Berliner Zeitung - 17.08.2019

(Sean Pound) #1

4 17./18. AUGUST 2019 17./18. AUGUST 2019 5


A


lsam25.Juni1770dieschwerbela-
dene„L’EtoileduMatin“indenHa-
fen vonPortLouis aufMauritius
einbog,erfülltesichfürdenInten-
danten der Insel, den Franzosen Pierre
Poivre, ein langerTraum. Ganze26M onate
wardasSchiffunterwegsgewesen.Tausende
Seemeilen durchSturmund Piraten zu den
Banda-Inseln im Archipel derMolukken in
Niederländisch-Indien,demheutigenIndo-
nesien,umPoivres Auftragzuerfüllen:heim-
lich Gewürzpflanzen zu laden, so viel es ir-
gendging.AnBordstandennunvolleKisten
mitkleinenPflanzen.ZweiTagenachderAn-
kunft des Schiffesversammelte sich dieIn-
selprominenz–Gouverneur,Intendant und
Kommandanten–undließsichvomkönigli-
chenArztundBotanikerPhilibertCommer-
son per Deklaration bestätigen:Ja,anBord
seien 450 jungeMuskatnusspflanzen,„alles
sehrgrünundmitKnospen,rundeinbisan-
derthalbFußgroß“ sowie 10000Muskat-
nüsse,größtenteils gekeimt, ebenso wie 70
Nelkenpflanzen,„sehrgrünundfrisch“.
Endlich hattePoivre, Humanist, Botani-
ker und Agronom, seinZiel erreicht:Nach
mehrals150JahrenhattendieNiederländer
das lukrativeMonopol über denGewürz-
handel verloren. DenAnbau vonMuskat-
nuss- undNelkenpflanzen außerhalb ihrer
Kolonien auf denMolukken hatten sie im-
mer verhindernwollen. Im fernen Paris
wurdedieAnkunftder„L’Etoile“vonZeitun-
genals„eineEroberung“bejubelt.
EigentlichhattePierrePoivre,geborenvor
300 Jahren, am 23.August 1719 inLyon,
nichtsmitGewürzenzut un.SeinNachname
heißt zwar übersetzt Pfeffer,und sein Vater
handeltemitKurzwarenbisnachAsien,aber
der Sohn sollteMissionar werden. 21 Jahre
altwarderJunge,alserzuseinererstenReise
als Missionar nach China einschiffte.Doch
dieMissionsarbeitlagihmnichtunderwohl
auchnichtdenMissionaren,dieverbannten
ihnnämlichausdemOrden.Stattdessenver-
brachteermehrereJahreinS üdasien,woer
Heft um Heft mit seinenBeobachtungen
überMenschundUmweltfüllte.
Alser1745dochnachFrankreichzurück-
kehren will, kommt sein Schiff englischen
Kriegsschiffen in dieQuere. Poivreverliert


dabeiseinenrechtenAr mdurcheinenKano-
nenschussundgerätinGefangenschaft.
DieEngländer können allerdingswenig
mitdemSchwerverletztenanfangenundlie-
fernihn auf Batavia ab ,dem heutigenJava,
im damals niederländischenHandelszen-
trum.DortlässtmanihmvielFreiraumund
ihn letztlich auch frei.Er nutzt dieZeit,
freundet sich mit Landeskennernan, lernt
wieder HandelmitGewürzenfunktioniert–
undentdecktseineBerufung:ErwillMuskat-
nussundNelkeninfranzösischeHändebe-
kommen.UnddasnichtdurchKampf,son-
derndurch Schmuggel.DiePlantagen auf
AmbonalleineproduziertenalleNelken,die
dieWeltbrauche,unddiekleineInselAialle
Muskatnüsse,staunte Poivre. Dass die Nie-
derländer damit so erfolgreich seien, liege
nur„anderIgnoranzundderFeigheitande-
rerHandelsnationeninEuropa“.

