecht
seltsam,derÄltere,Viktor,auch.
Also da stimmt was nicht und
balddeutetsichauchan,woraufdas
alles hinausläuft.Stephan Wagner
hat das dünneDrehbuch vonMark
Monheimroutiniertinszeniert–mit
VerfolgungundShowdown–,wasfür
den vielfachenGrimme-Preisträger
leiderkeinsogutesZeugnisist.


Tatort–NemesisSo., 20.15 Uhr,ARD


TOP 10


Donnerstag,15. August

1Zürich-Krimi ARD 4,57 16 %
2Tagesschau ARD 4,33 16 %
3Zapfenstreich ARD 3,95 15 %
4Ein Mann namens...ZDF 3,72 13 %
5heute ZDF 3,48 16 %
6SokoStuttgart ZDF 3,21 18 %
7heute-journal ZDF 3,18 13 %
8Tagesthemen ARD 2,96 14 %
9RTL akuell RTL 2,90 14 %
10 Notruf HafenkanteZDF 2,74 11 %
ZUSCHAUER IN MIO/MARKTANTEIL IN %


S


eit Monaten befinden wir
uns imHumboldt-Jahr.Es
gibt wohlHunderte ,welt-
weit womöglichTausende
Veranstaltungen über den Reisen-
den,NaturforscherundWelterklärer
undsichereinpaarDutzendBücher
alleinaufDeutsch.
HiernureinHinweisaufdiezehn
Bände seiner Sämtlichen Schriften,
die,herausgegebenvonden beiden
in Bern lehrendenGermanisten Oli-
verLubrich und ThomasNehrlich,
am Freitag im DeutschenTaschen-
buch Verlag (dtv) als „BernerAus-
gabe“ erschienen.In diesen Bänden
geht es nicht umHumboldts „Kos-
mos“-Vorlesungen,nichtumdie„An-
sichten derNatur“, auch nicht um
seine großen Reiseberichte.Diese
Ausgabe versammelt nicht Hum-
boldts Bücher.Sie veröffentlicht
mehrals800Artikel,dieerfürwissen-
schaftlicheZeitschriften schrieb.Die
meistenvonihnen werden hier zum
erstenMalwiedergedruckt.
DieBände Ibis VII bringen die
TexteHumboldts.DieBändeVIIIbis
Xerschließen sie mit Übersetzun-
gen,Kommentaren,Inhaltsver zeich-
nissen, Registern. Band Xbringt auf
650Seiten21Essays.Darunter„Ver-
sucheundSelbstversuche“vonJutta
Müller-Tamm, „Kolonialismus“von
Oliver Lubrich,„PolitikundEngage-
ment“ vonJobst Welge und „Visio-
nen“vonRaoulSchrott.
Niemandwirdsichhinsetzen,auf
Seite 7des erstenBandes zu lesen
beginnenund,nachdemer6949Sei-
tenhintersichgebrachthat,dieLek-
türebeenden.DemSystematikersei
darum empfohlen, denBand VIII
aufzuschlagen.Darinfindet er ein
chronologisches und ein alphabeti-
sches Inhaltsver zeichnis sämtlicher
Bände.Hierkannerindenüberwäl-
tigendenTextmassen nach dem su-
chen,dasihninteressiert.
HumboldtschreibtüberGruben-
gase,Zitteraale ,die Temperatur des
Erdinnern, die Schwankungen der
Goldproduktion mit Rücksicht auf
staatswirtschaftlicheProbleme,mu-
sikalische Felsen in Südamerika,
Meereshöhen,dieEmanzipationder
Juden,Kometen,ZeremonienderIn-
diosin Mexiko,Erdbeben,dasNord-
licht, dasNaturgefühl nach derVer-
schiedenheitderZeitenundderVöl-
kerstämme,Vulkane,den Einfluss
des Willens auf denElektromagne-
tismusundsoweiter.

