Berliner Zeitung - 17.08.2019

(Sean Pound) #1

Politik


4 * Berliner Zeitung·Nummer 190·17./18. August 2019 ·························································································································································································································································································


ZurückaufLos


ElfWochennachdemRücktrittvonAndreaNahlesistdieSPDdortangekommen,wosieschoneinmalstand:beiOlafScholz.DerwillnundochParteichefwerden


VonAndreas Niesmann
und Gordon Repinski

B


ei dem BrettspielMono-
poly gab es früher eine
Ereigniskarte.Für Spieler,
diesie zogen,wardieKarte
eine Strafe.„Gehen Siezurück auf
Los.Gehen Siedirekt dorthin.Zie-
hensienicht4000DMein.“
Wennmansowill,hatdieSPDbei
dem großenSpiel, an dessenEnde
eine neueParteispitzestehen soll,
gerade dieseKartegezogen. Es geht
zurückaufLos.Dasheißtindiesem
Fall:zurückzuOlafScholz.DerBun-
desfinanzminister,Vizekanzler und
stellvertretende SPD-Chef bewirbt
sichumdenVorsitz.Esistdergleiche
Mann,derdieSPDindenverg ange-
nen eineinhalbJahren zusammen
mitAndreaNahlesgeführthat.
ScholzbietetderParteinunetwas
an, das sie bereits hatte.Anders als
beim Monopoly muss darin aber
nicht unbedingt eineStrafe liegen.
DieKandidaturvonScholz könnte
sogareineChancesein.DieChance,
dassdasRennenumdieSPD-Spitze
nun doch noch spannend wird.
Manch ein Konflikt, der bislang
überdecktwurde,wirddurchScholz
scharfgestellt.
Für viele war dieNachricht, die
derSpiegelamFreitagvormittagver-
breitete ,eine faustdicke Überra-
schung. „Ich bin bereit anzutreten,
wenn ihr das wollt“, soll Scholz am
MontagdenkommissarischenSPD-
Chefs Manuela Schwesig, Malu
Dreyer und Thorsten Schäfer-Güm-
beltelefonischmitgeteilthaben.Wi-
derspruch habe es nicht gegeben,


berichtete dasMagazin. Manch ei-
ner wollte dieMeldung gar nicht
glauben.AusgerechnetOlafScholz.
Einen Neuanfangverk örpertder
61-Jährige frühereHamburger Bür-
germeister nicht.Im Gegenteil: Für
viele Genossen steht Scholz gera-
dezu sinnbildlich für alles,was
schiefgelaufen ist in der SPD.Die
ListederKritikpunkteseinerGegner
istlang: Nahles-Intimus,Seeheimer,
Apparatschik, Karrierist. Nur59,
Proz ent der Stimmen bekam Scholz
bei der letztenWahl zum SPD-Vize
aufdem Bundesparteitagvoreinein-
halb Jahren. Daswar fast schon ein
Misstrauensvotum.
Außerdem hatte Scholz noch am
Tagdes Nahles-Rücktritts erklärt,
warum er nicht für das Amt eines
kommissarischen Parteichefs und
schongarnichtfürdaseinesgewähl-
ten Vorsitzenden zur Verfügung
stehe.Als Bundesfinanzminister sei
das„zeitlichnichtzuschaffen“.Das
allessprichtgegenScholz.
Es gibt aber auch Argumente für
ihn:Eristals Ministerunumstritten,
seineBeliebtheitswerteinderBevöl-
kerungsindgut–underhatWahlen
gewonnen.Nurwenigeinderersten
Reihe der SPD können dasvonsich
behaupten. Daswichtigste Argu-
mentfürdieKandidaturvonScholz
ist allerdings ein anderes:Siebe-
wahrtden Proz ess der SPD-Vorsit-
zendensuche davor,völlig zurFarce
zuverk ommen.
Bislangsindesa llenfalls politi-
scheLeicht-undMittelgewichte,die
sichbereiterklärthaben,dieSPDzu
führen, die meistenvonihnen ste-
hen für einen strammen Linkskurs.