DIE KLEINE, AROMATISCHE NUSS–die in
Wirklichkeit keine echteNuss ist, sondern
einSamen,wiederKerneinesPfirsichs–war
zu diesemZeitpunkt inEuropa zwar schon
länger bekannt, erlebte aber gerade einen
Aufschwung und war deswegen irrsinnig
teuer.Wer es sich leisten konnte,würzte
SpeisenundGetränkewieBierund Weinmit
ihr.Muskatnuss sei gut gegen diePest, hieß
es,förder eaberauchdieManneskraft.Man
nutztesiealsMundwasser,schlucktesiege-
gen Rheuma,Nervosität, Geisteskrankhei-
ten, Sprechfaulheit und allerlei anderes.Es
gab kandierteMuskatnüsse,und manch ei-
ner trug eine inSilber gefasst um denHals.
DieÄbtissin Hildegardvon Bingen hatte
schonim12.JahrhundertihrLobliedgesun-
gen:„Undwennein MenschdieMuskatnuss
isst, öffnet sie seinHerz und reinigt seinen
SinnundbringtihmeinengutenVerstand.“
DieNiederländerverteidigtendenProfit,
der sich aus denGewürzenschlagen ließ –
dieHandelsspannegingbiszu1220Proz ent
–gewalttätig und mit allerMacht. Offiziell
angebautwerden durftenMuskatnuss und
NelkennuraufdenholländischenBesitzun-
genAmbonundAi.Pflanzungenaufanderen
Inseln wurden vernichtet. Werillegal mit
Nüssen,Nelken oderSetzlingen der beiden

Pflanzen handelte,dem drohte dieTodes-
strafe .Denn die Schiffsreisen waren teuer,
undbei weitemnichtalleSchiffeerreichten
densicherenHafenvonAmsterdam.Notfalls
verbrannten dieNiederländerWare in den
AmsterdamerSpeichern, um denPreis zu
halten.
PoivreaberwarbesessenvonseinerIdee.
ImmerwiederbracherzudenMolukkenauf,
umPflanzenzuergattern,fuhrInselnan,auf
denen keineNiederländer waren undver-
handelte dortmit Einheimischen. Dabei

PierrePoivre (1719–1786)

hassteerSchiffsreisen.DieganzeZeitmüsse
man sich mitMenschen abgeben, die sich
rüpelhaftbenähmen,klagteerinseinen„Er-
innerungeneinesReisenden“.Manseiekel-
haftem Schmutz,Gestank, Wassermangel,
gesundheitlicherZerrüttung durch Pökel-
fleischausgesetztsowieständigemKrach.

LANGE SCHEITERTEN SEINE VERSUCHE.Mal
waren Plantagenabgebrannt,malweigerten
sichdie Einheimischen,ihmPflanzenzuge-
ben,malfehlteGeld,maldurchkreuztendie
NiederländerseinePläne.DiewenigenSetz-
linge,dieerstolzvondenMolukkenaufdie
französischen Inseln Mauritius und La
Réunion schmuggeln konnte,gingen ein,
weilseine Plänesabotiertoderdieempfind-
lichen Pflanzen schlecht gepflegt wurden.
„EswarwieimFilm“,sagtGillesDeparis ,der
Chef des botanischenGartens in Lyon, die
ihrem StadtsohnPoivrediesenSommereine
Ausstellunggewidmethaben.
ErstdieletzteReise,diePoivre1768nicht
mehr selbst unternahm, aber anordnete,
führte zum langersehntenErfolg. Endlich
hattemangenugPflanzen–aberlangekeine
Ernte.Dieerste Nussgibtes vondemimmer-
grünen Baum er st nach sechs bis achtJah-
ren, die bestenErnten ab dem 15.Jahr.Erst
1778 wurden die ersten französischenMus-
katnüs se gepflückt, 1776 überbrachte ein
Gesandter dem KönigLudwig XVI höchst-
persönlichdieerstenfranzösischenNelken.
DerAnbau verbreitete sich danach auf die
französischenBesitz ungenaufdenSeychel-
lenundinderKaribik.DieNiederländerhat-
tennichtdieKraft,ihrschwindendesImpe-
riumzuverteidigen–dieHandelskompanie
VOCkämpfte mit denVerlusten derReisen.
Poivreselbstverließ1772Mauritiusmitsei-
nerFamilieundkehrtenachLyonzurück,wo
er,geehrtundgeachtet,1786starb.
Undheute? Längst haben die früher so
seltenenGewürze unseren Alltag erobert,
nicht nur im Kartoffelpüree oderWeih-
nachtsgebäck.Praktisch jedeWurst enthält
Muskatnu ss,Nelkenöl findet sich inZahn-
pasta, Antiseptika, inKetchup undSoßen.
Auch Parfümeu re lieben Muskatnu ssöl und
Nelkenöl.

