Berliner Zeitung - 17.08.2019

(Sean Pound) #1

MehrPomp wagen


WährendMaxProsaderbestedeutscheLie-
dermacher ist, den keiner kennt, hat sich
MissPlatnumeinenziemlichgroßenNamen
gemacht,ohnedassmansogenauweißwo-
für.DembreitenPublikumistdieimrumäni-
schenTemeswargeboreneBerlinerin voral-
lemalsbalkaneskeSchrulleinVideosvonPe-
ter Fox, Marteria undHaftbefehl bekannt.
Womöglich auch alsJurorineiner Casting-
showimTrash-TV. IhrAlbum „TheOpera“
hatnunmitalldemehernichtszutun,auch
vonihrem Partner mitNamen Bazzazian
werdendie wenigstenschongehörthaben–
und wenn, dann führtder Hinweis ,dass er
schon dieMikrofonevonharten Jungs wie
Azad oderKontraKüberwacht hat, auch
nichtweiter.Denn„TheOpera“isteinAlbum
vollentschlossenüberspanntemBreitwand-
pop,durchdensichdieSängerinmalmitEn-
gelsstimme croont, mal mit auto-getuntem
Gejodel,unddasGanzeaufEnglisch,sodass
esklingt,alshättemanKateBushdurchein
Wurmloch gejagt.Oder zumindest wie der
ehrenwerteVersuch,Pferdemädchenroman-
tikmitderartifiziellenSmartness vonJames
Blakezu versöhnen.Dasistnatürlichvollauf
derHöhederZeit,hörenswertand erGrenze
zum Hitverdächtigen sowieso,komposito-
risch jedoch zumGlück durchweg einen
Halbton zu cool,
um in derFormat-
radiohölle zu lan-
den.

Miss Platnum &
Bazzazian:
The Opera
Urban/Universal

Im Bett und anderswo


DorisAnselm,Open-Mike-Gewinnerin2014
und Verfasserin vonErzählungen, widmet
ihren erstenRoman dem ThemaSex. In 13
Kapiteln schilderteine Ich-Erzählerin ihre
BegegnungenmitihremRechtsbeistand,ei-
nemCallcenter-Mitarbeiter,einemUmzugs-
helfer,einemTantra-Masseur und anderen.
Mitkeinem hat sie eine engereBeziehung,
sie ist vorallem an derLust interessiert.Sie
erlebt vorwiegend Erfreuliches,jaB eglü-
ckendes.Man oder frau kann das inZeiten
der#MeToo-Debattezuoptimistischfinden,
derRomansetztaufNeugier,Mutundletzt-
lichVertrauenzwischendenGeschlechtern.
BedenkeninSachen„dasgehörtsichnicht“
kontertdieErzählerinso:„Wennduglaubst,
dassichfüretwas,dasichwill,zuschadebin,
glaubstdui nWirklichkeit,dassesegalist,was
ichwill.“Anselmexperimentiertleichthändig
mitdemFormatPornografie .SieschildertEr-
regung, aber auchAufregung,Unsicherheit,
Peinlichkeit undKomik, ihr eErzählerin re-
flektiertgenau, was sie tut–auch vordem
HintergrundfeministischerDebatten.Voral-
lem findet sie anschauliche,oft bestechend
schöne,stetspräziseFormulierun-
gen für das,was geschieht.
Schreiben über Sexist
eine unterentwickelte
Kunst, insbesondereaus
weiblicher Perspektive.
Dieses Buch zeigt, wie es
gehenkann.


DorisAnselm: Hautfreundin
Eine sexuelle Biografie. Roman,
Luchterhand, München 2019,
255S., 20 Euro.

