Berliner Zeitung - 17.08.2019

(Sean Pound) #1
Berliner Zeitung·Nummer 190·17./18. August 2019–Seite 9
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Berlin

KeinMädchenimKnabenchor:MutterscheitertmitihrerKlageSeite 12


KeinRohrstockimKlassenzimmer:ZuBesuchimSchulmuseumSeite 15


E


inaufmerksamerBeobach-
ter kann dasBesonderein
Klein-Glien bereits an den
Kleinigkeiten erkennen.
Etwa an den ungewöhnlich vielen
Autos,dievordemaltenGutshofmit
derdickenEichevorderTürstehen.
Anden Kennzeichenlässtsichable-
sen,dassihreBesitzerausMünchen,
Hamburgund Berlin kommen.Das
sind nicht die üblichen Gäste eines
LandgasthofsimFläming,einerGe-
gendimSüdwestenBrandenburgs.
DrinnenhatderGeruchnachEs-
sen gerade junge Leute zwischen
20und 40Jahren angelockt.Eben
noch saßen sievoraufgeklappten
LaptopsinallenmöglichenWinkeln
desHauses,ind erBibliothekimOh-
rensessel, draußen zwischenSon-
nenblumen und blühendem Ore-
gano,imG artenzimmer,womanan
kleinen Tischen ganz für sich sein
kann.SiehabenKonzepteausgebrü-
tet,Strategienverabredet,anTexten
gefeilt. Nunstehen sievorTöpfen
mitdampfendemReis,Hummus,Jo-
ghurt, Salatund Gemüseeintopfund
unterhalten sich.Manspricht sich
beimVornamenan.Esgibtvegan.Je-
dernimmt,sovielerwill.Dasistim
Preisinbegriffen,wennmansichan
diesemOrtzumArbeiteneinmietet.
DasalteLandgutvonKlein-Glien
ist in denverg angenen zweiJahren
einPlatzzumArbeitenfürMenschen
geworden,diedafürschnellesInter-
netundeineUmgebungmitGleich-
gesinnten brauchen.„Relax and get
some workdone“, also entspannen
und dabei auch noch etwas Arbeit
erledigen, das ist dasMotto hier .Es
gibt Schaukeln in den Bäumen als
Sitzgelegenheiten, eineSauna und
einriesigesWasserbeckenmiteinem
Schlauchboot darauf. Möbel und
Geschirrwirkeneherzusammenge-
sucht,aberdasgehörtzumKonzept.
InBerlin,in Mitteoder Prenzlauer
Berg wäredieser Co-Working-Space
mit dem klingendenNamen Coco-
nat nichtsBesonderes.Ind er Nähe
vonBad Belzig, 100Kilometervor
der Großstadt, erwartet man etwas


anderes .UnddochliegendieDigital-
nomaden vonCoconat auch auf
demLandvielleichtvollim Trend.
Dasjedenfalls untersucht eine
Studie,die zu Beginn dieserWoche
vomBerlin-Institut fürBevölkerung
und Entwicklung und derInitiative
Neuland21 vorg estellt wurde.„Ur-
baneDörfer“istderTitelundesgeht
darin um ein interessantesPhäno-

men. Offenbar führtdie Tatsache,
dassBerlinwächstunddieStadtim-
mer voller und teurer wird, während
historischeGebäude und Höfe mit
LändereieninBrandenburgundden
anderen Ost-Ländernleer stehen,
weil dor timmer weniger Menschen
leben, bei fortschreitenderDigitali-
sierung zu neuenWohn-, Arbeits-
und Lebensmodellen. 18 Projekte
wurdenuntersucht,dierundumund
ausgehendvonBerlinbisnachSach-

burtshilfestation befindet sich fast
50 Kilometer entfernt. „DieInfra-
strukturistschwierigundmanmuss
dasruhigeLebenmögen“,sagtsie.
Julianne Becker kommt aus den
USA.SiehatKunstund Filmstudiert,
inVietnamgelebt,kamzumArbeiten
nachBerlinundbeschäftigtesichmit
Co-Working undStart-ups .Coconat
hatsiemitdreiBerlinerFreundenge-

gründet. „DieIdee entstandvorsie-
ben Jahren. Damals begann man in
Berlin über Überfüllung zu reden,
aber es war noch keinTopthema so
wie jetzt.Wirhaben diskutiert, aufs
Land zu ziehen, wo esNaturgibt“,
sagt Julianne.Sie wollten dortaber
nicht nur wohnen, sonderneinen
PlatzzumArbeitenfürMenschenaus
der Großstadt in derNaturschaf fen.
2015 machten sie einen erstenVer-
such imHavelland, aber es gabPro-

Julia Haak
siehtVorteile im entspann-
tenArbeiten auf dem Land.

senundThüringenindenverg ange-
nenJahrenentstandensind.Eswurde
erfragt, was die jungen Leute aufs
Landgebrachthat,warumsieinalten
FabrikenundMühlen,Klöstern,Kon-
sumlädenundPlattenbautenandere
Wohn- und Arbeitsformen auspro-
bieren, was sievorg efunden haben
und was sie bräuchten.Untersucht
wurde ,welche Auswirkungen die