MitScholzbetrittnuneinSchwerge-
wichtdenPlatz.Einerklärter Vertre-
ter des pragmatischenFlügels.Und
einer aus der erstenReihe.Viele in
der SPD hatten sehnsüchtig darauf
gewartet. DieFrage ist nun, ob
Scholz der richtige Kandidat für
dieseGenossenist.
Scholz, so hörtman aus seinem
Umfeld, werdedie Kandidatur An-
fang derWoche erklären.Er werde
nichtalleine,sondernmiteiner Frau

antreten.Undseine Ämter alsVize-
kanzlerundFinanzministerwerdeer
selbstverständlich behalten. Scholz
wirddieFragebeantwortenmüssen,
woherdieZeitfürdenBewe rbungs-
prozessmit23Regionalkonferenzen
kommen soll.Undwas seinenMei-
nungsumschwungausgelösthat.
Menschen, die ihn gut kennen,
sagen, er habe unter demZustand
und demErscheinungsbild der SPD

in den verg angenenTagen undWo-
chenextremgelitten.DieAussageist
glaubwürdig,Scholzistseit44Jahren
MitgliedderSPD.Auchsollenihnzu-
letzt zahlreicheGenossen zu einer
Kandidaturgedrängthaben.
Vorallem die SPD-Mitglieder im
Bundeskabinett sollen ihreVerant-
wortunggespürthaben,derBasisein
Angebotzumachen.DerSpiegelbe-
richtet über einvertraulichesTreffen
vonOlafScholz,HeikoMaasund Hu-

bertus Heilam vergangenenSonntag.
Alledreihabenzuletzterkennenlas-
sen, dass sie mit derBewe rbersitua-
tion alles andereals glücklich sind.
VorallemArbeitsministerHeilkonnte
seinenFrustüberdieLagekaumver-
bergen. DabeispieltaucheineRolle,
dassdas Verhältn iszwischenHeilund
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil,
der selbst mit einerKandidatur lieb-
äugelt,belastetist.

„Ich bin bereit anzutreten,


wenn ih rdas wollt.“


Olaf Scholz
laut Spiegel in einerTelefonkonferenz mit denkommissarischen
SPD-Vorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel, Malu Dreyerund Manuela Schwesig

In der SPD ist es ein offenesGe-
heimnis,dassHeilKlingbeilalsSPD-
Vorsitzenden verhindernwill. Öf-
fentlich sprach sich der Nieder-
sachse für LandeschefStephanWeil
aus,selbstalsderinternschonabge-
wunkenhatte.
DurchdieKandidaturdesFinanz-
ministersgingamFreitagweitgehend
unter,dass mit dem niedersächsi-
schen Landesinnenminister Boris
Pistorius noch einweiterer Vertreter
des pragmatischen Parteiflügels in
das Rennen um dieSpitzeeingreift.
Pistoriuskandidiert,wieerwartet,im
TandemmitdersächsischenIntegra-
tionsministerinPetraKöpping.
Pistorius gilt in der niedersächsi-
schen SPD alsKandidat auf eigene
Rechnung. LandeschefStepha nWeil
lobtih nzwaröffentlich,eineformelle
Unterstütz unga bersprichterbislang
nichtaus.Esh eißt,der Ministerpräsi-
dent hätte es lieber gesehen,wenn
Pistorius sich auf seinenJobind er
Landesregierung konzentrierthätte.
Denn sollte Generalsekretär Lars
Klingbeil seineKandidatur erklären,
würden zweiNiedersachsen inKon-
kurrenz zueinander stehen. Solche
Situat ionenschätztWeilnicht,zumal
ersichauchselbsteinHintertürchen
füreine Kandidaturoffenhält.
ImVergleichzu Weil,Klingbeilund
Scholz hat Pistoriuseinen Wettbe-
werbsvorteil: Er hateine überzeu-
gendeFrauanseinerSeite.PetraKöp-
pinggiltinderSPDalsHoffnungsträ-
gerin, vorallemindenostdeutschen
Landesverbänden bekommt sie viel
Zuspruch. DasDuo Pistorius/Köp-
ping gilt deshalb im bisherigenKan-
didatenfeld als Geheimti pp.Die