6 17./18. AUGUST 2019


BERLIN


MutzurMelodie


MusikersindgernemalaufderSuche:nach
Clues,nachFreiheit,nachdemperfekten
Beat.MaxProsaausNeuköllnhatdasSuchen
zumProgrammgemacht.„Hierdraußenist
kein Empfang für das,was anderesagen“,
singterauf„DieSuche“,demzentralen Song
seinesneuenAlbums,„hierdraußenistkein
Empfang für denFunk der Welt.“ In einer
Welt,derenBefindensichinSmileys,Herzen
und anderen Instant-Emotionen misst,
sucht er nach bleibendemHeil: „Ich suche
nach einemFunken vomhöheremGlück“,
heißtesimRefrain,wassichkitschigerliest,
alsesklingt.DennMaxProsaverstehtseine
Suche auch als musikalischesAbenteuer,
weshalbsichholperndeGroovesmitperlen-
denPianoläufenabwechselnundharteGitar-
renmit 20er-Jahre-Kaffeehaus-Klavier.Das
allesmitdemDuktusschwärmerischerVer-
zagtheit,die an ReinhardMey,auch an Rio
Reisererinnert,alsosehrberlinischist–aber
mitdemHangzumganzgroßenPop,wieihn
sich kaum einer traut in Deutschland:mit
Violinen, Mandolinen,Mutzur Melodie.So
gelingtihmauch„Fieber“,dasschönsteun-
peinlichedeutscheLiebesliedseit Ewigkei-
ten –genauso wie „Brüder &Schwestern“,
das Kunststückeiner trunken shuffelnden
Weltverbesserungshymne:„Kein Gott wird
unsretten“,heißtes
da, „kein Held uns
befreien. Wirmüs-
sen es selber sein.“
GuterMann.

Max Prosa:
Mit anderenAugen
ProsaRecords/Tonpool

VonChristianSeidl

WieamS chnürchen


BurkhardSpinnenskalkuliertkonstruierterUnternehmerroman„Rückwind“


E


sistgutzwanzigJahreher,dassder
SchriftstellerBurkhardSpinnenan-
gefixtwurdevomdeutschenUnter-
nehmertum –als er nämlich den
Chef eines schwäbischenPräzisionsmaschi-
nenherstellerskennenlernteundsichdessen
Lebens-undFirmengeschichteerzählenließ,
woraus schließlich das 2003 erschienene
Buch„DerschwarzeGr at“wur de,einfesseln-
desStückDokufiktionganzeigenerArt.Nun
hat Spinnen, unterdessen um einigeErfah-
rungen alsIngeborg-Bachmann-Oberjuror
undeinpaarLiteraturpreisereicher,sichdes
Themas „Was treibt der/denMittelstand?“
erneut angenommen. In seinem Buch
„Rückwind“ bemüht er sich nach Kräften,
dem Genredes Unternehmerromans eine
originelleVariantehinzuzufügen.
Entgegen weit verbreitetenBehauptun-
genistdiesesinderdeutschenGegenwartsli-
teraturjagarnichtmalsoselten;einschlägig
hervorg etreten sind beispielsweiseDieter
Wellershoff, Ulrike Kolb,Rainald Goetz,
Ernst-Wilhelm Händler undNora Bossong.
Meist ist einUnternehmerroman zugleich
nochetwasanderes,weilalleinvonBilanzen
undMarktstrategienzuerzählen,vonRisiko-
kapital undEffizienzsteigerung, demAutor
das Gesicht einschlafen ließe–und seinen
Lesernumsomehr.Spinnenmachtdakeine
Ausnahme.WoderjungeThomasMannmit
dem Niedergang einesUnternehmens zu-
gleich denVerfall einerFamilie und eine
ebenuntergegangeneWeltschilderte(„Bud-
denbrooks“)undderalteMartinWalser(„Ein
sterbenderMann“) die ökonomischePleite
als Folie einer Lebenspleite nutzte,greift
BurkhardSpinnen,Jahrgang 1956, zu einer
biblischenVersuchsanordnung,umdemLe-
ben seines Helden, desWindrad-Pioniers
HartmutTrössner,TiefeundSchwerezuv er-
leihen.Dasgelingtnurbedingt.
Trössner,darausmachtdasBuchvonAn-
fangankeinerleiHehl,ergehteswieHiobim
Alten Testament. „Alles verloren“ ist das

Motto seinerExistenz, als eine immerfort
sich aufspielende,rätselhafteErzählinstanz
dieLesermitdiesemSchmerzensmannun-
serer Tagebekanntmacht,imHitzesommer


  1. Biszum 9. AprildesselbenJahres war
    Trössner ein überaus erfolgreicherFirmen-
    eignermitattraktiverFrau,Kindundtollem
    Haus.Dann aber besiegelte die chinesische
    KonkurrenzdasSchicksaldesTrössner’schen
    Unternehmens,und innerhalb weniger
    Stunden wurdenSohn, Ehefrau undHaus
    zumRaubvonEreignissen,derenCharakter
    derRomanerstganzallmählichenthüllt.
    NachalldemistderGebeutelteerstinder
    Psychiatrie gelandet, dann hat er sich in ei-
    nemschäbigenHotelversteckt,nichtnurvor
    möglichenGläubigerforderungen, sondern
    auch vorder Neugier einervoye uristischen
    Öffentlichkeit.TrössnersGattinnämlichwar
    eine der bekanntesten Schauspielerinnen