NeuenaufdieOrtehabenundobihre
Projekte zu einerBewe gung „raus
aufs Land“ führen.Coconat ist eins
dieser18Projekte.
Julianne Becker hat es mit ge-
gründet. An diesemTagsitzt sie mit
ihrem Essen imGartenzimmer.Sie
ist40 Jahrealtundmitihremzweiten
Kind schwanger.Letzteres lässt sie
gerade ein bisschen zweifeln an der
Entscheidung, auf dem Land zu le-
ben,denndienächsteKlinikmitGe-

blememitdemInternet.„Dabeihabe
ichgelernt,dassmannichteinenOrt
suchenkannunderwarten,dasses
dortInternetgibt,manmussumge-
kehrtvorgehen“,sagtsie.„Vorallem
imländlichenRaumderneuenBun-
desländeristnochimmerderAn-
schluss answeltweite Netz un zurei-
chend. Hier liegen besonders viele
Landkreise,ind enennichteinmaldie

HälftederHaushaltemitmindestens
50 Megabit proSekun de surfen
kann“,heißtesinderStudie.
InKlein-Glienverläuftdiedigitale
Hochgeschwindigkeitsleitung über
das Coconat-Areal.DieInternetver-
bindungseibesseralsinFriedrichs-
hain,sagtJulianne.DasWG-Zimmer
dorthatsi ebehalte n,umabundan
inder Stadtzusein,woaberdieViel-
zahlderNutzerdieQualitätderDa-
tenverbi ndungeinschränke.

EsgibtkeinProgrammimCoco-
nat.„90ProzentallerMenschenar-
beitenmitanderenbesseralsallein.
Menschen,diezuunskommen,ar-
beiten an verschiedenen Dingen,
manchebleibeneinpaarTage,treffen
andere,stellenihnenihreProjektevor
und bekommenFeedback .Manche
bleibenfürWochen.Wirhabenauch
Gruppen“,sagtJulian ne.Bezahltwird
fürden Platzzum Ar beiten, fürs
Über nachten undEssen. Mankann
ein Hotelzimmer imHaus nu tzen
oder campen. 75Proz ent der Gäste
kommenausBerlin,der Restvonwei-
terher .MittlerweileträgtsichdasPro-
jekt selbst undhat Angestellte,zwei
HektarLandundeineScheunesollen
auchnochgestaltetwerden.
AlsFremdkörper fühlen sich die
Coconater imFläming nicht.Von
Anfanganhattensiegeplant,sichin
der Region zu vernetzen. Mittler-
weileveranstaltensieDorffeste,neh-
men amFläming-Talk teil und wur-
den regional für engagiertesUnter-
nehmertumausgezeichnet.
InBadBelzigistpassiert,wasdie
Studie noch vorsichtig als Möglich-
keit fürs Land insgesamt aufzeigt.
Ehemalige Gäste haben in derUm-
gebung Häuser gekauft und eigene
Projekte gegründet. Bürgermeister
in umliegendenGemeinden hätten
erkannt, welche Potenziale die
GründerundGästeausdenStädten
in den Fläming bringen.Siewollten
gezielt Digitalarbeiteranwerben.Ob
das gewachseneInteresse vonehe-
malss tadtaffinen, digital arbeiten-
denMenschen–dieStudienenntsie
„urbaneArbeitstouristen“–aberein
Zeichen für eine neue Landbewe-
gung ist, kann die Untersuchung
nichtbeantworten.Zufrischseidas
Phänomen, erst müsse sichzeigen,
obdiebestehendenProjekte bleiben
undmehrWirkungentfalten.

Prignitz
Ostprignitz-
Ruppin

Uckermark

Barnim

Havelland

Potsdam-
Mittelmark

Elbe-Elster

Märkisch-
Oderland

Oder-
Spree

Spree-Neiße

Frankfurt

Brandenburg

Ober-
havel

Potsdam

unter 50
50 bis unter 60
60 bis unter 79
70 bis unter 80
80 bis unter 90
90 bis unter 95
95 und mehr

Oberspreewald-
Lausitz

Cottbus

Teltow-
Fläming
Dahme-
Spreewald

Prignitz
Ostprignitz-
Ruppin

Uckermark

Barnim

Havelland

Potsdam-
Mittelmark

Elbe-Elster

Märkisch-
Oderland

Oder-
Spree

Spree-Neiße

Frankfurt

Brandenburg

Ober-
havel

Potsdam

unter 4
4bis 8
8bis unter 12
12 bis 14
14 bis 16
unter 16 und mehr

Oberspreewald-
Lausitz

Cottbus

Teltow-
Fläming Dahme-
Spreewald

Internetgeschwindigkeit
Anteil der Haushalte mit einem Internetanschluss mit einer Datenübertragungsrate
von mindestens 50 Megabit pro Sekunde 2018, in Prozent

Wohnungsleerstand
Geschätzer Anteil leer stehender Wohnungen an allen Wohnungen
und Häusern, 2017, in Prozent

BLZ/TIEDGE; QUELLE: BERLIN-INSTITUT FÜR BEVÖLKERUNG UND ENTWICKLUNG UND NEULAND21 E.V.

BERLINER ZEITUNG/MARKUS WÄCHTER (8)

Job-Hopper
:Torsten
Harmsen über die
neue Berufs
welt
Seite 10

MitdemLaptopaufdasFeld


VonJulia Haak


MenschenausderStadtverlegenArbeits-undWohnortaufsLand.DieDigitalisierungmachtesmöglich.


EinBesuchbeidenCo-WorkernvonCoconatimFläming

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