Mansollte vordem riesigen An-
gebot nicht erschrecken, sondern
die Inhaltsver zeichnisse durch-
schlendernwie eine unbekannte
Stadt. Washeißt hierStadt!? Es ist
eineWelt, ja dasUniversum.So wie
ereskannte.HumboldtfuhrperAn-
halterdurchdieGalaxis.Nurdassda
draußen noch niemand war.Die
Erdbevölkerung hatte um 1800 ge-
rade eine Milliarde erreicht. Die
nordamerikanischenPrärien waren
noch so gut wie menschenleer wie
dievonHumboldtbesuchtenweiten
SteppenAsiens.
Humboldtbeschäftigtesichnicht
nurmitallemundjedem,erlasnicht
nur darüber.Das meiste davon er-
forschteer.Erg absichalsonichtmit
dem zufrieden, was ihm mitgeteilt
wurde ,was er sah, sondernhinter-
fragte dieForschungsberichte,die
Untersuchungen der anderen und
seine eigenenEindrücke.Nicht nur
auf logischeStringenz. Er wandte
sichdenSachenselbstzu,wolltewis-
sen, wie sie funktionieren.Er rech-
nete nach,Experimente führte er
selbst durch.Zu Hause und unter-
wegs.Wasersah,zeichneteerinsei-
nenNotizblock.
Ichhabe bei der Lektüreder
Bändeallesfalschgemacht.Ichfing
vorneauf Seite sieben an und er-
trank darum erst einmal im ersten
BandzwischenGrubenluftundGal-
vanismus.AlexandervonHumboldt
hatte in GöttingenPhysik bei Georg
Christoph Lichtenberg(1742–1799)
und Anatomie undZoologie beiJo-
hann Friedrich Blumenbach
(1752–1840) studiert, danach noch
acht Monate langBerg kunde.Mit
Mitte zwanzig warHumboldt Berg-
rat.EruntersuchtedieGesteine,die
Witterungsverhältnisse unter Tage,
entwickelte eineGrubenlampe und
den Vorläufer einer Atemschutz-
maske.InS elbstversuchen.Beiei-
nem davon fiel er in den giftigen
Grubendämpfen inOhnmacht, und
die vonihm entwickelte Gruben-
lampe half, ihn zu finden.Er sorgte
auchfürbesseresozialeAbsicherun-
gender Berg arbeiter.
DenGalvanismus probierte er
ausgiebig anFroschschenkeln aus.
1795schrieber:„Ichhabegefunden,
dass man einenFroschnervenzer-
schneiden und den oftZoll langen
Zwischenraum mit anderenNerven
gleichsam flicken kann.Mankann
Nerven vondreierlei Tieren, warm-

und kaltblütigen, Fröschen und
Mäusen verbinden, die einzelnen
Stücke umkehren–derVersuch ge-
lingtimmer,sobaldmanmitdersil-
bernenPinzetteZinkund Muskelbe-
rührt. Auch mit anderntierischen
Substanzen, z.B. Muskelfleisch, ge-
kochtem Rindfleisch,Uterus einer
Maus,kannmanNervenflicken.“
Aber dabeibeließ esHumboldt
nicht. Richtig spannend wurde die
Forschung für ihn erst,wenn der ei-
gene Körper mit insSpiel gebracht
wurde: „Ein präparierter Frosch-
schenkellagaufmeinerlinkenSchul-
ter.Die rechte Wunde war mitZink
bedeckt.DerSchenkelhupfte,ohner-
achtet er8Zoll vomZink ablag, so-
baldein SilberdrahtihnunddenZink
verband. Meine teilweise entblößte
Cutis (die beiden obersten Haut-
schichten)leitetealsounterderOber-
haut, welche eineBrücke zwischen
beidenWunden bildete,das galvani-
sche Fluidum weg. Lag der Schenkel
auf Glas und dies auf meiner linken
Schulter,soe rfolgte,untersonstglei-
chenUmständen,keinReiz.“
Mansieht den jungenForscher
vorsich,wieerbeidemVersuch,den
Zuckungen des Frosches auf die
Spurzukommen–manstrittdamals
darum, ob die als Lebenszeichen
aufzufassen wären –, alles,das ihm
zwischendieFingerkam,durchpro-
bierteundsodabeiwar,einenFran-
kenstein-Frosch, dieVorformeines
Cyborgzub auen.Jedenfallsaberbe-
gann er zu ahnen, dass Lebewesen
gewissermaßenzusammengebastelt
seinkönnten.
Für AlexandervonHumboldt ist
ErkenntniseinesinnlicheErfahrung.
Dieser Begriff ist wörtlich zu neh-
men. Humboldt befuhr dieMeere,
Berg e, Steppen und tropischenRe-
genwälder.Man macht sich nur
schwer eine Vorstellung, welche
Strapazeneraufsichnahm,umzum
Beispiel zu wissen, auf welchem
Breitengrad in welcher Höhe die
Baum-unddieSchneegrenzewaren.
ErkanntedenHimalajaunddieAn-
den, zeichnete Gräser in denrussi-
schen Steppen und in Lateiname-
rika, Vulkane,Fische und Vögel der
AltenundderNeuenWelt.Alexander
vonHumboldtfuhrmitderKutsche,
erritt,ging,schwammundkletterte
sichdurchdieWelt.
Wo er ging, fuhr,lag, saß und
stand, protokollierte Alexandervon
Humboldt,wasersah:vomSternen-