„Alles verloren“: Held und Schmerzensmann in Burkhard Spinnens „Rückwind“ ist ein deutscher Windrad-Pionier. DPA/PATRICK PLEUL

VonJulia Schröder


Burkhard Spinnen: Rückwind
Roman. Schöffling&Co., Frankfurt/Main 2019.
400 S.,24Euro.

des Landes,Hauptdarstellerin einerTV-Se-
rie, mit der das verschnarchte deutsche
FernsehenendlichWeltniveauerreichthat.
Undnun fähr tTrössner,zum Erstaunen
seinesteuflisch-englisch-therapeutischdau-
erquasselndenErzählbegleiters,nachBerlin.
Musstemanebennochbefürchten,erwolle
sich mithilfe einer Pistole,die einem un-
wahrscheinlichenZufall sei Dank in seine
Händegelangtwar,dieKugelgeben,wirkter
nunzunehmend,alshabeereinenPlan.Und
dann lernt er imZugauch noch eine junge
Frau kennen, mit der er ein ausgeklügeltes
Arrangement zwecks gegenseitiger Lebens-
erzählungtrifft,Sich-Verliebeninbegriffen.
In der Hauptstadtverschwimmenvoll-
endsdieGrenzenzwischendem,wasderLe-
serfür Realitätzuhaltengeneigtwar,undder
Fernsehserie(fürdieTrössnerselbstalsPro-
duzent firmierte).Diedreht sich zu allem
Überfluss um den unaufhaltsamenAufstieg
einerrechtspopulistischen„ParteiderPoliti-
schen Christen“, die allerdings mit Gott
nichts amHuthat.Womit wir wieder beim
Thema Hiob wären.Mitwem über das
„Warum“deseigenenschlimmenGeschicks
hadern, wennder Himmelleergeräumtist?
DieFrage ist ja keine triviale.Aber Burk-
hardSpinnentobtseineLustanderabwegi-
gen Pointe wie seineBegabung für kluges,
immer ein bisschen eitlesDampfgeplauder
so enthemmt aus,als habe nicht seinHeld,
sonderners elbstzulangunterüberfürsorg-
licherVormundschaftgestanden.
Undwozudasalles?DiegroßeKlagedes
nachmetaphysischenHiobTrössnerwirdzur
Spielmarke,beliebig in dieLuft geschnippt
und„gekonnt“wiederaufgefangen.Dievor-
geführtenTricks,KniffeundVoltenscheinen
sehrbaldwichtigeralsdiemiteinigemAuf-
wand konstruiertenFiguren. Dieaber mar-
schieren wie am Schnürchen Richtung
Knalleffekt, auf den die Handlung von
„Rückwind“zustrebt–nachallenRegelndes
Kunsthandwerks.

OL


FRAU UND MANN


AufRettungsmission


DorisKnechtsSpezialgebietistderscharfe
BlickaufslinksliberaleÖsterreich:Inihren
RomanenwerdenhübscheAltbauwohnun-
gen,progressiveKulturschaffendeoderVor-
zeigemütter in Öko-Schrebergärten auf ihre
spießigen bis aberwitzigen Stellen abge-
klopft. In ihrem neuestenBuch betreibt ein
Wirt namensGeorgeinen Bio-Gasthof wie
aus demWeltretterbilderbuch.Georghat
Frauund KindersowiemitExHeidi,dieinei-
nerdeutschenVorortsiedlunglebt,einewei-
tereTochter.Als die in Südostasienver-
schwindet, macht sich das ehemaligePaar
auf die Suche.Denn das erwachseneKind
leidetaneinervonDrogenausgelöstenPsy-
chose,was der Vater jahrelangvonfern, die
Mutter vonnah erlebte.Knecht erzähltvon
dieser Rettungstour durch Vietnam und
Kambodscha,zeigt uns die Dynamik zwi-
schen den ungleichenElternund die Ab-
gründejederReiseineinarmesLand.Sietut
es einerseits mit gewohnt spitzerFeder,an-
dererseitszeigt sie sich auch überraschend
milde,jap räsentierteinversöhnliches,hoff-
nungsfrohesEnde mit Palmendekoration
und Meeresrauschen. Vielleicht
liegtdasandenernstenThe-
men (Elternliebe! Krank-
heit! Globale Ausbeu-
tung!)undvielewerdenes
mögen. Aber man reibt
sichschondieAugenund
fragt, wo die bissige
Knechtabgebliebenist.


Doris Knecht: weg
Roman, Rowohlt Berlin 2019.
301 S.,22Euro.

VonSabineRohlf
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