MaikeRademaker
hat auf Reisen immer eine Muskatnuss
im Gepäck, zum Nachwürzen.

Ange baut werden Nuss und Nelke heute
hauptsächlichinIndonesienundIndien,die
Muskatnuss dazu noch auf derKaribikinsel
Grenada –die Insel trägt dieNuss sogar in
der Flagge.Der Preis ist immer noch hoch.
Deutschland importierte 2018 900Tonnen
Nelken imWert von6MillionenEuro und
1800TonnenMuskatnüsseimWertvon13,5
Millionen Euro.ZweiUnternehmen beherr-
schendenlukrativenGewürzmarkt:McCor-
mick,dergrößteGewürzhändlerderWeltmit
Sitznahe BaltimoreunddiedeutscheFuchs-
Gruppein Dissenam TeutoburgerWald.

DER ANBAU HINGEGEN HAT SICH KAUMver-
ändert. Kleinbauernstehen am Anfang der
Lieferkette undverdienen oft nicht viel da-
mit.„DieGewürzewe rdenmit Mopedsoder
Rädernauf den nächstenMarktgebracht
undgehendannoftübermehrereZwischen-
händler an denExporteur“, sagtMarkus
Weck,Geschäftsführer beimFachverband
Gewürzindustrie.Verschicktwerden Nüsse
undNelkendabeifastimmerungemahlen–
aus gutemGrund.„Gewürze wurden schon
vorJahrhundertenverfälscht. Deshal bkau-
fen Gewürzhersteller ganzeWareund ver-
mahlenersthier.“
AufMauritius und Réunion wirdPierre
PoivresAndenkenauchheutenochgewahrt,
Straßen und Schulen sind nach ihm be-
nannt,undimbotanischenGartenJardinde
PamplemoussenahePortLouis,denerauf-
gebaut hat, steht seine Büste.InF rankreich
wirderlangsamwiederentdeckt–nichtnur
als Gewürzschmuggler,sondernvor allem
als Humanist und einer derErsten ,die das
KonzeptderNachhaltigkeitbegriffenhatten.
Schonvor250Jahren ,weitvorAlexandervon
HumboldtalsVordenkerderÖkologie,kriti-
sierteerdieAbholzungenaufMauritiusund
erließ Regeln wie eine Schutzzeit für die
Schildkröten, die kurzvor de rAusrottu ng
waren, weilals Nahrun gallzubeliebt.

„Reinigt Sinn undVerstand“: die Muskatnuss

SPIELPLATZ


VonJan Bojaryn


BLZ/REEG

T


rommelnsinddasAllerbeste.Daswissen
Kleinkinder,das wissenKiffer im Stadt-
park,unddaswissenOpernbesucher,dievor
dem Einsatz derPauke eine Gänsehaut be-
kommen. Doch wozu ist diesesWissen gut?
DieAntworthat Vectronom. DasSpiel
kommt aus dem Umfeld derUniversität
Köln,eswirdvonArtegefördert,undeswird
vomEntwicklerteamunteranderemmitder
Formulierung „UNTZ! UNTZ! UNTZ!“ be-
worben.
Dasist angemessen, denn so klingt das
Spiel auch.Spieler bewegen einen bunten
Würfel durch einenParcours,der sich im
TaktzuelektronischerMusikverändert. Wer
überleben will, muss mit dem Würfel eine
Choreografie durch das pulsierendeWege-
netztanzenunddabeiimTaktbleiben.Noch
vordemerstenSchrittmusseinRätselgelöst
werden: das Erkennen undPlanen der pas-
sendenTanzschritte.DieLevelsindnichtnur
hübsch,siesindeineArtbeweglicheNoten-
schrift. HabenSpielerdasverstanden,istdas
eigentlicheDurchqueren desParcours nur
nocheinGeschicklichkeitstest.