ManzeigtihndanninseinerBiblio-
thek in der OranienburgerStraße in
Berlin.Aberdasistnichteinmalein
Bruchteil des wirklichen Alexander
vonHumboldt.Derwar unter wegs.
Eben nicht nur mit demKopf. Ale-
xander vonHumboldt hatte mehr
gesehenvonderWelt als irgend ein
anderer seiner Zeitgenossen. Er
hattenichtnurdieOzeanebefahren
und die Küstenstreifen besucht.Er
warjahrelangimInnernAsiensund
Amerikas unterwegs gewesen.Nie-
mand kannte dieErde besser als er.
Nicht nur dieErdoberfläche.Eri n-
teressiertesichfürdenBauderKon-
tinente,für alle Gesteine,vom Feld-
spatbiszuBasaltundGranit,fürih-
renUrsprungundihreGeschichte.
Aber das war Humboldt noch
langenichtgenug.Ergingweitervon
der Erdbeschreibung zur Weltbe-
schreibung.Im„Kosmos“schrieber:
„Indem das allgemeine Naturge-
mälde vonden fernstenNebelfle-
ckenundkreisendenDoppelsternen
des Weltraums zu den tellurischen
ErscheinungenderGeografiederOr-
ganismen (Pflanzen, Tieren und
Menschenrassen) herabsteigt, ent-
hält es schon das,was ich als das
Wichtigste undWesentlichste mei-
nes ganzen Unternehmens be-

„Man nennt


Humboldt ei-


nenUniversal-


gelehrten und


zeigt ihn dann


in seinerBi-


bliothek.Aber


das ist nur ein


Bruchteil des


wirklichen


Alexandervon


Humboldt.


Derwar


unterwegs.“


Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von Humboldt (1769–1859): Selbstbildnis.ULLSTEIN

himmelüberdieWolkenbiszuwin-
zigenInfusorien.Nichtsentgingsei-
ner Aufmerksamkeit, die Winde
nichtundnichtdasWetter.Nichtszu
groß und nichts zu klein. Über alles
schrieber.Ind ickenBüchern,ande-
nen er viele,viele Jahrearbeitete.
Aber auch an kleinen Artikeln, die
manchmal nicht einmal eine ganze
Buchseite füllen. DasVeröffentli-
chen war ihm wichtig, denn er
wusste,dass er sichvertun konnte,
dasserangewiesenwaraufdieKor-
rekturen der anderen. Humboldt
schrieb ,als er einenFehler,den er
gemacht hatte,korrigierte: „Damir
dieWahrheit,nichtabermeineMei-
nungen wichtig sind, sowerdeich
nicht anstehen, jeden andernIrr-
tum,denichbeieinersoschwierigen
Untersuchungetwabegangenhabe,
sobaldermiraufstößt,freimütigan-
zuzeigen.“Jeder seiner Artikel steht
in einem ständigenAustausch mit
denEinsichtenanderer.Jederseiner
BeiträgeisteingebettetineinenFor-
schungsprozess,and emvielebetei-
ligtsind.DasInternetwäreseinPara-
diesgewesen.
Allesinteressierteihn,überalles
schrieber,behaupteich.Übereines
aber schrieb AlexandervonHum-
boldtnicht,eineswirdausgespart–
beiMenschen,Tierenundfastauch
bei Pflanzen: dieSexualität. Eine
riesigeLeerstelle,fürjemandender
sich so sehr für dieVerbreitung der
Tier-und Pflanzenarten auf dem
Planeten interessierte.Humboldt
setzte seinen Körper schwersten
Strapazen aus.Err iskierte immer
wiederdenTod.Als57-Jährigerlässt
er sich in einerTaucherkugel in die
Themse senken. Alles geht gut.Bei
einemdernächstenVersuchebricht
die Anlage zusammen. Alexander
vonHumboldtsHomosexualität ist
kein Geheimnis mehr.Aber man
weißsogutwienichtsdarüber,wie
ersiepraktizierte.
DieWahrheit,daswussteAlexan-
der vonHumboldt, wirdnicht er-
kannt,sondernerarbeitet.Inkörper-
licherAnstrengung.Siewirdnichtin
einer Reihe vonGeistesblitzen ent-
hüllt,sondern„esist,alsobmanmit
Spießen undStangen auf dieWahr-
heitlosgehen“(Hegel)müsste.Ohne
Anschauung erreicht man nichts,
aber mit ihr allein ist auch noch
nichtvielgewonnen.
Mannennt AlexandervonHum-
boldt oft einenUniversalgelehrten.

Der


Wegins


Freie


Am14.September


werdenwirden


250.GeburtstagAlexander


vonHumboldtsfeiern.


Heuteundhiernichtsals


einkleinerVorgeschmack


VonArnoWidmann

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