Frage,mit welcher Frau an seiner
Seite Olaf Scholz insRennen gehen
wird, ist noch offen.Ziemlich sicher
wirdese ineVertreterinausderzwei-
ten oder drittenReihe werden, denn
die prominentenSozialdemokratin-
nenhabenallesamtabgewunken.
Zuletzt erklärte am Donnerstag
FamilienministerinFranziska Giffey,
dasssiedefinitivnichtzurVerfügung
stehenwerde.Si ewolleden Kandida-
tenprozess nicht durch das laufende
Prüfverfahren gegen ihreDoktorar-
beitbelasten,teiltedieBerlinerinmit.
In Mecklenburg-Vorpommern
hatte Ministerpräsidentin Manuela
SchwesigaufGiffeygesetzt,auchum
sich selbst denDruck vomLeib zu
halten. Schwesig bringt alleEigen-
schaftenmit,diesichdieSPDfürihre
Chefin wünscht:Sieist verg leichs-
weisejung,telegen,stammtausOst-
deutschland,verfügt überMachtbe-
wusstsein undDurchsetzungsfähig-
keit.HätteSchwesiggewollt,hättean
ihr keinWegvorbeigeführt. Doch
SchwesigwinktegleichzuBeginndes
VerfahrensmitHinweisaufdieAufga-
ben im eigenen Landesverband ab.
Undanders als andereSPD-Spitzen-
kräftestehtsiezuihremNein.
Dass weder Schwesig nochGiffey
antreten, stellt auchGeneralsekretär
LarsKlingbeilvoreinProblem.Kling-
beilsuchtimmernochnacheinerLö-
sung, die möglichst alleParteiflügel
aufdenErneuerungswegmitnehmen
würde .Beide Kandidatinnen wären
geeignet gewesen–jetzt muss der
MannausdemHeidekreisneuüber-
legen.DochdasstehtmitderKandi-
daturvonOlafScholzohnehinan.
ZurückaufLoseben.

Wasistlosmitdir,


Berlin?


LiebeYael,


ich schreibe dir aus demFlugzeug
nach TelAviv,Platz 24 H, amGang,
wieimmer.Alexsitztaufderanderen
Seitedes Ganges.Auchdasistimmer
so.Irgendwann nach dem 11.Sep-
tember,alsich Flugangsthatte,habe
ich uns diese Sitzordnung ange-
wöhnt. Wirsitzen nebeneinander,
können aber trotzdem aufspringen,
wennGefahrdroht.
Ichhabe keineFlugangst mehr.
Für mich ist das immer wieder eine
Überraschung.Wenn das Flugzeug
abhebt, horche ich in mich hinein,
warteaufsHerzklopfen,darauf,dass
sich meine Muskeln anspannen,
mein Atem schneller wird.Aber da
istnichts.KeineAngst,nichteinbiss-
chen Nervosität. Ichkann mich zu-
rücklehnen und überverschiedene
Dingenachdenken.MeinenBluttest
zumBeispiel,denichimUrlaubma-
chen ließ. AlleWertewaren in Ord-
nung, nur mein Vitamin-D-Wert
nicht.Ausgerechnet.VitaminDwird
vomKörper produziert,wenn man
inder Sonneist. InIs raelgibtespro
Jahr 3500 Sonnenstunden, in