Selber zumWürfel werden


Musikspiele sind nichtsNeues,aber sie
sind selten so inspiriertwieVectronom. Oft
bleiben sie in derVorstellung stecken, dass
die Spieler tanzen oder musizieren. Also
hüpfen Menschen zuvorgefertigtenSongs
auf Tanzmatten mitDrucksensoren herum
odersieschrummelnaufPlastikgitarren.Das
kann Spaß machen, aber es ist in derRegel
keine so guteUnterhaltung wie einTanz
ohneMatteoderdasSpielenaufeinerechten
Gitarre.EsbleibteinErsatz.
Vectronom ist keinErsatz sondernan-
ders.Einerseits kann sich dasSpielen sehr
ähnlich anfühlen, als mache man wirklich
elektronischeMusik.AndererseitsistdieOp-
tik nicht nur eineVerlängerung derMusik.
DieLego-Landschaftensindeineanimierte,
abstrakte Bebilderung der Beats.Spieler
glauben nicht, sie würden einInstrument
lernen: SielernenetwasNeues.
AlsSpielersitztmanmitnickendemKopf
vordem Bildschirm,vergisst alles um sich
herum undversinkt im Rhythmus.Die Da-
seinsberechtigungvonVectronom ist der
Flow,dersichbeimSpieleneinstellt.Dieers-

ten Level sind noch banal einfach. Schnell
abersindsienurzuschaffen,wenndie Spie-
lersichmitjedemSchrittzumrichtigenZeit-
punktindierichtigeRichtungbewegen.Ty-
pischerweise ist dieHerausforderung un-
möglich schwer,bis sich ein unsichtbarer
SchalterimKopfumlegt,unddasSpielüber-
raschend einfach wird.Dieses Hochgefühl
hältmindestenseinpaarLevelan.Indiesen
Minuten schmelzenZeit und Raum davon,
alleZumutungenderAußenweltverschwin-
den, und wovorher ein Mensch amBild-
schirmsaß,sitztjetzteinbunterWürfel.
Dannklingeltes,odermanfragtsich,ob
dieWäschenochinderMaschineliegt,und
kommt aus demTakt. Dasist jedes Malein
schmerzlicherVerlust. Aber wereinmal die
Erfahrunggemachthat,derkanneigentlich
nicht anders,als diesem
Gefühl wieder hinterher-
zujagen.

Vectronom
kostet 10 Euro und ist jetzt für PC
und Nintendo Switch erhältlich.

E


ineglänzendeFaltkarteausfestem
PapierliegtaufdemWohnzimmer-
tischinderhellenWohnungderFa-
milieRichterinTiergarten.AufVor-
der-undRückseiteistSriLankazusehen,die
Insel,aufderSonalivorfastzehnJahrenge-
boren wurde.Die Gedanken derFamilie
RichterfliegenindiesenTagendorthin.Zum
Ortundzum ZeitpunktderGeburtdesKin-
des.Damals,als das Mädchen geboren
wurde ,hatdasEhepaarnochnichtanAdop-
tion gedacht.Nunleben sie seit viereinhalb
Jahren zusammen. Doch einStück der Ge-
schichtefehltihnen.
Jetzt, da sich dasFamilienleben bestens
gefügthatundSonaliinderSchulegutange-
kommenist,jetzt,dasieinnigeFreundschaf-
tenerlebt,istesZeit,sichdasandereanzuse-
hen.DenOrtdererstenBegegnung.Undden
Teil vonSonalis Geschichte,der in der ge-
meinsamenErinnerung fehlt. „Wie derTag
derGeburtverlaufenist,dasbleibtwohldas
GeheimnisihresLebens“,sagtThomasRich-
ter.Wenndie FamilieimnächstenUrlaub
bald zum zweiten MalnachSri Lanka reist,
gehtesvorallemdarum,dasLandnochbes-
ser kennenzulernen. DerZeitpunkt ist gut
gewählt,Sonaliistaltgenug,zureflektieren,
wassieerlebt.Siekannjetzterzählen,wiees
ihrmitihrenErlebnissengeht.

DIEERSTENLEBENSJAHREverbrachte So-
naliineinemchristlichenKinderheiminCo-
lombo,bissiemitfastfünfJahrenvomBerli-
ner EhepaarRichter adoptiertwurde.Eine
glücklicheWendung für alle Beteiligten. So-
nali ist infolge ihrer Frühgeburtsehbehin-
dertundhätteinihrerHeimatkeineneueFa-
miliegefunden. DieRichters wiederum wa-
renbis dato kinderlos und hätten, weil sie
damalsschonüber40Jahrealtwaren,imIn-
landnichtadoptierendürfen.
„Gampaha,hier ist Gampaha!“, ruft das
neunjährige Mädchenüber die Kartege-
beugt.SonaliistimletztenJahrindieHöhe
geschossen.Sieistschlank,hatdunkleHaut
und tiefschwarzesHaar. Weil sie an diesem
Nachmittagam Turnunterricht teilgenom-
menhat,istsieeinbisschenmüdeundruhi-
geralssonst.AnsolchenTagengehtsiefrüh
ins Bett.TrotzdemweißSonali genau, wie
derOrtheißt,wosiegeborenwurde.Undvon
woaussieamTagihrerGeburtaufschnells-
temWeginsKrankenhausnachColomboge-
bracht wurde,umdortintensivmedizinisch
versorgtzuwerden.
GampahaisteinemittelgroßeStadtinder
Westprovinz SriLankas,circa 30 Kilometer
nordöstlich derHauptstadtColombo gele-
gen. Damals,bei der ersten ReisenachSri
Lanka, hatdas Ehepaarden Geburtsortder
Tochterbesichtigt.Esgingdarum,möglichst
vielzubegreifenvondersoanderenWelt,aus
der das Kind stammt.„Wir haben mit einer
Ärztingesprochen,dieSonalivonAnfangan
kannte.Ich erinneremich, dass es sehr laut
warimKrankenhaus.DieLeutewerdendort
inkl einenKabinenbehandelt,dienurdurch
Vorhängev oneinanderabgeteiltsind“erzählt
JudithRichterundzeigtauf GoogleMapsein
BildvomInnerendesKrankenhauses.
Jedes Familienmitglied bereitet sich an-
dersaufdieReisevor.Wa nnimmeresmög-
lich ist, übtSonali Englisch. „CanIhavea
glass of water?“, fragt sie amTisch. Daswe-
nige Singhalesisch, das sie zumZeitpunkt
derAdoptionbeherrschte,hatsi evergessen.
In seinen erstenJahren in Deutschland hat
dasKindden NamenseinesHeimatlandsbei
jederGelegenheitgesagt.Hatsichdasbren-
nendeInteresseinzwischengelegt?Oderhat
es nurandereKanäle gefunden?BeiBesu-
chen in derBotsch aft SriLankashat Sonali
festgestellt,dasssiesichmitihrenLandsleu-

LEBEN&STERBEN


Keine Frau ist perfekt,


aber jede ist schön


I


nvielen weiblichen Anatomien ist die
deutscheSprache gewaltig unschön.Ge-
bärmutter!Wasfür ein Wort.Esk lingt hart
und männlich.Muttermund.Austreibung.
Dammriss .Brustwarze.Milcheinschuss.Wer
erschießtdenndawen?
DieSchönheitliegtimAugedes Betrach-
ters.DasistauchsoeineAussage,dieFrauen
nichteinbeziehtindiesemaltenSpruchder
deutschenSprachkultur.Sonst würde da ja
das kleine„in“ stehen amEnde des Wortes
Betrachters.Heißt das ,dass Frauen Schön-
heitnichtbetrachten?
Dahatsichaberjemandgeirrt.Gewaltig.
Ichsehejeden TagFrauen. Nackt. Schwan-
ger.Stillend.Ichhöresiesagen,wieunschön
sie sich selbst finden.MitAngst erfüllt, sie
könntenzudickwerdenod erniewiederzu-
rückindiealtePassformkommen.Ichselbst
warsoe ineSchwangere,mitmächtigzuviel
KilosdraufundwenigSelbstliebefürmeinen
sichveränderndenKörper.
WoherkommtdasBild,dasswiralleaus-
sehen müssen, wieHeidi Klum, die ja auch
vier Kinder geboren hat? Allerdings gibt sie