und Strähnen besser sparen sollte,
begann mir dasGanzelangsam ein
wenigunheimlichzuwerden.Wurde
ichvoneinerverstecktenKamerabe-
obachtet?Warmein Berlin-Urlaub
Teil eines soziologischenFeldversu-
ches,vondemichnichtswusste?
AufdemFlughafengingesweiter.
Alex und ich gerieten an den nettes-
ten israelischen Sicherheitsoffizier,
derunsjebegegnetwar.Erstelltesich
alsBorisvorundnannteunsAlexan-
der und Anja. Als wären wir alte
Freunde.Ich sagte gerade zu Alex,
dassMenscheninungewissenZeiten
vielleicht enger zusammenrücken,
alsichplötzlicheinenStoßimRücken
fühlte und sich einMann im Cam-
pinghemdanmirvorbeischob.
„Hey“, riefich,„Siehabenvorg e-
drängelt!“DerManndrehtesichum,
seinBlickwarfinster.„Idiotin!“,mur-
melte er und liefweiter.Ich war
sprachlos,dannmusst eich lachen.
DerUrlaub warvorbei. UndBerlin
immernochBerlin.
Über die Ankunft inTelAviver-
zähleichdirbeimnächstenMal.

DeineAnja

TelAviv–Berlin


Deutschland nicht mal halb so viel.
MeinVitamin-D-WertmüssteSpitze
sein,istabersoniedrig,dassichjetzt
Tabletten nehmen muss,die das
Sonnenlichtersetzensollen.
Einanderes Paradox, das mir in
meinemHeimat-Urlaub aufgefallen
ist, ist die neueTierliebe derDeut-
schen. Keine „Tagesschau“ oder
„Heute“-Sendung, ohne dass min-
destens ein Schwein oder eineKuh
überdenBildschirmflimmertundan
den Klimawandel erinnertwird.
Trotzdem habe ich nicht denEin-
druck,dassdieLeutewenigerFleisch
esse noder sich über alternativeVer-
kehrsmit telwieTretrollerfreuen.Be-
geistertbin ich vonden neuenRad-
wegeninderStadt. Unglaublich,wie
vieleesaufeinmalgibt,wievielPlatz
manalsRadfahrerplötzlichhat.
Ammeistenaberhatmichbeein-
druckt,wiefreundlichallezumirwa-
ren. Ichweißnicht, wie es dir geht,
Yael,aberichhabedasGefühl,inden
anderthalbJahren,dieichnichtmehr
hier lebe,hat sich dieS timmung in
der Stadtverände rt.Autofahrer be-
danken sich,wenn sie vorg elassen
werden,Verkäufe rlächeln und hel-

fen,wennmanetwasnichtgleichfin-
det.ImMedia-MarkthateinVerkäu-
fermitEngelsgeduldanmeinemAu-
tosc hlüssel herumgefummelt.Die
Batterie nwaren al le,das Fach
klemmte .Irgendwannschaffte er es,
nahmdiealtenBatterie nraus,setz te
dien eueneinundschicktemichmit
derleerenPackungunddenWorten:
„IchvertraueIhnen“zurKasse.
Unser Auto is tnicht mehr das
neueste.AlsmirkurzeZe itspäterdas
Nummernschildabfiel,warensofort
Polizisten zurStelle,hoben es auf
undgabenesbeiunserenNachbarn
ab.Bevorichüberhauptmerkte,dass
ichohneNummernschildunterwegs
war,hatte ic hberei ts verschiedene
Nachrichten auf meinem Anrufbe-
antworter.UndkeinenStrafzettel.Als
mirdannauchnocheineNachbarin
ineiner Notlageaushalfundfüreinen
Tagihr Auto borg te,ein Freund der
Nachbarin,mitdemichvorhernoch
nie ein Wort gewechselt hatte,den
neuenFernsehe rimWochenendhaus
installierte,und mich meine Fri-
seurin wiederwegschickte,weil sie
fand,dassmeineHaaregutaussehen
und ich mir die 80Euro für Schnitt

Die Bewerbungsfrist bei der SPD läuft noch bis zum 1. September.Die neueParteispitze soll dann in einer Mitgliederbefragung bestimmt und auf einemParteitag Anfang Dezember gewähltwerden. SEAN GALLUP/GETTY IMAGES


Anja Reich
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