InmeinenganzendreißigJahrenals Heb-
ammehabeichvielenackteFrauen gesehen,
ausverschiedenenKulturen, Gesellschafts-
schichten und in unterschiedlichen Alters-
gruppen.Undhieristes:Esgibtsienicht,die
perfekteFrau.Ichhabesienochnichtgese-
hen.
Eine Frau,die ich voreinigen Jahren im
Geburtshausbegleitendurfte,warganznah
dran.Sie warTänzerin, sehr grazil gebaut,
undmanglaubtekaum,dasssieeinKindge-
bären könnte.Sie saß in derBadewanne,
sangleisevorsichhin.
SiewarsoschönindiesemTun,dassder
Arztundichkaumwegschauenkonnten.Wir
sahen uns an, und wir wussten, dass wir
beidedieseSchönheitsahen.Dannabersah
ich ihr eFüße –und die waren überhaupt
nichtschön.
Ichwar fast ein bisschen erleichtertdar-
über.UndichlerntedieSchönheitanderszu
sehen:Frauenun terder Geburt,dieschwit-
zen,diestöhnen,dieschreien.Niemalsper-
fekt,aberimmerschön.Jedeaufeineandere
Art.

Heute: Sabine Kroh, Hebamme

RonMueck, ein australischer Künstler
und sogenannter Hyperrealist, hatte aus
WachseineFigurgeschaffen,diesicherdrei
MetergroßwarundeineFrauun terder Ge-
burtzeigte.Esi stbeeindruckend,wierealer
mitseiner Arbeit diesen Blickabbilden
konnte.Wieko nnteeinMannsehen,wasich
sah:in Perfekti onundmitsolcherLiebezum
AktderGeburt?Warum konntenwirFrauen
unsnichtselbstsosehen?
WährendeinermeinerletztenDiensteim
Kreißsaalmussteichmichwiedereinmalei-
nes Besseren belehren lassen.Ichbetreute
dorteineFrau,dieunglaublichdickwarund
sichdarumwährendderWehenkaumbewe-
gen konnte.Der Mannwa rstattlich gebaut,
attraktiv und bemühte sich liebevoll um
seine Frau. Er tupfte ihr dieStirn, brachte
Wasser,massi erte ihren massivenPo.Als er
meinenBlicksah, sagte er lachend zu mir:
Dasistallesmeins!
SoistdasmitderSchönheit.

wahrscheinlich vieleTausen dEuroimMo-
natfüreinenFitnesstraineraus.
AufFotos si ehtman schon lange keinen
nacktenBauchderHeidimehr .Wahrschein-
lichsinddiesewieauchsieselbstbearbeitet
voneinerScharvonBody-Designern,diedas
Model für die öffentlichenAuftritte zurecht
macht, wie man so schön sagt.Da wirdder
KörperzumGut,undeswirdordentlichGeld
damitverdient.
Warumauchnicht. Es gibt genügend
Kampagnen der Mode- und Kosmet ikin-
dustriezumThemadernormalenundalltäg-
lichen Schönheit.Gestyl te Influencerinnen
mitHyaluron-LippenundkünstlichenBrüs-
tenerklären uns,wir sollen uns doch gefäl-
ligst so lieben, wie wir sind.ViaFacebook
Messen ger wir dman aufgefordert, anFit-
ness-undAbnehm-Programmenteilzuneh-
men,umsichendlichmalwohlzufühlenim
eigenen Körper.Bekundet man freundlich,
dasskeinInteressebestehe,gehtestrotzdem
weiter,mitder Warum-Fragewie voneinem
Kleinkind.Ja,aber warum willst du denn
nichtnochbesserundschlankersein?

NächsteWocheschreibt an dieser Stelle
der Bestatter Eric Wrede.

THOMASRICHTERMÖCHTEINSRILANKA
dieÄrztinnentreffen,diesichdamalsund
auchspäter,alsSonalischonälterwar,um
ihreAugengekümmerthaben.Ermöchte
seinenDankloswerden,dassdieseFrauenso
vielfürihrKindgetanhaben.DieEltern
wissenmedizinischBescheidüberdieein-
zelnen Schritte,die unternommen wur-
den.Siehabensicheingelesen,versuchen
alles,umS onalisSehvermögenzustärken.
UndtatsächlichkommtSonaligutzurecht.
Siefährtschon eine ganzeWeile Fahrra d,
ihreZeichnungen sind nicht nur farben-
froh,sondernauchexakt.In denMonaten
nach seinerGeburtist das Kind vordem
Erblindengerettetworden.
„Wiekonnteichblindwerden?“,willSo-
naliwissen.„Mama,erzählmirdavon.“Al-
les,was mit derFernezut un hat, interes-
siertsie brennend. „Erzählnoch mal,
Mama“, sagt Sonali und schautJudith er-
wartungsvoll an. „Wie war es damals,als
ichgeborenwurde?“AusderAktenlageha-
bendieElterneinigesrekonstruiert.Auf
der Reise sollen weiterePuzzleteile
hinzukommen.DenWeg,den das
BabyamTagderGeburtzurückge-
legt hat,vomKrankenhaus in
Gampah anachColomb o, wol-
lensiediesesMalgemei nsam
in ei nemT uk-Tuk zurückle-
gen. Herausfinden, wie
langeerdauert.UndSonali
wirdsichanihrefrühen
Kindheitstage erinnern.
„Die Gerüche,die dort
sehr starksind auf der
Straße,werden ihren
Teil beitragen“, glaubt
Judith.
InderBerliner Gegen-
wartleben Elternund
Kindfr öhlichzusammen.
Alle drei wissen das sehr
bewusst zu schätzen.Be-
stimmt liegt auch das an
den besonderenUmstän-
den der familiären Situa-
tion. Judith er zählt, dassSo-
nali ihr gutes Leben nicht als
gegeben ansieht.Auch an die-
semTag jubelt sie über den ge-
decktenAbendbrottisch „Salami
undMelone,lecker!“Sonalisbemer-
kenswertesTalent, ganz imHier und
Jetztzusein,hatmitihrerGeschichteim
Kinderheim zu tun.Bald wir dsie es wie-
dersehen.Aber alle Kinder,die dor tmit So-
nali lebten, sind inzwischen anderswo un-
tergekommen und auch dieBelegschaft ist
komplettneu.TrotzdemhofftSonali,inihrer
alten Heimat bekannteGesichte rzus ehen.
Mehrvonihren Wurzelnzufassenzubekom-
men.
Auch in denGesprächen in der Schule
ist SriLanka jetztDauerthema, wie eine
Lehrerin erzählt.Judith Richter hat dem
KindSri-Lanka-Rupienmitgebracht.Dar-
über,dass man für einenEuro fast zwei-
hundertRupien bekommt, kannSonali
nurstaunen.Soforthatsi eeinenTeilihres
Ersparten bei derMutter umgetauscht.
AuchhatsieihrerengenFreundinausder
NachbarschaftvondemGeldetwasabge-
geben. DieFreundin kommtzwar nicht
mit, aber darum geht esnicht. Sonali
weiß,dassSriLankatiefinih rsteckt. Und
alles,wasdamitzutunhat,willsiemitde-
nenteilen,dieihrwichtigsind.

tennichtverständigenkann.Jetztalso Eng-
lisch–schließlichwillsieinihrerHeimatmit
denLeutenreden.
Judith Richter holt das kleineNotizbuch
hervor,indassiebeiihrererstenReisejeden
TageinenEintragnotierte.Dererstestammt
vom3.N ovember2014.Dawardas Paarauf
demWegvonAbuDhabinach Colombound
JudithschriebandasKind,dassienochnie
getroffenhatte:„LiebeSonali,wirsitzenjetzt
imFlugzeugaufdemWegzud ir.Fliegenge-
radeüberdieWüsteimJemenundsofühlen
wir uns auch.Im Ausnahmezustand. Ein
Wechsel im Leben. Alles wirdanders wer-
den.Schonmorgen.Wirhoffensosehr,dass
wirzueinanderpassenwerden.“

ANEINEMNACHMITTAGIMAUGUSTfünf
JahrespäterwerdenHausaufgabengemacht.
DieFünfer-ReihedeskleinenEinmaleins,
rauf und runter.Mühelos rechnet Sonali,
trägtdieZahlenindieleerenKästchenihres
Heftes ein. Wenn sie umgeblätterthat,
fährtsie erst mal mit der Nase dicht
überdasneueBlatt,riechtdaranund
befühltes.
Wirsitzen nebeneinander.Sie
macht Hausaufgaben, ich ma-
che Notizen, und wirverglei-
chenunsereFüller.Dassüber
sie geschrieben wird, ist für
Sonali inzwischen zum fes-
tenBestandteilihresGroß-
werdensgeworde n.Mitih-
rerMutterhatsievoreiner
Weile alle Teile der Zei-
tungsserie hintereinan-
der gelesen.Toll, ihr Le-
ben durch dieAugen ei-
nes anderen Menschen
zu betrachten.Wenn es
nach ihr geht, kann das
so weitergehen. „Wann
schreibst du wieder über
mich?“, hat sie gefragt, als
wir uns unlängst trafen.
„Bald! Ichkomme dich be-
suchen, und dann unterhal-
tenwirunsundspielen.“
Sonalis aktuelle Leiden-
schaftistHimmelundHölle,das
Fingerspiel zum Selberfalten.
Ebenso begeistert, wie sie immer
neue Spiele faltet, spielt sie dasSpiel
mitallen,diesietrifft.InSonalisSchatz
gibt es diePapiergebilde mitGlitzerund
mit Buntstift bemalt, klein und groß.Viel-
leich tfünfzigStückliegenau fderKommode
im Wohnzimmer.Als wir spielen, sage ich
„Stopp“ undsuche mir eineZahl aus .„Du
bistschlau!“ hatSonali in denHimmelteil
hinterdieSiebe ngeschrieben.
Schlau sein ist gut.Auch Sonali ist ein
kluges Kind,sie stellt immer dierichtigen
Fragen. Aberim Lebengiltesauch,Gefühle
zubewältigen.Dasistman chmalschwieri-
ger,als das ,was den Verstand betrifft.Be-
stimmt teilt sie nicht alles mit, was ihr
durch Kopfun dHerzgeht,wennsieanSri
Lanka denkt.Ihre Tochterhänge oft ihren
Gedankennach,erzähltJudithRichter.Die
anstehende Reise ist für alleBeteiligten
eine wichtigeEtappe –Bilder undErinne-
rungen werden aufgefrischt, dieBalance
zwischendenbeidenHeimatendesKindes
gerät inBewegung, Neue Entwicklungen
werdenangestoßen.
JudithRichtererzähltandiesemNachmit-
tag beimKaffee,wie sehr Sonali aus dem
Häuschenwar,alssieerfuhr,dassdie Flugti-
cketstatsächlichgebuchtwaren.„Mama,fühl
mal meinHerz“sagte sie und legteJudiths
Hand auf ihreBrust.Heftigstes Herzklopfen,
denganzen Tag,bisindenAbendhinein.

Zurücknach Colombo


Sonali kam2009 inSriLanka zurWelt.Das Mädchen wurdevon seiner Mutternach
der GeburtimKrankenhauszurückgelassen, dieleiblichen Elternsindunbekannt.

Der ersteKontaktzwischen den beiden heutigenAdoptivelternund Sonali kam
durch den BerlinerVerein„Elternfür Kinder“ zustande.DerVereinist eine staatlich
anerkannteVermittlungsstelle in freierTrägerschaft. Einen Monat lang besuchte das
Berliner Ehepaar das Mädchen zweimal täglich im Heim. Im Dezember 2014 stimmte
das Familiengericht in Sri Lanka der internationalen Adoption zu.

Seit Sommer 2016besucht Sonali eine Grundschule in Berlin.Aufgrund ihrer
Sehbehinderung hat sie einen Integrationsstatus und wird proWoche20Stunden
vormittags und 20 Stunden nachmittagsvonIntegrationspädagoginnen begleitet.

Dies ist der fünfteTeilder Geschichte über die AdoptionvonSonali.
Der ersteTeil erschien am 7. März 2015, der zweite am 9. April 2016, der dritte am


  1. April 2017, der vierteTeil am 7. April 2018.


Alle Namen sind aufWunsch derPersonengeändertworden.

Wo

istz uHause,Sonali?


SeitfastfünfJahrenlebtdasMädchenaus


SriLankabeiihrenAdoptivelterninBerlin.


NunreistesbalderstmalszurücknachColombo


VonAnna Opel

Anna Opel
möchte irgendwann mal selbst imTuk-
Tukdurch Sri Lanka fahren.

Muskatnussbaum auf dem Karibikeilands Grenada, der früheren französischenKolonie La Grenade. Um 1780 entstanden dortdie ersten Plantagen. Inzwischen ist die Muskatnuss sogar imWappen des Inselstaats. MAIKE RADEMAKER, IMAGO IMAGES (2)


PRIVAT

DerRitter

derMuskatnuss


Gourmetsweltweitfeiernden300.GeburtstagdesAbenteurers


undlegendärenGewürzschmugglersPierrePoivre


VonMaikeRademaker

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